Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (NV)
Wird dem Steuerpflichtigen während eines Umzugs ein Steuerbescheid durch Niederlegung bei der früher zuständigen Postanstalt zugestellt und ist die schriftliche Benachrichtigung des Postbeamten hierüber in der früheren Wohnung nicht mehr auffindbar, so ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Normenkette
AO 1977 § 110
Tatbestand
Das Finanzamt - FA - hat die Klägerin mit Haftungsbescheid vom 26. Oktober 1982 als Übernehmerin eines Unternehmens wegen rückständiger Steuerschulden der Verkäuferin im Gesamtbetrag von 158 971,71 DM nach § 191 AO 1977 i. V. m. § 75 AO 1977, § 419 BGB in Anspruch genommen.
Der Haftungsbescheid war an die Klägerin unter der Anschrift ,,D-Str. 4, 8 . . . stadt" gerichtet. Er wurde an diese Anschrift am 27. Oktober 1982 mit Postzustellungsurkunde (PZU) abgesandt. Die PZU wurde am 28. Oktober 1982 durch den Postbeamten des Postamtes 8 . . . stadt vollzogen. Nach dem ausgefüllten Abschnitt 6 des Vordrucks hat der Postbeamte die Klägerin selbst in der Wohnung nicht angetroffen; die Zustellung war weder an einen zur Familie gehörenden erwachsenen Hausgenossen noch an den Hauswirt oder Vermieter ausführbar. Sie erfolgte daher durch Niederlegung bei der Postanstalt in 8 . . . stadt. Die schriftliche Mitteilung über die Niederlegung bei der Postanstalt hat der Postbeamte in dem Briefkasten der Wohnung in . . . stadt hinterlassen. Die PZU ist beim FA am 28. Oktober 1982 eingegangen.
Die Sendung mit dem zuzustellenden Haftungsbescheid wurde beim Postamt nicht abgeholt. Die zurückgelangte Ausfertigung des Haftungsbescheids wurde der Klägerin anläßlich einer Vorsprache beim FA in anderer Sache am 10. März 1983 ausgehändigt. Mit Schreiben vom 17. März 1983, eingegangen beim FA am selben Tage, legte die Klägerin Einspruch gegen den Haftungsbescheid ein. Nachdem das FA mit Schreiben vom 21. März 1983 darauf hingewiesen hatte, der Einspruch sei infolge der am 28. Oktober 1982 durch Niederlegung bei der Postanstalt erfolgten Zustellung verspätet, beantragte die Klägerin am 30. März 1983 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte erneut Einspruch ein. Sie machte geltend, sie habe die Benachrichtigung über die Niederlegung am 28. Oktober 1982 nicht erhalten, da sie zu diesem Zeitpunkt bereits nach . . . burg umgezogen gewesen sei. Der Umzug sei im wesentlichen am 16. /17. Oktober 1982 erfolgt. Sie habe ihre Wohnung in . . . stadt noch bis Ende Oktober 1982 hin und wieder aufgesucht und jeweils einige restliche Möbel mitgenommen. Die Post sei jeweils vom Vermieter bei Überfüllung des Briefkastens mit Reklame- und anderen Postsendungen aus diesem herausgenommen und vor die Wohnungstüre gelegt worden, obwohl sie den Vermieter hierzu nicht beauftragt habe. Sie - die Klägerin - habe die dort aufgefundenen Postsendungen dann bei ihren Aufenthalten bis Ende Oktober 1982 an sich genommen. Einen Postbenachrichtungsschein über die Niederlegung des Haftungsbescheids bei der Postanstalt habe sie nicht vorgefunden. Er müsse abhanden gekommen sein. Ab 1. November 1982 sei sie in . . . burg postalisch und einwohnermäßig gemeldet. Für die letztere Angabe hat die Klägerin die Anmeldebestätigung des Einwohnermeldeamts . . . burg vorgelegt.
Die nach Verwerfung des Einspruchs (§ 358 Satz 2 AO 1977) mit dem Begehren auf Aufhebung des Haftungsbescheids erhobene Klage hat das FG abgewiesen. Es hat seine Entscheidung im wesentlichen damit begründet, die Klägerin wäre verpflichtet gewesen, für eine ordnungsgemäße Entgegennahme der Postsendungen in der . . . stadt-Wohnung zu sorgen. Da sie dies versäumt habe, müsse ihr der Nichtzugang des Postbenachrichtigungsscheins über die Niederlegung als Verschulden angelastet werden (§ 110 Abs. 1 AO 1977), so daß eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Ablauf der Einspruchsfrist nicht in Betracht komme und der Einspruch zu Recht als unzulässig verworfen worden sei.
Mit der Revision beantragt die Klägerin sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Sie rügt - sinngemäß - unrichtige Anwendung von § 110 Abs. 1 AO 1977.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Adressat eines hoheitlichen Bescheids infolge vorübergehender Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung - im Sinn von ständig benutzter Wohnung - durch Urlaub oder vorübergehende Geschäftsreisen die Rechtsbehelfsfrist für den ihm während seiner Abwesenheit in die Wohnung zugestellten Bescheid versäumt. Dies habe auch dann zu gelten, wenn der Betroffene mit der Möglichkeit rechnen mußte, daß ihm während seiner vorübergehenden Abwesenheit ein Bescheid zugestellt werden könnte. Wenn dem Betroffenen jedoch ein anderes Verschulden zur Last gelegt werden könnte, er z. B. die Abholung vernachlässigt habe oder sich einer erwarteten Zustellung vorsätzlich entziehen wollte, dann könnte eine Wiedereinsetzung allerdings nicht in Betracht kommen (vgl. BVerfG-Beschluß vom 20. Juni 1973 2 BvR 675/72, BVerfGE 35, 296). Diese zunächst für das Strafbefehls- und Bußgeldverfahren entwickelten Grundsätze müssen auch im Besteuerungsverfahren angewandt werden. Auch im Besteuerungsverfahren kann der Betroffene nicht wissen, ob ihm während seiner vorübergehenden Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung ein Steuerbescheid zugeht (vgl. Entscheidungen des BVerfG in BVerfGE 35, 296, und vom 11. Februar 1976 2 BvR 849/75, BVerfGE 41, 332; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., Tz. 7 zu § 110 AO 1977 mit weiteren Hinweisen).
Auf den Streitfall übertragen bedeutet dies: Selbst wenn der Umzug der Klägerin von . . . stadt nach . . . burg im wesentlichen bereits am 16. und 17. Oktober 1982 stattgefunden hat, so ist dennoch - nach den revisionsrechtlich verbindlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) - davon auszugehen, daß die Klägerin noch bis Ende Oktober 1982 in kurzen Zeitabständen jeweils restliche Möbel in . . . stadt abgeholt hat. Als Einzugstermin in . . . burg hatte die Klägerin beim dortigen Einwohnermeldeamt den 1. November 1982 angegeben und den Postnachsendeauftrag am 16. Dezember 1982 gestellt. Die Wohnung in . . . stadt war daher jedenfalls noch bis Ende Oktober 1982 ständig genutzt im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG. Da die Klägerin in dieser Zeit - also bis Ende Oktober 1982 - nur in jeweils kurzen Zeitabständen vorübergehend von . . . stadt abwesend war, brauchte sie für die Entgegennahme der Postsendungen keine besonderen Vorkehrungen zu treffen. Ist aber wegen Unterbleibens solcher Vorkehrungen - oder zumindest im Zusammenhang damit - der Benachrichtigungsschein über die Niederlegung der Postsendung beim Postamt . . . stadt - wie von der Klägerin unbestritten vorgetragen - abhanden gekommen oder jedenfalls nicht zur Kenntnis der Klägerin gelangt, so kann das Unterbleiben solcher besonderer Vorkehrungen für die Postentgegennahme der Klägerin nicht als Verschulden angelastet werden. Bei der gegenteiligen Auffassung würde die Klägerin bei Abwesenheit während des Umzugs in eine andere Stadt letztlich schlechter gestellt als bei Abwesenheit wegen Urlaubs oder einer vorübergehenden Geschäftsreise. Dies erscheint dem erkennenden Senat nicht vertretbar.
Der Klägerin ist daher unter Aufhebung der Vorentscheidung und der Einspruchsentscheidung die begehrte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Fundstellen
Haufe-Index 414974 |
BFH/NV 1987, 749 |