Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung einer Einspruchsentscheidung, wenn kein Einspruch eingelegt worden ist
Leitsatz (NV)
1. Die Klage auf Aufhebung einer Einspruchsentscheidung, die ohne Einlegung eines Einspruchs ergangen ist, ist unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzinteresses schon allein deshalb zulässig, weil die abstrakte Möglichkeit besteht, daß der Kläger in Angriffsrechten gegen die Wirksamkeit des Ausgangsbescheids beschränkt sein könnte.
2. Ist der Steuerbescheid in je einer Ausfertigung an den Kläger unter seinem Namen und an seinen Ehepartner unter dessen Namen bekanntgegeben worden, so ist der unter dem Namen des Ehepartners eingelegte Einspruch auch dann nur für diesen und nicht auch für den Kläger eingelegt worden, wenn dem Namen des Ehepartners die undifferenzierte Bezeichnung "Frau/Herr" vorangestellt ist.
Normenkette
AO 1977 §§ 125, 357 Abs. 1
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wurde zusammen mit ihrem Ehemann zur Einkommensteuer für das Streitjahr (1987) veranlagt. Der Bescheid wurde in je einer Ausfertigung der Klägerin unter ihrem Namen und dem Ehemann der Klägerin unter seinem Namen z. Hd. des Prozeßbevollmächtigten bekanntgegeben.
Der Prozeßbevollmächtigte legte gegen den Bescheid Einspruch ein. Er verwendete dazu ein formularmäßiges Einspruchsschreiben, in dem einleitend vorgedruckt ist, daß der Einspruch "für Frau/Herrn" ... eingelegt werde. Von den Worten "Frau/Herrn" war keines gestrichen. Es folgte dann handschriftlich eingetragen der Name des Ehemannes der Klägerin. In dem Einspruchsverfahren richtete der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin noch zwei weitere Schreiben an den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt -- FA --), in denen nach dem Betreff "Frau und/oder Herr" jeweils nur der Name des Ehemanns der Klägerin genannt war. Die Einspruchsentscheidung erging sowohl gegen den Ehemann als auch gegen die Klägerin.
Die Klägerin und ihr Ehemann erhoben daraufhin durch ihren Prozeßbevollmächtigten Klage. Mit dieser Klage begehrte die Klägerin die ersatzlose Aufhebung der Einspruchsentscheidung, weil sie keinen Einspruch eingelegt habe. Der Ehemann machte geltend, daß verschiedene bei der Steuerfestsetzung berücksichtigte Freibeträge aus verfassungsrechtlichen Gründen zu niedrig seien und daß der Steuerbescheid Adressierungsmängel aufweise.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Die Klage des Ehemanns der Klägerin sah das FG als unbegründet an. Die Klage der Klägerin hielt es wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses für unzulässig. Für die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung allein deswegen, weil im Einspruchsbetreff hinter den Anredemöglichkeiten "Frau/Herr" nur der Name des Klägers aufgeführt sei, fehle es an der Darlegung der Offenkundigkeit (wenigstens des Rechtsscheins) einer erstmaligen Beschwer. Denn es sei nicht erkennbar, wie sich die Klägerin durch die (verwaltungsgebührenfreie) Bestätigung eines aus eigener Sicht von ihr gar nicht mehr anfechtbaren Steuerbescheids belastet fühlen könnte. Mit dieser Problematik habe sich der Bundesfinanzhof (BFH) im Urteil vom 27. November 1984 VIII R 73/82 (BFHE 143, 32, BStBl II 1985, 296) nicht auseinandergesetzt.
Hiergegen richtet sich die vom FG zugelassene Revision der Klägerin. Die Klägerin rügt die Verletzung des § 357 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Aus dem Einspruchsschreiben sei eindeutig ersichtlich, daß der Einspruch nur für ihren -- der Klägerin -- Ehemann eingelegt worden sei. Die gegen sie ergangene Einspruchsentscheidung sei daher aufzuheben. Entgegen der Auffassung des FG komme es bei dem Antrag auf diese Aufhebung nicht darauf an, daß eine Beschwer oder ein Rechtsschutzbedürfnis vorliege. Die Aufhebung sei allein schon aus Gründen der Rechtssicherheit geboten (Hinweis auf BFH-Urteil in BFHE 143, 32, BStBl II 1985, 296).
Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG und die Einspruchsentscheidung aufzuheben, soweit sie sich gegen sie -- die Klägerin -- richten.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Es ist der Auffassung, daß der Prozeßbevollmächtigte auch für die Klägerin Einspruch eingelegt habe, weil er vor dem Namen des Ehemanns in dem Betreff "Frau/Herr" das Wort "Frau" nicht gestrichen habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Aufhebung der angegriffenen Einspruchsentscheidung, soweit diese Entscheidungen gegen die Klägerin ergangen sind.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist auf Klage eine Rechtsbehelfsentscheidung aufzuheben, wenn der Kläger keinen Rechtsbehelf eingelegt hat (BFH-Urteil in BFHE 143, 32, BStBl II 1985, 296; ferner BFH-Urteile vom 24. September 1985 IX R 22/85, BFH/NV 1986, 733; vom 1. August 1989 IX R 17/86, BFH/NV 1990, 94; vom 3. August 1993 VIII R 82/91, BFHE 174, 24, BStBl II 1994, 561, sowie für das Beschwerdeverfahren BFH-Urteil vom 27. Juni 1989 VIII R 357/83, BFH/NV 1990, 175). Dieser Rechtsprechung schließt sich der erkennende Senat an.
Entgegen der Auffassung des FG bedarf es in solchen Fällen für die Aufhebung der Rechtsbehelfsentscheidung nicht einer formellen Beschwer des jeweiligen Klägers. In Fällen, in denen ein tatsächlich nicht eingelegter Einspruch durch eine Einspruchsentscheidung zurückgewiesen worden ist, genügt für die Klagebefugnis vielmehr ausnahmsweise eine materielle Beschwer (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., Vor § 115 Anm. 13).
Im übrigen ist zu berücksichtigen, daß auch eine Einspruchsentscheidung, deren Tenor sich in der Zurückweisung des Einspruchs als unbegründet erschöpft, gegenüber dem Ausgangsbescheid eine eigenständige Bedeutung haben kann. So wird z. B. durch die ordnungsgemäße Bekanntgabe einer solchen Einspruchsentscheidung ein wegen Bekanntgabemängeln unwirksamer Verwaltungsakt inhaltlich bestätigt, so daß eine Heilung der Bekanntgabemängel eintritt (vgl. u. a. BFH-Urteile vom 14. November 1990 II R 255/85, BFHE 162, 380, BStBl II 1991, 49; vom 5. Dezember 1990 II R 109/86, BFHE 163, 223, BStBl II 1991, 181; BFH-Beschluß vom 12. November 1992 XI B 69/92, BFHE 170, 106, BStBl II 1993, 263; BFH-Urteil vom 10. Dezember 1992 IV R 136/91, BFH/NV 1993, 577). Schon diese mögliche eigenständige Bedeutung der Einspruchsentscheidung rechtfertigt es, ein Rechtsschutzinteresse an deren Aufhebung zu bejahen, wenn kein Einspruch eingelegt worden ist. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob im konkreten Fall eine solche eigenständige Bedeutung geltend gemacht wird oder gegeben ist. Andernfalls wäre der Kläger gezwungen, die Unwirksamkeit des Ausgangsbescheids innerhalb der Klagefrist gegen die Einspruchsentscheidung geltend zu machen, obwohl es dafür keine Frist gibt (vgl. Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 125 Anm. 6). Das Verlangen auf Aufhebung der Einspruchsentscheidung, die ohne Einlegung eines Einspruchs ergangen ist, ist daher unter dem Gesichtspunkt des Rechtsschutzinteresses schon allein deshalb berechtigt, weil die abstrakte Möglichkeit besteht, daß die Klägerin in Angriffsrechten gegen die Wirksamkeit des Ausgangsbescheids beschränkt sein könnte.
2. Entgegen der Auffassung des FA macht die Klägerin zu Recht geltend, daß sie keinen Einspruch eingelegt habe. Denn gegen den an sie und an ihren Ehemann gerichteten zusammengefaßten Steuerbescheid hat nur ihr Ehemann Einspruch eingelegt.
Der Streitfall liegt grundlegend anders als mehrere dem Senat vorliegende Fälle anderer Steuerpflichtiger, die ebenfalls durch den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin vertreten werden. In diesen anderen Fällen war der Steuerbescheid an die Eheleute unter der Anschrift Herrn und Frau mit dem Namen nur des Ehemannes gerichtet worden. Der gemeinsame Prozeßbevollmächtigte der Kläger hat dann den Einspruch unter dem Betreff "Frau/Herrn" und ebenfalls nur unter dem Namen des Ehemanns eingelegt. Bei einer solchen Sachverhaltsgestaltung ergibt die Auslegung nach dem Urteil des Senats vom 7. September 1995 III R 111/89 (BFH/NV 1996, 521), daß der Einspruch für beide Eheleute eingelegt worden ist. Der Streitfall läßt eine solche Auslegung nicht zu. Im Streitfall ist der Steuerbescheid in je einer Ausfertigung an die Klägerin unter ihrem Namen und an den Ehemann unter seinem Namen bekanntgegeben worden. Der daraufhin nur unter dem Namen des Ehemanns eingelegte Einspruch bezieht sich eindeutig nur auf den Steuerbescheid, soweit er gegen den Ehemann ergangen ist. Die Tatsache, daß dem Namen des Ehemanns die undifferenzierte Bezeichnung "Frau/Herrn" vorangestellt ist, ändert daran nichts. Diese Auslegung wird dadurch erhärtet, daß auch in den weiteren Schriftsätzen des Prozeßbevollmächtigten im Betreff nur der Name des Ehemanns verwendet worden ist. Gegen die Klägerin durfte daher keine Einspruchsentscheidung ergehen.
Fundstellen
Haufe-Index 421196 |
BFH/NV 1996, 729 |
BFH/NV 1996, 730 |