Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Ein Erlaß von Steuern nach § 131 AO setzt Erlaßwürdigkeit des begünstigten Steuerpflichtigen voraus; ob die Erlaßwürdigkeit zu bejahen oder zu verneinen ist, ist jedoch unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, nicht nur unter Berücksichtigung einer vorhergegangenen Bestrafung des Steuerpflichtigen wegen eines Steuervergehens, zu entscheiden (vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs IV 418/56 U vom 14. November 1957, BStBl 1958 III S. 153, Slg. Bd. 66 S. 398).
Normenkette
AO § 131 Abs. 1 S. 2
Tatbestand
Streitig ist, ob ein von der Bfin. gestellter Erlaßantrag zu Recht abgelehnt worden ist.
Die Bfin. ist Komplementärin und Geschäftsführerin der Firma A. KG. in X., die sich mit dem Tabakwaren-Groß- und Tabakwaren-Einzelhandel befaßt. Eine bei dieser Firma durch die Steuerfahndung im Jahre 1954 durchgeführte Betriebsprüfung führte zu erheblichen Umsatz- und Einkommensteuernachforderungen.
Mit Schreiben vom 19. Februar 1958 beantragte die Bfin. den Erlaß folgender Steuerrückstände:
Einkommensteuer 1951 bis 1953 ---------- 12.317,75 DM Abgabe Notopfer Berlin 1951 bis 1952 ------ 521,90 DM ---------------------------------------- 12.839,65 DM.Die Bfin. trug hierzu unter anderem vor, die nachgeforderten Steuern beruhten auf zwar rechtskräftigen, jedoch zu hohen Steuerfestsetzungen. Die Einziehung der Steuerbeträge gefährde außerdem ihre Existenz. Das Finanzamt lehnte den Erlaßantrag mit der Begründung ab, es gehe nicht an, über die Vorschrift des § 131 AO erneut eine materielle überprüfung der Besteuerungsgrundlagen durchzuführen, die Bfin. sei außerdem erlaßunwürdig, weil sie wegen Steuerhinterziehung bestraft worden sei.
Auch die Beschwerde gegen die Ablehnung des Erlaßantrags hatte keinen Erfolg. Die Oberfinanzdirektion führte in der Beschwerdeentscheidung vom 5. September 1959 unter anderem aus, nach der Rechtsprechung sei es nicht zulässig, Einwendungen gegen rechtskräftige Steuerfestsetzungen im Erlaßverfahren nach § 131 AO zu prüfen. Außerdem sei die Bfin. im Jahre 1957 durch rechtskräftiges Urteil des Schöffengerichts Y. wegen Steuerhinterziehung in drei Fällen mit einer Gesamtstrafe von zwei Monaten Gefängnis und mit drei Geldstrafen von je 200 DM bestraft worden. Es handle sich hierbei um ein Rückfalldelikt. Ein Erlaß, der die Begünstigung eines einzelnen Steuerpflichtigen zu Lasten der Allgemeinheit darstelle, setze die Erlaßwürdigkeit des begünstigten Steuerpflichtigen voraus. Diese sei nicht gegeben, wenn ein Steuerpflichtiger, wie die Bfin., sich der Steuerhinterziehung im Rückfall schuldig gemacht habe. Die Bfin. habe die von ihr als Komplementärin und Geschäftsführerin zu beachtende Sorgfaltspflicht wissentlich verletzt. Das Unvermögen der Bfin., die rückständigen Steuern jetzt zu zahlen, beruhe darauf, daß sie infolge ihres steuerunehrlichen Verhaltens ständig weniger Steuern gezahlt habe, als sie hätte zahlen können und müssen. Bei diesem Verhalten könne auch bei ungünstiger wirtschaftlicher Lage der Bfin. eine Billigkeitsmaßnahme nicht in Betracht kommen. Es bleibe der Entscheidung des Finanzamts überlassen, ob und inwieweit es die Besonderheit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse der Bfin. im Vollstreckungsverfahren berücksichtigen könne.
Mit der Berufung machte die Bfin. geltend, die von der Oberfinanzdirektion angegebenen Urteile seien nicht geeignet, die Ablehnung des Erlaßantrages zu rechtfertigen. Im vorliegenden Falle seien besondere Gründe vorhanden, die auch bei Beachtung der Rechtsprechung zu einer Außerachtlassung der Rechtskraft der Bescheide führen müßten. Die Veranlagungen zur Umsatzsteuer und Einkommensteuer seien auf unzulänglichen Schätzungsmerkmalen aufgebaut. Wenn die Beschwerdeentscheidung die Ablehnung des Erlaßantrags mit ihrer, der Bfin., angeblichen Erlaßunwürdigkeit begründet, so habe die Oberfinanzdirektion hierbei nicht berücksichtigt, daß sie, die Bfin., wegen Nichtbeachtung des § 14 UStDB (buchmäßiger Nachweis) zu Unrecht bestraft worden sei. Diese Nichtbeachtung löse zwar den Verlust der Großhandelsvergünstigung bei der Umsatzsteuer (Steuersatz 1 v. H.) aus, sie stelle aber keine strafbare Handlung dar. Eine Bestrafung sei lediglich nach den Vorschriften der Warenausgangsverordnung wegen Ordnungswidrigkeit zulässig gewesen. Aber auch hierfür seien die Voraussetzungen nicht gegeben gewesen, weil nicht die Bfin., sondern der andere Inhaber der Firma die unrichtigen Namen eingetragen habe. Die anderen, im Strafbescheid angegebenen Gründe dürften für ihre Verurteilung kaum ausgereicht haben. Daß sie den im Strafurteil enthaltenen Rechtsirrtum des Schöffengerichts Y. nicht erkannt und deshalb das Strafurteil habe rechtskräftig werden lassen, könne ihr nicht zum Vorwurf gereichen. Sie habe sich im Strafverfahren durch ihren Bruder, den Anfang 1958 verstorbenen Rechtsanwalt B., vertreten lassen. Dieser sei zu dieser Zeit bereits ein schwerkranker Mann gewesen, der nicht mehr die Spannkraft besessen habe, beurteilen zu können, ob eine Steuerhinterziehung in dem beanstandeten Punkt vorgelegen habe oder nicht. Die Unbilligkeit der Erhebung der Steuerforderung sei hiernach in erster Linie in der Sache selbst begründet, zum anderen aber, jedoch nicht zuletzt, auch in ihrer ungünstigen wirtschaftlichen Lage sowie der ungünstigen Lage ihrer Firma. Dies sei durch den von ihr vorgelegten Finanzstatus zum 31. Dezember 1957 und zum 31. Dezember 1958 sowie durch die für diesen Zeitpunkt aufgestellten Bilanzen nebst Gewinn- und Verlustrechnung erwiesen. Die Beitreibung der Rückstände würde die Firma zum Erliegen bringen.
Auch der Berufung blieb im Streitpunkt der Erfolg versagt. Das Finanzgericht schloß sich den Darlegungen der Oberfinanzdirektion an. Im Vordergrund stehe, so führte das Finanzgericht aus, eindeutig die Erlaßunwürdigkeit der Bfin. Sie liege darin, daß das Schöffengericht Y. die Bfin. zweimal (1950 und 1957) wegen Steuerhinterziehung, zuletzt sogar mit Gefängnis bestraft habe. Durch derartige Vergehen allein sei nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und des Finanzgerichts jeder Steuererlaß ausgeschlossen. Somit erübrige es sich, auf das weitere Vorbringen der Bfin. einzugehen. Die Oberfinanzdirektion habe zutreffend darauf hingewiesen, daß die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bfin. im Beitreibungsverfahren berücksichtigt werden könnten.
Mit der Rb. rügt die Bfin., daß die Entscheidung des Finanzgerichts auf unrichtiger Anwendung des geltenden Rechts beruhe, gegen den klaren Inhalt der Akten verstoße und daß das Verfahren an wesentlichen Mängeln leide. Sie wendet sich in erster Linie erneut gegen die Auffassung der Vorinstanzen, daß sie erlaßunwürdig sei. Was ihre Bestrafung im Jahre 1950 angehe, so habe es sich darum gehandelt, daß einige Tabakwaren, darunter amerikanische Zigaretten, unverzollt geblieben seien. Abgesehen davon, daß dieses Vergehen auf einem ganz anderen Rechtsgebiet (Zoll) liege, werde man dabei nicht außer Betracht lassen dürfen, daß dieses Vergehen kurz nach der Währungsreform begangen sei, also bevor sich die Rechtsverhältnisse im Bundesgebiet stabilisiert hätten. Die Bfin. wiederholt ihr Vorbringen, daß sie im Jahre 1957 zu Unrecht wegen Steuerhinterziehung bestraft worden sei. Ein Verstoß gegen die Interessen der Allgemeinheit liege nicht vor. Sie habe vielmehr durch die von ihr bisher geleisteten Umsatzsteuernachzahlungen eine um 8.950 DM höhere Umsatzsteuer entrichtet, als sie normalerweise nach der Vorschrift des § 7 Abs. 3 UStG hätte zahlen müssen. Es sei auch nicht richtig, wenn das Finanzgericht von ihrer Lebens- und Geschäftserfahrung und einer langjährigen Buchführungstätigkeit auf Kenntnisse des Steuer- und sogar des Steuerstrafrechts schließe, die es ihr ermöglicht hätten, sich gegen eine ungerechtfertigte Bestrafung zu wehren. Für ihre Buchführung habe sie seit Jahren einen ständigen Berater, der auch die Abschlüsse fertige und es übernommen habe, sie in ihren steuerlichen Belangen zu betreuen. Die Bfin. weist schließlich noch einmal darauf hin, daß ihre Existenz gefährdet sei.
Entscheidungsgründe
Die Prüfung der Rb. ergibt folgendes:
Nach § 131 Abs. 1 Satz 1 AO können Steuern ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn ihre Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Ob ein Erlaß zu gewähren ist, ist eine Ermessensentscheidung. Der Senat hat lediglich zu prüfen, ob in der Ablehnung des Erlasses ein Ermessensmißbrauch zu erblicken ist (vgl. Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277 ff.). Entscheidend sind hierbei die Verhältnisse im Zeitpunkt des Erlasses der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion, im vorliegenden Falle also die Verhältnisse vom 5. September 1959. Ein Billigkeitserlaß nach § 131 AO kann in Betracht kommen, wenn eine unbillige Härte, auf Grund deren die Einziehung einer Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, entweder in der Sache liegt oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen hat.
Den Vorinstanzen ist beizutreten, wenn sie unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (vgl. Urteil I 218/55 U vom 17. April 1956, BStBl 1956 III S. 190, Slg. Bd. 62 S. 510) die Auffassung vertreten, daß es nicht Sinn des § 131 AO sein könne, die Rechtskraft einer Steuerfestsetzung dadurch auszuhöhlen, daß die Finanzbehörde gezwungen werde, im Billigkeitsverfahren nochmals sachlich auf einen rechtskräftig abgeschlossenen Steuerfall einzugehen, sofern nicht ausnahmsweise ganz besondere Gründe hierfür vorliegen. Im vorliegenden Falle liegen solche Gründe und damit auch eine Unbilligkeit in der Sache nicht vor. Hierbei ist entscheidend, daß die Bfin. die Möglichkeit, ihre Einwendungen rechtzeitig im Rechtsmittelverfahren geltend zu machen, nicht wahrgenommen hat. Nach der überzeugung des Senats war die Bfin. hierzu nach ihrer bisherigen Tätigkeit in der Lage.
Dagegen vermag der Senat den Vorinstanzen nicht zu folgen, wenn diese die Auffassung vertreten, daß die Steuerunehrlichkeit der Bfin. jede Anwendung des § 131 AO verhindere. Es ist richtig, daß ein Entgegenkommen der Steuerbehörde gemäß § 131 AO die Erlaßwürdigkeit des Steuerpflichtigen voraussetzt, wie der erkennende Senat bereits in dem Urteil IV 418/56 U vom 14. November 1957 (BStBl 1958 III S. 153, Slg. Bd. 66 S. 398) zum Ausdruck gebracht hat. In dem Fall, der dem letztgenannten Urteil zugrunde lag, hatte der erkennende Senat jedoch ausdrücklich festgestellt, daß die Ablehnung des Erlasses durch die Oberfinanzdirektion, soweit die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen in Betracht kamen, keine unbillige Härte und damit keine Ermessensverletzung darstellte. Nach den besonderen Umständen dieses Falles kam es auch auf die spätere Entwicklung der Verhältnisse, die in diesem Falle günstig war, nicht mehr an. Hiernach sind auch nach dem oben angeführten Urteil die Umstände des Einzelfalles bei der Entscheidung über einen Erlaßantrag zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der Antragsteller wegen eines Steuervergehens bestraft worden ist. Im Streitfall haben sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bfin. schon vor Ergehen der Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion - insoweit unterscheidet sich der vorliegende Fall wesentlich von dem Fall des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 418/56 U vom 14. November 1957 - erheblich verschlechtert. Unter anderem weist der Finanzstatus der Firma vom 31. Dezember 1958 eine Unterdeckung von 34.729 DM aus. Die am 23. März 1893 geborene Bfin. hat unwidersprochen geltend gemacht, daß ihre Existenz gefährdet sei. Geht man davon aus, daß auch in einem solchen Falle bei der Ausübung des Ermessens im Rahmen der Entscheidung über einen Erlaßantrag die Belange der öffentlichen Hand und des Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung der Grundsätze von Recht und Billigkeit abzuwägen sind, so wird man nicht sagen können, daß eine Steuerunehrlichkeit jede Anwendung des § 131 AO ausschließt, so daß außer der Bestrafung die weiteren Umstände des Falles für die Beurteilung des Erlaßantrages unerheblich sind. Dazu gehört insbesondere die Prüfung der Fragen, welche Anstrengungen ein Steuerpflichtiger in einem solchen Falle unternommen hat, um die Rückstände, die auf einem steuerunehrlichen Verhalten beruhen, abzutragen, und ob diese Bemühungen als ausreichend anzusehen sind. Ergibt diese Prüfung, daß ein Steuerpflichtiger unter Einsatz der ihm zur Verfügung stehenden Mittel alles getan hat, um die Folgen seines steuerunehrlichen Verhaltens zu beseitigen, so wird man dieses Verhalten des Steuerpflichtigen nicht außer acht lassen dürfen, wenn sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse nach der Bestrafung ohne sein Verschulden erheblich verschlechtert haben und wenn der Steuerpflichtige unter anderem auch aus diesem Grunde einen Erlaß beantragt. Dem steht auch das oben angeführte Urteil des Bundesfinanzhofs IV 418/56 U vom 14. November 1957 nicht entgegen. Die Steuerbehörde wird dann zu prüfen haben, ob und in welcher Weise ein Entgegenkommen angebracht erscheint, um zu verhindern, daß der Betrieb zum Erliegen kommt. Sofern nach den Umständen des Falles (Höhe der Rückstände und der auf diese bereits geleisteten Zahlungen, wirtschaftliche und persönliche Verhältnisse des Steuerpflichtigen) ein Erlaß der gesamten noch bestehenden Rückstände nicht in Betracht kommt, ist demgemäß in einem solchen Falle zu untersuchen, ob es geboten ist, dem Steuerpflichtigen nach Zahlung eines weiteren Teilbetrages der Rückstände, den der Steuerpflichtige, je nach Lage der Sache, aus eigenen Mitteln oder durch Kreditaufnahme zu beschaffen hat, einen Teilerlaß in Aussicht zu stellen. Da die Oberfinanzdirektion bei der Ausübung ihres Ermessens die vorstehend dargelegten Grundsätze nicht beachtet hat, waren die Beschwerdeentscheidung und die angefochtene Entscheidung aufzuheben.
Die Sache ist nicht spruchreif. Es wird im einzelnen, gegebenenfalls nach Durchführung einer Betriebsprüfung festzustellen sein, wie die wirtschaftliche Lage der Bfin. ist, wie unter Berücksichtigung der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse die bisherigen Bemühungen der Bfin. um die Abtragung der Rückstände, die die Bfin. zu einem Teil getilgt hat, zu bewerten sind und ob und inwieweit hiernach ein Erlaß gemäß § 131 AO in Betracht kommt. Die Sache wird deshalb zur erneuten Prüfung an die Oberfinanzdirektion zurückverwiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 410007 |
BStBl III 1961, 288 |
BFHE 1962, 53 |
BFHE 73, 53 |