Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung; Bekanntgabezeitpunkt bei unterlassener Rückgabe des Empfangsbekenntnisses
Leitsatz (NV)
- Das FG verletzt den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör, wenn das Urteil auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt ist, mit dem auch ein Kundiger nach dem bisherigen Verfahren nicht zu rechnen braucht.
- Wird dem Prozessbevollmächtigten die Einspruchsentscheidung gegen Empfangsbekenntnis zugestellt, ist die Rückgabe des Empfangsbekenntnisses keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung. Das ausgefüllte Empfangsbekenntnis dient lediglich dem Nachweis des Zeitpunkts, zu dem der Prozessbevollmächtigte von dem Zugang der Einspruchsentscheidung Kenntnis erlangt hat; auf den Zeitpunkt des Eingangs im Büro des Prozessbevollmächtigten kommt es nicht an.
- Leitet der Prozessbevollmächtigte das Empfangsbekenntnis nicht zurück, ist Zustellungstag der Tag, an dem er die Einspruchsentscheidung in Kenntnis der Zustellungsabsicht des FA entgegengenommen hat. Macht der Prozessbevollmächtigte keine Angaben zum Zustellungsdatum, ist nach der Rechtsprechung derjenige Tag als Zustellungstag anzusehen, an dem das Schriftstück "nach dem normalen Verlauf der Dinge in die Hände des Bevollmächtigten gelangt ist".
- Aufgrund der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung braucht der Prozessbevollmächtigte bei unterlassener Rückgabe des Empfangsbekenntnisses nicht damit zu rechnen, dass das FG für die Berechnung der Klagefrist als Zustellungstag der Einspruchsentscheidung den Tag nach Aufgabe zur Post zugrundelegt. Ohne Hinweis des FG darf er davon ausgehen, dass kein früherer Zugang vermutet wird, als bei einer Bekanntgabe durch Übersendung mit der Post, bei welcher der Verwaltungsakt am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gilt (§ 122 Abs. 2 AO 1977).
Normenkette
AO 1977 § 122 Abs. 2, 5; GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2, § 116 Abs. 6; VwZG § 5 Abs. 2
Tatbestand
I. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ―FA―) übersandte die Entscheidung über den Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid für 1996 dem Prozessbevollmächtigten der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) ―einem Wirtschaftsprüfer― gegen Empfangsbekenntnis (Aufgabe zur Post am 13. Januar 2000). Der Prozessbevollmächtigte schickte das Empfangsbekenntnis nicht zurück. Am 16. Februar 2000 erhob er per Telefax im Namen der Kläger Klage gegen den Einkommensteuerbescheid für 1996 und die dazu ergangene Einspruchsentscheidung.
Nach Zustellung der Klage übersandte das FA dem Finanzgericht (FG) die Einkommensteuerakten und wies darauf hin, dass der Prozessbevollmächtigte bisher das Empfangsbekenntnis über den Erhalt der Einspruchsentscheidung noch nicht zurückgesandt habe.
Das FG lud den Prozessbevollmächtigten zur mündlichen Verhandlung am 29. August 2000. Mit einem weiteren Schreiben bat es ihn, das Empfangsbekenntnis über die Zustellung der Einspruchsentscheidung bis spätestens 28. August 2000 vorzulegen.
Nach der mündlichen Verhandlung, zu der niemand für die Kläger erschienen war, wies das FG die Klage als unzulässig ab. Es führte aus:
Sende der Prozessbevollmächtigte das Empfangsbekenntnis nicht zurück, stehe aber fest, dass er die Einspruchsentscheidung erhalten habe, sei als Zustellungstag der Tag anzunehmen, an dem er das Schriftstück bei normalem Verlauf erstmals erhalten haben könne (Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 14. August 1986 VIII R 107/84, BFH/NV 1987, 103; vom 7. März 1996 XI B 17/96, BFH/NV 1996, 755). Bei Absendung am 13. Januar 2000 sei bei normalem Postlauf der 14. Januar 2000 Zustellungstag gewesen, da normale Postsendungen innerhalb Deutschlands regelmäßig am Tag nach der Einlieferung zugestellt würden. Die Klagefrist habe daher am 15. Januar 2000 zu laufen begonnen und am 14. Februar 2000 geendet. Die am 16. Februar 2000 eingegangene Klage sei somit verspätet.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Prozessbevollmächtigte Verletzung rechtlichen Gehörs. Er führt im Wesentlichen aus, nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gelte ein durch die Post übermittelter Verwaltungsakt am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Der Gesetzgeber habe als normalen Postlauf drei Tage angenommen. Es sei daher eine "Überraschungsentscheidung", wenn das FG diese Frist, ohne die Kläger vorher dazu zu hören, objektiv willkürlich auf einen Tag begrenze.
Der Prozessbevollmächtigte beantragt, die Revision wegen eines Verfahrensmangels zuzulassen.
Das FA beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ist begründet. Das finanzgerichtliche Urteil wird aufgehoben und der Rechtsstreit an das FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ―FGO― i.d.F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze ―2.FGOÄndG― vom 19. Dezember 2000).
1. Das finanzgerichtliche Urteil verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ―GG― i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO), der unter anderem darauf gerichtet ist, die Beteiligten vor Überraschungsentscheidungen zu schützen. Hierdurch soll verhindert werden, dass ein Beteiligter mit dem Urteil von einem rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt "überfahren" wird, der dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit dem auch ein Kundiger nach dem bisherigen Verlauf nicht zu rechnen brauchte (BFH-Urteil vom 29. November 2000 X R 10/00, BFH/NV 2001, 627, m.w.N.). Das Prozessurteil im Streitfall war eine solche Überraschungsentscheidung.
a) Auch wenn der Prozessbevollmächtigte aus der Anforderung des Empfangsbekenntnisses hätte schließen können, dass das FG an dem fristgerechten Eingang der Klage zweifelte, so brauchte er aufgrund der bisherigen Rechtsprechung des BFH nicht davon auszugehen, dass das FG als Zugang der Einspruchsentscheidung den 14. Januar 2000 zugrunde legen und die Klage als verspätet abweisen würde.
b) Nach § 122 Abs. 5 AO 1977 i.V.m. § 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) kann die Einspruchsentscheidung einem Wirtschaftsprüfer auch auf andere Weise als durch Aushändigung übermittelt werden; als Nachweis der Zustellung genügt dann das mit Datum und Unterschrift versehene Empfangsbekenntnis, das an das FA zurückzusenden ist. Die Angabe des Datums auf dem Empfangsbekenntnis oder die Rückgabe des Empfangsbekenntnisses ist aber keine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Bekanntgabe (BFH-Beschluss vom 27. Dezember 1996 XI B 11/96, BFH/NV 1997, 506, unter 3., m.w.N.). Das ausgefüllte Empfangsbekenntnis dient lediglich dem Nachweis des Zeitpunkts, zu dem der Empfänger (im Streitfall der Prozessbevollmächtigte) von dem Zugang der Einspruchsentscheidung Kenntnis erlangt hat; auf den Zeitpunkt des Eingangs im Büro des Prozessbevollmächtigten kommt es nicht an (BFH-Urteil vom 31. Oktober 2000 VIII R 14/00, BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156, unter I. b, m.w.N.).
c) Gibt der Prozessbevollmächtigte auf dem Empfangsbekenntnis das Empfangsdatum nicht an oder leitet er das Empfangsbekenntnis nicht zurück, ist Zustellungstag der Tag, an dem er die Einspruchsentscheidung in Kenntnis der Zustellungsabsicht des FA entgegengenommen hat. Für die Fristberechnung ist nach der Rechtsprechung der vom Empfänger angegebene Zustellungstag zugrunde zu legen, sofern dieser Tag nach den sonstigen Anhaltspunkten der wahrscheinliche Zeitpunkt der Zustellung war (BFH-Entscheidungen vom 20. August 1982 VIII R 58/82, BFHE 136, 348, BStBl II 1983, 63; in BFH/NV 1987, 103, und in BFH/NV 1996, 755). Macht der Prozessbevollmächtigte ―wie im Streitfall― keine Angaben zum Zustellungsdatum, ist nach dem BFH-Urteil vom 6. März 1990 II R 131/87 (BFHE 159, 425, BStBl II 1990, 477) derjenige Tag als Zustellungstag anzusehen, an dem die Einspruchsentscheidung "nach dem normalen Verlauf der Dinge in die Hände des Bevollmächtigten gelangt ist". In jenem Fall nahm der BFH an, dass der Prozessbevollmächtigte von dem am Dienstag, den 22. April zur Post gegebenen Schriftstück spätestens am Montag, den 28. April Kenntnis genommen hatte. Im Beschluss vom 28. Januar 1986 VII B 118/85 (BFH/NV 1986, 415) ging der BFH davon aus, der am 23. August abgesandte Beschluss sei dem Prozessbevollmächtigten nicht vor dem 29. August zugegangen. In der Entscheidung in BFH/NV 1997, 506 hat der BFH als Zustellungsdatum für das finanzgerichtliche Urteil spätestens den Zeitpunkt angenommen, zu dem der Beschwerdeschriftsatz gefertigt worden war.
d) Entgegen der Auffassung des FG hat der BFH nicht darauf abgestellt, wann das zuzustellende Schriftstück bei "normalem" Postlauf in der Kanzlei des Prozessbevollmächtigten eingegangen war. Er hat vielmehr versucht, anhand anderer Anhaltspunkte festzustellen, wann der Empfänger spätestens von dem Zugang des Schriftstücks Kenntnis erhalten hatte. Auch ein mit der Rechtsprechung vertrauter Wirtschaftsprüfer brauchte aufgrund dieser Rechtsprechung daher nicht damit zu rechnen, dass bei unterlassener Rückgabe des Empfangsbekenntnisses der Tag nach Aufgabe zur Post als Zustellungstag für die Fristberechnung zugrunde gelegt wird.
e) Wenn schon bei der Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 AO 1977, die nur den Zugang in den Machtbereich des Empfängers und somit die Möglichkeit der Kenntnisnahme voraussetzt, erst der dritte Tag nach Absendung als Zeitpunkt der Bekanntgabe gilt, liegt jedenfalls die Annahme nahe, dass bei einer Übersendung gegen Empfangsbekenntnis, bei der es maßgebend auf den Zeitpunkt der tatsächlichen Kenntnisnahme des Zugangs ankommt (BFH-Urteil in BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156), kein früherer Zugang vermutet wird als bei einer Bekanntgabe nach § 122 Abs. 2 AO 1977. Ohne vorherigen Hinweis des FG durfte der Prozessbevollmächtigte daher zumindest davon ausgehen, dass entsprechend § 122 Abs. 2 AO 1977 frühestens der 3. Tag nach Aufgabe zur Post als Zustellungstag angesehen werden würde.
2. Gemäß § 116 Abs. 6 FGO i.d.F. des 2.FGOÄndG kann der BFH auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverweisen, sofern die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vorliegen. Der Senat hält es aus verfahrensökonomischen Gründen für angezeigt, im Streitfall entsprechend dieser Vorschrift zu verfahren. Die Überleitungsvorschrift des Art. 4 2.FGOÄndG betrifft nur die Zulässigkeit eines Rechtsbehelfs gegen vor dem 1. Januar 2001 verkündete oder zugestellte Entscheidungen. Im Übrigen ist das 2.FGOÄndG und damit auch § 116 Abs. 6 FGO am 1. Januar 2001 in Kraft getreten.
Fundstellen
Haufe-Index 664369 |
BFH/NV 2002, 212 |