Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Irrtum über die einzulegenden Rechtsmittel sowie die insoweit bestehenden Anforderungen insbes. bei einem Vertreter der steuerberatenden Berufe nicht entschuldbar (hier: Irrtum über die Eigenständigkeit eines Zwischenurteils nach § 99 Abs. 1 FGO)
Normenkette
FGO § 99 Abs. 1, § 56 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) erließ in dem Rechtsstreit der Kläger und Revisionskläger (Kläger) gegen den Einkommensteuerbescheid des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) für den Veranlagungszeitraum 1997 ein Zwischenurteil, in dem die Revision zugelassen und die Kostenentscheidung dem Schlussurteil vorbehalten wurde. Das Urteil wurde den Prozessbevollmächtigten der Kläger am 5. März 2003 zugestellt. Die Rechtsmittelbelehrung des Urteils lautet auszugsweise wie folgt:
"Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Revision zu.
Die Revision ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils bei dem Bundesfinanzhof schriftlich einzulegen….."
Am 16. Mai 2003 haben die Kläger Revision eingelegt, ohne sie zu begründen. Sie beantragen wegen der versäumten Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit der Begründung, die Rechtsmittelbelehrung sei missverständlich, weil danach die Revision erst nach Zustellung des vollständigen Urteils einzulegen sei und ihr Prozessvertreter deshalb als vollständiges Urteil erst das Schlussurteil angesehen habe.
Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unzulässig.
1. Die Kläger haben die Revision nicht entsprechend § 120 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils ―am 5. März 2003― schriftlich eingelegt, sondern dies erst am 16. Mai 2003 nach Ablauf der Frist getan.
2. Als fristgerecht kann die Revision deshalb nur angesehen werden, wenn die Revisionsfrist entweder wegen Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Urteil nach § 55 Abs. 2 Satz 1 FGO ein Jahr beträgt oder den Klägern wegen Versäumnis der Revisionsfrist nach § 56 Abs. 1 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.
a) Indessen weist die Rechtsmittelbelehrung entgegen der Auffassung der Kläger keine Fehler auf. Insbesondere entspricht der von den Klägern allein gerügte Hinweis in der Belehrung, dass die Frist erst mit der Zustellung des "vollständigen" Urteils beginnt, dem Wortlaut des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO und der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 11. Oktober 1994 XI ZR 72/94, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 3358: Fristlaufbeginn erst mit Zustellung des vollständigen Urteils).
b) Schließlich fehlt es für das Begehren der Kläger auf Wiedereinsetzung an der Voraussetzung des § 56 Abs. 1 FGO, dass sie ohne Verschulden gehindert waren, die Revisionsfrist einzuhalten; denn die Fristversäumnis beruht auf dem Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten, das sie sich gemäß § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i.V.m. § 155 FGO zurechnen lassen müssen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 28. Juni 1989 I R 67/85, BFHE 157, 305, BStBl II 1989, 848, 850).
aa) Der Vortrag der Prozessbevollmächtigten, aufgrund des Vorbehalts der Kostenentscheidung für das noch zu erlassende Schlussurteil seien sie davon ausgegangen, dieses ―und nicht das ergangene Zwischenurteil― sei erst das vollständige Urteil im Sinne der Rechtsmittelbelehrung, beruht nämlich ersichtlich auf einem Rechtsirrtum über die Eigenständigkeit eines Zwischenurteils i.S. des § 99 Abs. 1 FGO und damit auf einem Irrtum über die einzulegenden Rechtsmittel sowie die insoweit bestehenden Anforderungen; ein solcher Rechtsirrtum ist insbesondere bei einem Vertreter der rechtsberatenden Berufe nicht entschuldbar (vgl. BFH-Beschluss vom 21. Februar 2001 X R 5/01, BFH/NV 2001, 936, m.w.N.).
Ein Verschulden i.S. des § 56 Abs. 1 FGO ist, jedenfalls wenn es sich um die Fristversäumnis eines Steuerberaters oder Rechtsanwalts handelt, nämlich nur dann zu verneinen, wenn die äußerste, den Umständen des Falles angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt angewendet worden ist (vgl. BFH-Beschluss vom 16. August 1993 VII B 163/93, BFH/NV 1994, 384, 385). Denn von Angehörigen der steuerberatenden Berufe muss erwartet werden, dass sie die Voraussetzungen und die Anforderungen für die jeweils einzulegenden Rechtsmittel kennen oder sich zumindest davon Kenntnis verschaffen (vgl. BFH-Beschluss vom 15. Mai 2002 X B 156/01, BFH/NV 2002, 1461, m.w.N.).
bb) Nach diesen Maßstäben liegt ein Verschulden der Prozessvertreter offenkundig vor, da keine Zweifel an der grundsätzlichen Zulässigkeit einer Revision gegen ein Zwischenurteil bestehen (vgl. BFH-Urteil vom 14. Mai 1980 I R 135/77, BFHE 131, 194, BStBl II 1980, 695) und sich insbesondere aufgrund der auf das Zwischenurteil bezogenen Rechtsmittelbelehrung ("Gegen dieses Urteil…") nicht ergeben konnten. Auch der Hinweis auf die erst im End- oder Schlussurteil zu treffende Kostenentscheidung kann den Rechtsirrtum nicht entschuldigen, da dieser Vorbehalt unmittelbar darauf beruht, dass die gemäß § 143 FGO zu treffende Kostenentscheidung nur Endentscheidungen betrifft; die Unkenntnis dieser auch in Rechtsprechung und Schrifttum dargestellten Rechtslage (vgl. BFH-Urteil vom 1. März 2001 IV R 90/99, BFH/NV 2001, 904; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 143 FGO Rz. 5; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 99 FGO Rz. 41) kann bei einem Angehörigen der rechtsberatenden Berufe nicht als unverschuldet i.S. des § 56 Abs. 1 FGO angesehen werden.
Fundstellen