Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör und Hinweispflicht; Sachaufklärung; Vertragsauslegung
Leitsatz (NV)
1. Bei umstrittener Rechtslage muss ein Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten.
2. Die Sachaufklärungspflicht ist verletzt, wenn das FG Tatsachen oder Beweismittel außer Acht lässt, deren Berücksichtigung sich ihm hätten aufdrängen müssen.
3. Die Auslegung vertraglicher Regelungen, die zu den vom FG als Tatsacheninstanz zu treffenden Feststellungen gehört, hat auch bei klarem und eindeutigem Wortlaut unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens und der Interessenlage der Parteien einschließlich der Begleitumstände zu erfolgen.
Normenkette
BGB §§ 133, 157; GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 76 Abs. 1 Sätze 1, 5, § 96 Abs. 2, § 116 Abs. 6; ZPO § 160 Abs. 4, § 165
Verfahrensgang
FG Münster (Urteil vom 12.11.2008; Aktenzeichen 12 K 762/04 E) |
Gründe
Die Beschwerde ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Der von den Klägern und Beschwerdeführern (Kläger) geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung der Sachaufklärungspflicht liegt vor; auf ihm kann die angefochtene Entscheidung beruhen.
1. Zwar sind die von den Klägern gerügten Verfahrensmängel einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in Gestalt einer sog. Überraschungsentscheidung (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) sowie eines Verstoßes gegen die gerichtliche Hinweispflicht (§ 76 Abs. 2 FGO) nicht gegeben. Bei umstrittener Rechtslage --wie im Streitfall-- muss ein Beteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten. Nach dem Sitzungsprotokoll (zu dessen Beweiskraft: § 94 FGO i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung --ZPO--; vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7. September 2006 IX B 199/05, BFH/NV 2007, 75) "erhielten die Beteiligten das Wort", hatten also Gelegenheit, sich tatsächlich und rechtlich zur Streitsache zu äußern. Zudem hätte den Prozessbevollmächtigten der Kläger die einschlägige BFH-Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer (steuerrechtlich anzuerkennenden) Treuhandvereinbarung (z.B. BFH-Urteile vom 15. Juli 1997 VIII R 56/93, BFHE 183, 518, BStBl II 1998, 152; vom 20. Januar 1999 I R 69/97, BFHE 188, 254, BStBl II 1999, 514; vom 4. Dezember 2007 VIII R 14/05, BFH/NV 2008, 745) bekannt sein müssen.
2. Das FG hat aber die ihm obliegende Pflicht zur Sachaufklärung dadurch verletzt, dass es nicht von sich aus den --zudem-- angebotenen Zeugenbeweis erhoben hat.
Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das FG den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Dabei hat es unabhängig von Beweisanträgen der Beteiligten (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO) im Zweifel auch von sich aus Beweise zu erheben. Die Sachaufklärungspflicht ist jedenfalls verletzt, wenn das FG Tatsachen oder Beweismittel außer Acht lässt, deren Berücksichtigung sich ihm hätten aufdrängen müssen (BFH-Beschluss vom 23. Oktober 2006 III B 5/06, BFH/NV 2007, 458, m.w.N.). So verhält es sich auch im Streitfall; insoweit ist unerheblich, dass der in der mündlichen Verhandlung möglicherweise wiederholte Beweisantrag und dessen Ablehnung durch das FG nicht gemäß § 94 FGO i.V.m. § 160 Abs. 4 ZPO protokolliert wurde.
Zwar obliegt die Vertragsauslegung dem FG als Tatsacheninstanz; wenn sie den gesetzlichen Auslegungsregeln (§§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches) entspricht und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt, d.h. jedenfalls möglich ist, bindet sie den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 3. August 2005 I R 94/03, BFHE 210, 398, BStBl II 2006, 20, unter II. 4., m.w.N.). Die Auslegung vertraglicher Regelungen hat jedoch unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens und der Interessenlage der Parteien einschließlich der Begleitumstände zu erfolgen (vgl. BFH-Beschluss vom 26. Juni 2002 IX B 119/01, BFH/NV 2002, 1469; BFH-Urteile vom 18. Oktober 2006 XI R 42/04, BFH/NV 2007, 1283; vom 1. April 2009 IX R 5/08, BFH/NV 2009, 1081); auch bei klarem und eindeutigem Wortlaut (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 12. September 2006 9 AZR 686/05, Neue Juristiche Wochenschrift 2007, 1613, 1614, Rz 22) sind die für die Vertragsauslegung bedeutsamen Begleitumstände zu erforschen (BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 1283). Dies ist im Streitfall insoweit nicht geschehen, als das FG der Ansicht war, bei der "Frage, ob eine Treuhandabsprache bestanden hat", handele "es sich um eine rechtliche Beurteilung", die "einer Beweisaufnahme nicht zugänglich" sei; gleichwohl will das FG bei seiner Würdigung --ohne Vernehmung des als Vertragspartner beteiligten Zeugen zu den Begleitumständen und der Interessenlage-- auf die Gesamtheit der Umstände abgestellt haben.
3. Aufgrund des darin liegenden Verfahrensmangels wird das FG-Urteil ohne sachliche Nachprüfung aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO). Das FG wird die unterlassene Vernehmung des benannten Zeugen nachzuholen oder aber hinreichend zu erklären haben, warum es der Beweiserhebung nicht bedarf, z.B. weil das Beweismittel für die Entscheidung unerheblich ist oder die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Beschluss vom 1. Februar 2007 VI B 124/06, BFH/NV 2007, 956; BFH-Urteil vom 3. Juni 2003 IX R 46/00, BFH/NV 2004, 46). Sollte das FG den (bisher nur) schriftsätzlich gestellten Beweisantrag ("zum Nachweis der Treuhandabsprache") für nicht hinreichend spezifiziert ansehen, wäre auf eine entsprechende Konkretisierung hinzuwirken.
Fundstellen