Leitsatz (amtlich)
Erhöht sich der Teilwert von gewerblichem Vorratsvermögen mit dem Beginn des neuen Kalenderjahres, so kann dies bei der Einheitsbewertung des Betriebsvermögens zum Abschlußtag 31. Dezember noch nicht berücksichtigt werden.
Normenkette
BewG i.d.F. vor dem VStRG 1974 § 22 Abs. 4; BewG i.d.F. vor dem VStRG 1974 § 106 Abs. 2
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) stellte den Einheitswert für das Betriebsvermögen der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) zum 1. Januar 1970 fest. Das FA wich dabei von der Vermögensaufstellung der Klägerin u. a. dadurch ab, daß es den Wertansatz für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe um 55 000 DM erhöhte. Diese Erhöhung begründete das FA damit, seit Oktober 1969 sei bekannt gewesen, daß die Listenpreise für dieses Vorratsvermögen ab 1. Januar 1970 erhöht würden.
Der Einspruch gegen den Feststellungsbescheid hatte keinen Erfolg.
Das FG wies die Klage ab. Es ließ die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu.
Die Klägerin beantragt mit ihrer Revision, die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und den Einheitswert für ihr Betriebsvermögen auf ... DM festzustellen.
Die Klägerin rügt, das FG habe sich über den Wortlaut des § 106 Abs. 2 des Bewertungsgesetzes i. d. F. vor dem Vermögensteuerreformgesetz 1974 (im folgenden BewG) hinweggesetzt, ohne daß die Voraussetzungen hierfür gegeben seien. Nach der Rechtsprechung sei dies nur dann zulässig, wenn die wörtliche Anwendung einer Vorschrift zu einem sinnwidrigen Ergebnis führe. Dies sei aber nicht der Fall. Dafür spreche auch die Entstehungsgeschichte des § 106 Abs. 2 BewG. Das Urteil des BFH vom 9. Januar 1959 III 89/58 U (BFHE 68, 394, BStBl III 1959, 152) rechtfertige die Entscheidung des FG nicht.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision wird die Vorentscheidung aufgehoben.
1. Die Feststellung des Einheitswerts des Betriebsvermögens der Klägerin zum 1. Januar 1970 wurde durch Wertfortschreibung gemäß § 22 BewG durchgeführt. Nach § 22 Abs. 4 BewG werden der Fortschreibung die Verhältnisse zu Beginn des Kalenderjahres zugrunde gelegt, das auf die Änderung folgt. Die Vorschrift des § 106 BewG, nach der auch ein anderer Zeitpunkt für die Bestimmung dieser Verhältnisse maßgebend sein kann, bleibt jedoch unberührt.
§ 106 Abs. 2 BewG schreibt vor, daß für Betriebe, die, wie die Klägerin, regelmäßig jährlich Abschlüsse auf den Schluß des Kalenderjahres machen, der Abschlußtag zugrunde zu legen ist. Aus den §§ 21 bis 23 BewG ergibt sich jedoch, daß das Stichtagsprinzip des Bewertungsgesetzes nicht auf die Verhältnisse eines ganzen Tages, sondern auf die eines bestimmten Zeitpunkts abstellt, und zwar regelmäßig auf den Beginn des Kalenderjahres. Hieraus folgt für die Anwendung des § 106 Abs. 2 BewG, daß auch dann, wenn an die Stelle des "Stichtags" des § 22 Abs. 4 BewG der das Kalenderjahr beendende Abschlußtag tritt, nicht die Verhältnisse eines ganzen Tages, sondern die des Abschlußzeitpunkts maßgebend sind. Deshalb ist unter dem "Abschlußtag" i. S. des § 106 Abs. 2 BewG der Abschlußzeitpunkt zu verstehen, das ist der 31. Dezember, 24 Uhr.
2. Zu den Verhältnissen des Abschlußzeitpunkts 1969 gehört zwar im Streitfall die seit Oktober 1969 bestehende Kenntnis, daß sich die Preise für das Vorratsvermögen der Klägerin mit dem Beginn des Jahres 1970 erhöhen. Diese Kenntnis bewirkte aber weder eine Werterhöhung zum Abschlußzeitpunkt noch führte sie zu einer Aufhellung unklarer Wertverhältnisse zu diesem Zeitpunkt. Die Werterhöhung trat vielmehr eindeutig erst nach dem Abschlußzeitpunkt, nämlich mit dem Beginn des neuen Jahres ein. Sie ist damit aber nicht ein Ereignis, das im Schnittpunkt des ablaufenden und des neuen Jahres i. S. des BFH-Urteils III 89/58 U liegt. Dieses Urteil setzt sich mit der Frage auseinander, in welchem Zeitpunkt beim Ausscheiden von Genossen aus einer Genossenschaft zum Schluß des Geschäftsjahres (§ 65 Abs. 2 GenG) das Geschäftsguthaben der Ausscheidenden sich in eine Schuld der Genossenschaft verwandelt. In diesem Fall ist der Senat aufgrund der Rechtslage nach Handelsrecht davon ausgegangen, daß die Umwandlung des Geschäftsguthabens in eine Schuld auf Zahlung des entsprechenden Geldbetrages in dem unmeßbaren Zeitpunkt eintritt, "in welchem das Jahr bereits zu seinem Ende gelangt ist, um sofort und ohne Unterbrechung in ein neues Jahr überzugehen. Es ist der Zeitpunkt, in welchem alle Ereignisse des eben abgelaufenen und noch keines des neu beginnenden Jahres ihre Wirkung ausüben". Im Streitfall tritt die Werterhöhung des Vorratsvermögens der Klägerin dagegen erst in der nächsten meßbaren Zeiteinheit nach dem Abschlußzeitpunkt 1969 ein; sie ist damit zwar im Feststellungszeitpunkt i. S. des § 22 Abs. 4 BewG schon gegeben, dagegen nicht in dem vom Feststellungszeitpunkt abweichenden Abschlußzeitpunkt, der für die Bewertung des Betriebsvermögens als Feststellungszeitpunkt angesehen wird.
3. Das FG hat diese Rechtslage durchaus erkannt. Es hat auch erkannt, daß die Entstehungsgeschichte des § 106 Abs. 2 BewG für den Rechtsstandpunkt der Klägerin spricht (vgl. die Begründung zu § 63 des Reichsbewertungsgesetzes 1934, RStBl 1935, 161 [175], der sachlich dem § 106 BewG entspricht). Es war jedoch, wie der erkennende Senat in der Entscheidung III 89/58 U, der Meinung, daß es auch in dem vorliegenden Streitfall nicht gerechtfertigt sei, die Wertänderung unberücksichtigt zu lassen und damit der Steuerfestsetzung für die Zukunft, die möglicherweise für mehrere Jahre wirken kann, einen nicht mehr bestehenden Vermögensbestand zugrunde zu legen. Der Senat verkennt nicht das sachliche Gewicht dieser Argumentation. Er ist sich auch bewußt, daß sie besonders dann vorgebracht werden wird, wenn sich der Vorrang des Stichtagsprinzips nicht - wie im Streitfall - zu Lasten des Fiskus, sondern zu Lasten des Steuerzahlers auswirkt. Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß das vom Gesetzgeber vorgeschriebene Stichtagsprinzip, das bildlich mit einer Momentaufnahme des Vermögens verglichen wird, der Praktikabilität der Bewertung dient und damit zwangsläufig bisweilen auch Ergebnisse mit sich bringt, die sachlich nicht befriedigen. Dem Entscheidungsfall III 89/58 U lag ein besonderer Sachverhalt zugrunde, der sachliche Rechtsfolgerungen zuließ, die nicht verallgemeinert werden können.
4. Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung als der Senat ausgegangen; seine Entscheidung war deshalb aufzuheben.
Die Sache ist spruchreif, weil die getroffenen Feststellungen ausreichen, um die von der Klägerin beantragten Rechtsfolgerungen ziehen zu können. Auf die Klage war die Einspruchsentscheidung aufzuheben und der Einheitswert des Betriebsvermögens der Klägerin zum 1. Januar 1970 auf ... DM festzustellen.
Fundstellen
Haufe-Index 72743 |
BStBl II 1978, 366 |
BFHE 1978, 548 |