Entscheidungsstichwort (Thema)
Fehlen der Entscheidungsgründe
Leitsatz (NV)
1. Mit der Rüge, die Rechtsauffassung des FG entspreche nicht den zugrundeliegenden Tatsachen, wird kein Verfahrensfehler i. S. von § 116 Abs. 1 FGO geltend gemacht.
2. Die Rüge des teilweisen Fehlens von Urteilsgründen i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO erfordert die konkrete Darlegung, welchen selbständigen Anspruch bzw. welches selbständige Verteidigungsmittel das FG übergangen hat.
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 5
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die für die Streitjahre 1983 und 1984 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Sie haben mehrere im Streitzeitraum noch nicht 16-jährige Kinder. In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre machten sie Verluste aus einer ... -Zucht des Klägers geltend.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) führte die Veranlagungen, in denen es die erklärten Verluste anerkannte, hinsichtlich der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft vorläufig durch. Die Bescheide wurden bestandskräftig. In endgültig ergangenen Änderungsbescheiden berücksichtigte das FA die Verluste nicht, weil kein Totalgewinn aus der ... -Zucht zu erwarten sei.
Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg. Im Klageverfahren, in dem die Kläger ferner die Berücksichtigung der durch das Steueränderungsgesetz (StÄndG) 1991 vom 24. Juni 1991 (BGBl I 1991, 1322, BStBl I 1991, 665) erhöhten Kinderfreibeträge begehrten (§ 54 des Einkommensteuergesetzes -- EStG -- i. d. F. des StÄndG 1991), gab das FA in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll, es erkläre
"im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden oder andere gerichtliche Verfahren die angefochtenen Einkommensteuerbescheide ... 1982--1984, soweit die Änderungen reichen, ... gemäß § 165 AO in den Punkten für vorläufig, die sich aus der Anlage zum BMF-Schreiben vom 16. Dezember 1992 (BStBl I 1993, 3) ergeben und im vorliegenden Verfahren von Bedeutung sind".
Die Kläger erklärten, sie machten die Änderungsbescheide zum Gegenstand des Verfahrens.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab, ohne die Revision zuzulassen. Es führte aus, die Änderung der Bescheide sei zu Recht erfolgt, da der Kläger hinsichtlich der ... -Zucht keine Gewinnerzielungsabsicht gehabt habe. Die gemäß § 54 EStG i. d. F. des StÄndG 1991 erhöhten Kinderfreibeträge stünden den Klägern nicht zu, da die Einkommensteuerbescheide insoweit bestandskräftig geworden seien. Aufgrund der Vorläufigkeit hinsichtlich der Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft hätten die Bescheide nur aus mit diesen Einkünften zusammenhängenden Gründen geändert werden können. Auch eine Saldierung sei nicht möglich. Denn § 165 der Abgabenordnung (AO 1977) durchbreche als Ausnahmevorschrift die Bestandskraft von Steuerbescheiden.
Die Berücksichtigung von der Vorläufigkeit nicht umfaßter Besteuerungsgrundlagen durchbräche die Bestandskraft über den Regelungsbereich des § 165 AO 1977 hinaus.
Mit ihrer Revision tragen die Kläger vor: Die Begründung des FG, der Vorläufigkeitsvermerk umfasse nur die in der Vorläufigkeitsanordnung ausdrücklich erwähnten Besteuerungsgrundlagen, werde den zugrundeliegenden Tatsachen nicht gerecht. Dies sei als wesentlicher Verfahrensmangel anzusehen. Das FG habe möglicherweise übersehen, daß die auf die Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft beschränkte Vorläufigkeitsanordnung durch die Erklärung des FA in der mündlichen Verhandlung eine Erweiterung erfahren habe, die Rechtsverbindlichkeit habe entfalten können. Die erhöhten Kinderfreibeträge stünden daher für eine Verrechnung zur Verfügung.
Die Kläger haben ferner Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision eingelegt, die vom Senat mit Beschluß vom heutigen Tage verworfen wurde.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die erhöhten Kinderfreibeträge zu berücksichtigen.
Das FA beantragt, die Revision zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unzulässig.
Nach Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs findet abweichend von § 115 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Revision nur statt, wenn das FG oder auf die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof (BFH) sie zugelassen hat. Ohne Zulassung durch das FG oder den BFH ist die Revision nur zulässig, wenn wesentliche Mängel des Verfahrens i. S. von § 116 Abs. 1 FGO gerügt werden.
Mit ihrem Hinweis, die Rechtsauffassung des FG entspreche nicht den zugrundeliegenden Tatsachen, machen die Kläger keinen Verfahrensfehler i. S. von § 116 Abs. 1 FGO geltend, sondern weisen auf einen materiell-rechtlichen Fehler des FG hin (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Anm. 27, m. w. N.), der eine zulassungsfreie Revision nicht rechtfertigt.
Auch der Vortrag der Kläger, das FG habe möglicherweise die vom FA in der mündlichen Verhandlung abgegebene Vorläufigkeitserklärung übersehen, erfüllt nicht die Voraussetzungen einer zulässigen Rüge i. S. von § 116 Abs. 1 FGO. Soweit die Kläger damit rügen wollen, das FG-Urteil sei -- teilweise -- nicht mit Gründen versehen i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO, weil das FG keine Ausführungen zu dem vom FA zu Protokoll erklärten Vorläufigkeitsvermerk gemacht habe, ist ihre Rüge nicht schlüssig.
Entscheidungsgründe fehlen i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nach der Rechtsprechung des BFH nicht nur, wenn die Entscheidung überhaupt nicht mit Gründen versehen ist, sondern bereits dann, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (Beschluß des Senats vom 19. März 1993 III R 144/90, BFH/NV 1993, 617). Unter selbständigen Ansprüchen und selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln sind in diesem Zusammenhang eigenständige Klagegründe und solche Angriffs- oder Verteidigungsmittel zu verstehen, die den vollständigen Tatbestand einer mit selbständiger Wirkung ausgestatteten Rechtsnorm bilden (BFH-Beschluß vom 28. April 1993 II R 123/91, BFH/NV 1994, 46). Der Anspruch oder das selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel müssen grundsätzlich in dem Verfahren vor dem FG geltend gemacht worden sein; es muß sich um einen wesentlichen Streitpunkt des Verfahrens handeln (Beschluß des Senats in BFH/NV 1993, 617).
Hiervon ausgehend erfordert eine schlüssige Rüge des teilweisen Fehlens von Urteilsgründen i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO die konkrete Darlegung, welchen selbständigen Anspruch bzw. welches selbständige Angriffs- oder Verteidigungsmittel das FG übergangen hat. Dazu gehört einmal die genaue Bezeichnung des Anspruchs (des Angriffs- oder Verteidigungsmittels) unter Angabe der tatbestandlichen Voraussetzungen und zum anderen die Darstellung, daß der Anspruch (das Angriffs- oder Verteidigungsmittel) im Verfahren vor dem FG geltend gemacht worden ist und daß es sich um einen entscheidungserheblichen Gesichtspunkt handelt (s. a. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 116 FGO Tz. 23).
Die von den Klägern gegebene Revisionsbegründung genügt diesen Anforderungen nicht. Dabei kann offenbleiben, ob es sich bei der Berufung der Kläger auf den Vorläufigkeitsvermerk überhaupt um ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel handelt. Die Kläger haben jedenfalls nicht substantiiert begründet, warum der protokollierte Vorläufigkeitsvermerk ein entscheidungserheblicher Gesichtspunkt sein soll. Sie haben insbesondere nicht dargelegt, aus welchen Gründen die protokollierte Erklärung des FA dahingehend zu verstehen sei, daß sie sich -- auch -- auf die Kinderfreibeträge für die Streitjahre bezog. Dazu hätte aber Veranlassung bestanden, weil nach den Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 16. Dezember 1992 (BStBl I 1993, 3) und vom 10. Juli 1992 (mit Anlage), auf das in dem zuerst genannten Schreiben verwiesen wird, vorläufige Steuerfestsetzungen nur im Hinblick auf anhängige Musterverfahren in Betracht kamen bzw. kommen. Hinsichtlich der Kinderfreibeträge für die Streitjahre war kein Musterverfahren beim Bundesverfassungsgericht -- BVerfG -- (mehr) anhängig. Der maßgebliche Beschluß des BVerfG vom 12. Juni 1990 1 BvL 72/86 (BStBl II 1990, 664) über die Verfassungswidrigkeit der Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 8 EStG für die Jahre 1983 bis 1985 lag zum Zeitpunkt der vom FA zu Protokoll gegebenen Erklärung bereits seit längerer Zeit vor. Dementsprechend sieht das BMF-Schreiben in BStBl I 1992, 402, unter Nr. 6 der Anlage lediglich Vorläufigkeitserklärungen hinsichtlich der Höhe der Kinderfreibeträge gemäß § 32 Abs. 6 EStG, d. h. für die Veranlagungszeiträume ab 1986, vor. Für die Jahre davor und damit für den Streitzeitraum waren die Kinderfreibeträge in § 32 Abs. 8 EStG geregelt. Der protokollierte Vorläufigkeitsvermerk betraf offenbar andere Punkte als die Kinderfreibeträge; denn das BMF-Schreiben in BStBl I 1992, 402 enthält weitere Punkte, hinsichtlich derer Vorläufigkeitserklärungen vorzunehmen waren bzw. vorzunehmen sind. Darüber hinaus haben die Kläger auch nicht belegt, daß sie den von ihnen als entscheidend angesehenen Gesichtspunkt im Verfahren vor dem FG geltend gemacht haben.
Fundstellen
Haufe-Index 421317 |
BFH/NV 1996, 817 |