Entscheidungsstichwort (Thema)
NZB; Erheblichkeit und Berücksichtigung von Verfahrensmängeln
Leitsatz (NV)
1. Ein Urteil vermag auf einem geltend gemachten Verfahrensmangel zu beruhen, wenn die Möglichkeit besteht, daß das Urteil ohne den Verfahrensfehler anders ausgefallen wäre; dabei kommt es auf den Rechtsstandpunkt des FG an, mag dieser richtig oder falsch sein.
2. Das Revisionsgericht hat eine Tatsache, die im Tatbestand des FG-Urteils nicht enthalten ist, auch ohne vorherige Tatbestandsberichtigung zu berücksichtigen, wenn sie in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung enthalten ist.
Normenkette
FGO § 96 Abs. 1, § 108 Abs. 1, § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 155; ZPO § 561 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine Gesellschaft für Verwaltung, Vermittlung und Vermietung von Grundbesitz, gab für das Streitjahr (1991) keine Umsatzsteuererklärung ab. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt -- FA --) schätzte daraufhin die Besteuerungsgrundlagen anhand der von der Klägerin abgegebenen Umsatzsteuervoranmeldungen und setzte die Umsatzsteuer 1991 entsprechend fest. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies er mangels Vorlage der Umsatzsteuererklärung als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, die Klägerin sei ihrer Pflicht, Steuererklärungen abzugeben, nicht nachgekommen. Das FA sei daher befugt und verpflichtet gewesen, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung überreichte die Klägerin jedoch in der mündlichen Verhandlung die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr.
Die Klägerin beantragt mit der Beschwerde Zulassung der Revision wegen Verfahrensmangels (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Entscheidungsgründe
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Die angefochtene Entscheidung des FG kann auf dem von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmangel, daß das FG seiner Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt hat, beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Das FG hat seiner Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt und hierdurch gegen die Pflicht verstoßen, bei seiner Entscheidungsfindung die wesentlichen Teile des Gesamtergebnisses des Verfahrens zu berücksichtigen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG ist bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, daß die Klägerin ihrer Pflicht zur Abgabe der Umsatzsteuererklärung 1991 nicht nachgekommen ist. Dieser Sachverhalt ist unrichtig, da die Klägerin die Umsatzsteuererklärung 1991 ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 1994 zu Beginn der Verhandlung überreicht hat. Das FG hat diese Tatsache in seinem Urteil in keiner Weise gewürdigt.
2. Die Voraussetzung, daß das Urteil auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel zu beruhen vermag, ist erfüllt, wenn die Möglichkeit besteht, daß das Urteil bei richtigem Verfahren anders ausgefallen wäre; dabei kommt es auf den Rechtsstandpunkt des FG an, mag dieser richtig oder falsch sein (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 115 Anm. 34 mit Nachweisen).
Das FG hat die Klageabweisung ausschließlich darauf gestützt, daß das FA wegen Nichtabgabe der Umsatzsteuererklärung durch die Klägerin gemäß § 162 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) befugt und verpflichtet war, die Besteuerungsgrundlagen zu schätzen. Das Urteil enthält keine Anhaltspunkte zum Rechtsstandpunkt des FG für den Fall, daß die Klägerin vor Rechtskraft des Schätzungsbescheides eine Umsatzsteuererklärung abgibt. Es besteht daher jedenfalls die Möglichkeit, daß das FG bei Berücksichtigung der erfolgten Abgabe der Umsatzsteuererklärung durch die Klägerin eine Schätzungsbefugnis des FA verneint hätte und das Urteil dadurch anders ausgefallen wäre.
Ob das FG gleichwohl -- wegen fehlender Prüfbarkeit der eingereichten Umsatzsteuererklärung mangels Jahresabschlusses 1991 -- im Ergebnis zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, kann nicht berücksichtigt werden, denn das FG hat darauf im Urteil nicht abgestellt.
3. Entgegen der Ansicht des FG in seinem Nichtabhilfebeschluß brauchte die Klägerin die Unrichtigkeit des Tatbestandes des FG-Urteils vorliegend nicht im Wege eines Antrags auf Tatbestandsberichtigung (§ 108 Abs. 1 FGO) geltend machen. Der Bundesfinanzhof (BFH) wird das Einreichen der Umsatzsteuererklärung bei einer Entscheidung über eine Revision gegen das Urteil des FG nach § 155 i. V. m. § 561 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozeßordnung auch ohne vorherige Tatbestandsberichtigung zu berücksichtigen haben, da es aus der Niederschrift über die mündliche Verhandlung ersichtlich ist (vgl. BFH-Urteil vom 5. Mai 1976 I R 121/74, BFHE 119, 59, BStBl II 1976, 541 unter 4.).
Fundstellen
Haufe-Index 420882 |
BFH/NV 1996, 157 |