Entscheidungsstichwort (Thema)
Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung bezüglich der Nichtigkeit wegen grober Schätzungsfehler
Leitsatz (NV)
1. Verneint das FG bezüglich eines Schätzungsbescheides einen besonders schwerwiegenden Fehler i.S. des § 125 Abs. 1 AO, verneint es incidenter einen groben Schätzungsfehler i.S. der Rechtsprechung zur Nichtigkeit von Schätzungsbescheiden.
2. Zwischen einem besonders schwerwiegenden Fehler i.S. des § 125 Abs. 1 AO und einem groben Schätzungsfehler i.S. jener Rechtsprechung besteht ein gradueller Unterschied. Während der besonders schwerwiegende Fehler lediglich offenkundig sein muss, führt der grobe Schätzungsfehler nur dann zur Nichtigkeit, wenn er bewusst und willkürlich begangen worden ist.
3. Soweit der Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO wegen einer willkürlich oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung des FG geltend gemacht wird, ist auf die Entscheidungsfindung des FG abzustellen. Demgegenüber hatte das FG bei der an § 125 Abs. 1 i.V.m. § 162 Abs. 1 AO ausgerichteten Prüfung, ob ein Schätzungsbescheid willkürlich zustande gekommen ist, auf das Handeln des FA abzustellen.
Normenkette
FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2; AO § 125 Abs. 1, § 162 Abs. 1
Verfahrensgang
FG Münster (Urteil vom 14.06.2006; Aktenzeichen 3 K 922/03 Ew, EW) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, ist Inhaberin eines Erbbaurechts. Auf dem belasteten Grundstück war ein 1981 bezugsfertiges gemischt genutztes Gebäude errichtet worden. Noch im Streit sind die Einheitswertbescheide auf den 1. Januar 1982, 1984 und 1992.
Da die Klägerin keine Feststellungserklärung auf den 1. Januar 1982 abgegeben hatte, stellte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) den Einheitswert des Erbbaurechts durch Schätzungsbescheid vom 11. April 1985 im Ertragswertverfahren auf 754 300 DM fest. Der Gebäudewertanteil belief sich auf 620 800 DM. Aus einer Anfrage des Ertragsteuerfinanzamts vom November 1984 hatten sich Gesamtbaukosten von 1 098 554 DM ergeben.
Mit Wertfortschreibungsbescheid vom 5. November 1986 auf den 1. Januar 1984 erhöhte das FA den Einheitswert wegen Wegfalls der Grundsteuervergünstigung auf 836 200 DM. Mit Einspruchsentscheidung vom 16. Dezember 1988 ermäßigte es den Einheitswert wieder auf 754 300 DM, weil der Wegfall der Grundsteuervergünstigung nur einen Teil der Wohnungen betroffen hatte und insoweit die Fortschreibungsgrenzen nicht überschritten waren. Das FA übersandte die Einspruchsentscheidung mit Postzustellungsurkunde zunächst an die Geschäftsadresse der Klägerin und sodann an die Privatadresse ihres Geschäftsführers.
Am 7. Oktober 1992 erließ das FA einen Wertfortschreibungsbescheid auf den 1. Januar 1992, den es auf einen Einspruch der Klägerin hin durch Bescheid vom 13. Januar 1993 änderte. Dabei stellte es den Einheitswert auf 768 900 DM (Gebäudewertanteil: 632 865 DM) fest.
In der Folgezeit hat das FA den Einheitswert des Erbbaurechts auf den 1. Januar 1999 auf 368 700 DM festgestellt. Die Beteiligten stimmen darin überein, dass dieser Einheitswert im Wesentlichen auch auf den 1. Januar 1982, 1984 und 1992 zutreffend gewesen wäre. Das FA hält die auf diese Stichtage ergangenen Bescheide jedoch für bestandskräftig und damit eine Änderung für ausgeschlossen. Einen Einheitswertbescheid auf den 1. Januar 1985, bezüglich dessen noch ein Einspruch vorlag, hat es dagegen entsprechend geändert.
Mit Schreiben vom 15. November 2001 beantragte die Klägerin, die Einheitswertbescheide ab 1993 aufzuheben. Mit weiterem Schreiben vom 3. April 2002 mahnte die Klägerin die Erledigung dieses Antrags an, sprach aber nunmehr von Fortschreibungsberichtigungen "bis 1993". Dieses Schreiben wurde nicht verbeschieden.
Im Februar 2003 erhob die Klägerin Klage und beantragte schließlich, die Einheitswertfeststellungen seit dem 1. Januar 1982 aufzuheben und auf diesen Stichtag einen Einheitswert von 368 700 DM festzustellen. Sie hielt die Einheitswertbescheide auf den 1. Januar 1982, 1984 und 1992 wegen grober Schätzungsfehler für nichtig. Das Finanzgericht (FG) sah in dem Schreiben vom 3. April 2002 einen Einspruch gegen eine formlose Ablehnung des Antrags vom 15. November 2001 und nahm eine zulässige Untätigkeitsklage an. Es hielt die Klage jedoch für unbegründet, da die drei betroffenen Feststellungsbescheide wirksam bekanntgegeben und im Übrigen bestandskräftig geworden seien. Sie seien zwar fehlerhaft, aber nicht nichtig. Der Fehler überhöhter Mietansätze je qm der Nutzfläche sei nicht offenkundig und daher nicht schwerwiegend.
Mit der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin geltend, eine Revisionsentscheidung sei zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung insofern erforderlich, als das FG von den Urteilen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 1. Oktober 1992 IV R 34/90 (BFHE 169, 503, BStBl II 1993, 259) sowie vom 20. Dezember 2000 I R 50/00 (BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381) abgewichen sei. In diesen Urteilen habe der BFH den Rechtssatz aufgestellt, dass ein zum Nachteil des Steuerpflichtigen bewusst und willkürlich grob fehlerhafter Schätzungsbescheid nichtig sei. Demgegenüber habe sich das FG im Streitfall damit begnügt, dass die im Schätzungswege festgestellten Einheitswerte die Herstellungskosten nicht überschritten. Darüber hinaus rügt die Klägerin mangelnde Sachaufklärung sowie die Verletzung von Bundesrecht. Das FG habe nicht aufgeklärt, wie es zu Einheitswerten gekommen sei, die zu 100 v.H. überhöht seien. Im Zusammenhang mit der Zustellung des Einheitswertbescheides auf den 1. Januar 1984 habe es zudem § 184 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) fehlerhaft angewendet.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) für eine Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung liegen nicht vor. Es fehlt sowohl an der von der Klägerin geltend gemachten Divergenz der Vorentscheidung von den zitierten BFH-Urteilen als auch an dem alternativen Erfordernis einer willkürlichen oder greifbar gesetzwidrigen Entscheidung des FG (vgl. dazu BFH-Beschluss vom 25. Juli 2003 III B 125/02, BFH/NV 2003, 1445).
a) In den genannten BFH-Urteilen wird der Rechtssatz aufgestellt, grobe Schätzungsfehler führten regelmäßig dann zur Nichtigkeit der Schätzungsbescheide, wenn die Finanzbehörde bewusst und willkürlich zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt habe. Grobe Schätzungsfehler für sich allein hätten dagegen lediglich die Rechtswidrigkeit der Bescheide zur Folge. Davon ist das FG weder ausdrücklich noch auch nur inhaltlich abgewichen. Vielmehr hat es bereits einen groben Schätzungsfehler incidenter verneint, indem es einen besonders schwerwiegenden Fehler i.S. des § 125 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) ausgeschlossen hat. Dies gilt auch eingedenk dessen, dass zwischen einem groben Schätzungsfehler im Sinne der genannten BFH-Urteile und einem besonders schwerwiegenden Fehler i.S. des § 125 Abs. 1 AO ein gradueller Unterschied besteht. Mangels eines groben Schätzungsfehlers gab es aber vom Rechtsstandpunkt des FG aus nicht einmal einen Anknüpfungspunkt für die Prüfung, ob eine bewusst oder willkürlich fehlerhafte Schätzung vorliegt.
b) Die Vorentscheidung ist auch nicht willkürlich oder greifbar gesetzwidrig i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 FGO. Dabei ist auf die Entscheidungsfindung des FG abzustellen, während bei der an § 125 Abs. 1 i.V.m. § 162 Abs. 1 AO ausgerichteten Prüfung, ob die Schätzungsbescheide willkürlich zustande gekommen sind, das Handeln des FA zu beurteilen ist. Das FG hat sich erkennbar an die zu § 125 Abs. 1 AO entwickelten Grundsätze halten wollen, wie daraus hervorgeht, dass es die abstrakten Umschreibungen für besonders schwerwiegende Fehler wiedergegeben hat. Dies schließt Willkür unabhängig davon aus, ob es diese Grundsätze zutreffend angewendet hat. Die Entscheidung ist auch nicht deshalb greifbar gesetzwidrig, weil das FG darauf abgestellt hat, dass die Einheitswerte jeweils noch unterhalb der ursprünglichen Herstellungskosten lägen. Soweit nach der Rechtsprechung ein besonders schwerwiegender Fehler nur dann offenkundig ist, wenn jeder Dritte bei Unterstellung der Kenntnis aller in Betracht kommenden Umstände in der Lage ist, den Fehler in seiner besonderen Schwere zu erkennen (so Urteil des BFH vom 22. Oktober 2002 VII R 56/00, BFHE 199, 511, BStBl II 2003, 109), gehört bei einem Schätzungsbescheid zu diesen Umständen nicht die Kenntnis der Tatsachen, über die die schätzende Behörde nicht verfügte und deren Nichtbekanntsein die Schätzung erforderlich gemacht hat. Daher stellt insbesondere die Höhe des Einheitswerts, die sich bei Abgabe einer (vollständigen und zutreffenden) Feststellungserklärung ergeben hätte, keinen derartigen Umstand dar. Vielmehr ist auf die Umstände abzustellen, die dem FA bei Erlass der Schätzungsbescheide bekannt waren oder bekannt sein mussten. Daher konnte sich das FG mit der Feststellung begnügen, die streitgegenständlichen Einheitswerte lägen noch unterhalb der Herstellungskosten des Gebäudes, ohne seinerseits eine greifbar gesetzwidrige Entscheidung zu treffen.
2. Soweit die Klägerin mangelnde Sachaufklärung rügt, ist die Beschwerde nicht hinreichend i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO begründet. Ausgehend von der Rechtsauffassung des FG, dass die Einheitswertbescheide auf den 1. Januar 1982, 1984 und 1992 wirksam und bestandskräftig waren, konnte die Klage nur bei Nichtigkeit der Bescheide Erfolg haben. Die von der Klägerin angeführten Hinweise, die das FG zur weiteren Sachaufklärung hätten veranlassen sollen, betreffen aber nicht die Frage der Nichtigkeit der Bescheide, sondern lediglich ihre Rechtmäßigkeit.
3. Mit der Rüge, § 184 Abs. 2 ZPO sei verletzt, macht die Klägerin keinen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend --derartige Mängel liegen nur bei Verfahrensfehlern des Gerichts vor--, sondern einen Fehler im Verwaltungsverfahren, der für sich allein keinen Grund für die Zulassung der Revision darstellt (vgl. BFH-Beschluss vom 6. Juni 2003 III B 98/02, BFH/NV 2003, 1214).
Fundstellen
Haufe-Index 1822112 |
BFH/NV 2008, 13 |