Entscheidungsstichwort (Thema)

Grunderwerbsteuer/Kfz-Steuer/sonstige Verkehrsteuern

 

Leitsatz (amtlich)

Wird auf einer unbebauten Teilfläche eines Grundstücks ein Gebäude errichtet, so wird die Anwendbarkeit des § 1 Ziff. 1 des niedersächsischen Gesetzes über die Befreiung des sozialen Wohnungsbaus von der Grunderwerbsteuer (GVBl für Niedersachsen 1952 S. 53, BStBl 1952 II S. 74) nicht dadurch ausgeschlossen, daß sich auf dem Grundstück bereits ein anderes Gebäude befindet.

 

Normenkette

GrEStG § 2 Abs. 1 S. 1; GrESWGBY 1/1

 

Tatbestand

Der Bf. erwarb durch notariell beurkundeten Vertrag vom 21. Juni 1952 von dem Konkursverwalter über den Nachlaß des verstorbenen Kaufmanns X. ein 1.217 qm großes Grundstück, auf dem sich ein noch nicht völlig vollendetes, überwiegend Wohnzwecken dienendes Gebäude befand, zum Kaufpreis von 43.000 DM. Die Wohnsiedlungsgenehmigung wurde am 11. Juli 1952 erteilt. Zeitpunkt des Erwerbsvorgangs im Sinn des Grunderwerbsteuerrechts war somit der 11. Juli 1952 (§ 3 Abs. 5 Ziff. 5 b des Steueranpassungsgesetzes - StAnpG - in der Fassung des § 19 GrEStG 1940).

Nach dem Erwerb des Grundstücks wurde darauf von dem Bf. ein zweites Gebäude, das Wohnzwecken dient, errichtet (siehe die Bescheinigung des Gemeindesteueramts der Stadt S. vom 7. Juni 1956).

Streitig ist, ob der Grundstückserwerb durch den Bf. auf Grund des § 1 Ziff. 1 oder Ziff. 3 des mit Wirkung ab 4. Juli 1952 in Kraft getretenen niedersächsischen Gesetzes über die Befreiung des sozialen Wohnungsbaus von der Grunderwerbsteuer vom 2. Juli 1952 (GVBl für Niedersachsen 1952 S. 53, BStBl 1952 II S. 74) in der Fassung des gleichfalls mit Wirkung ab 4. Juli 1952 in Kraft getretenen änderungsgesetzes vom 13. Juli 1953 (GVBl für Niedersachsen 1953 S. 17, BStBl 1953 II S. 90) von der Besteuerung ausgenommen ist oder nicht. § 1 Ziff. 1 und 3 a. a. O. lauten:

"Von der Besteuerung nach dem Grunderwerbsteuergesetz sind ausgenommen

der Erwerb eines unbebauten oder völlig zerstörten Grundstücks zur Errichtung eines Gebäudes, das zu mehr als 80 vom Hundert Wohnungen oder Wohnräume enthält, die nach § 7 des Ersten Wohnungsbaugesetzes grundsteuerbegünstigt sind. Ein Gebäude gilt als zerstört, wenn oberhalb des Kellergeschosses auf die Dauer benutzbarer Raum nicht vorhanden ist;

der erste Erwerb eines Grundstücks, auf dem ein Gebäude der in Ziff. 1 bezeichneten Art errichtet worden ist, wenn zur Zeit des Erwerbs Wohnungen in dem Gebäude noch nicht oder höchstens seit 3 Jahren bezogen sind."

Das Finanzamt verneinte die Anwendbarkeit dieser Steuerbefreiungen und zog den Bf. unter Zugrundelegung einer Gegenleistung von 43.000 DM zur Grunderwerbsteuer heran.

Der Einspruch war erfolglos. ... Die Berufung wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Das Finanzgericht verneinte bezüglich beider Gebäude die Anwendbarkeit der vorbezeichneten Befreiungsvorschriften, und zwar

soweit es sich um das zuerst errichtete Gebäude handelt, weil dieses Gebäude im Zeitpunkt des Erwerbsvorgangs (11. Juli 1952) bereits errichtet war (§ 1 Ziff. 1 a. a. O.) bzw. weil es nicht zu mehr als 80 v. H. Wohnungen oder Wohnräume enthält (§ 1 Ziff. 3 in Verbindung mit § 1 Ziff. 1 a. a. O.),

soweit es sich um das zweite Wohngebäude handelt, weil das Grundstück im Zeitpunkt des Erwerbsvorgangs nicht mehr unbebaut gewesen sei (§ 1 Ziff. 1 a. a. O.).

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht, und zwar nicht nur, soweit es sich um das zuerst errichtete Gebäude, sondern außerdem, soweit es sich um das zweite Wohngebäude handelt.

Was das zweite Wohngebäude betrifft, so kann den Ausführungen des Finanzgerichts nicht zugestimmt werden. Allerdings ist dies im Streitfall nur dann von Bedeutung, wenn wegen des zuerst errichteten Gebäudes weder die Steuerbefreiung des § 1 Ziff. 1 noch die des § 1 Ziff. 3 des Gesetzes vom 2. Juli 1952 anwendbar ist.

Der Bf. hat schon in der finanzgerichtlichen Instanz die Steuerbefreiung des § 1 Ziff. 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1952 auch deshalb für sich in Anspruch genommen, weil er im Winterhalbjahr 1952/1953, das heißt nach dem Erwerb des Grundstücks, ein zweites Wohngebäude auf dem Grundstück errichtete. Das Finanzgericht ist wegen dieses Gebäudes, das anscheinend grundsteuerbegünstigte Wohnungen enthält, in eine genauere Prüfung nicht eingetreten, weil es unter einem Grundstück im Sinn des § 1 Ziff. 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1952 nur ein Grundstück im Sinn des bürgerlichen Rechts versteht und deshalb der Meinung ist, daß ein solches Grundstück nicht mehr "unbebaut" erworben wurde. Richtig ist, daß im § 1 Ziff. 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1952 von "unbebauten" Grundstücken gesprochen wird. Richtig ist auch, daß unter einem Grundstück im Sinn des Grunderwerbsteuerrechts ein Grundstück im Sinn des bürgerlichen Rechts zu verstehen ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 GrEStG). Bedenklich ist jedoch, als "Grundstück" im Sinn des § 1 Ziff. 1 des vorerwähnten Gesetzes ein Grundstück im Sinn des bürgerlichen Rechts und damit ein solches im Sinn des § 2 Abs. 1 Satz 1 GrEStG anzusehen. Eine solche Auslegung würde zu erheblichen Ungleichheiten führen. Erwirbt zum Beispiel jemand ein Grundstück, auf dem sich bereits ein Gebäude befindet, um eine Teilfläche dieses Grundstücks einerseits mit einem Wohngebäude zu bebauen, so käme die Steuerbefreiung, soweit es sich um die Bebauung der Teilfläche handelt, nicht in Betracht, und zwar auch dann nicht, wenn der Erwerber das erworbene Grundstück zu einem späteren Zeitpunkt in zwei Grundstücke aufteilen läßt. Würde dagegen dasselbe Grundstück vor dem Erwerbsvorgang aufgeteilt und erwirbt ein Käufer daraufhin beide Grundstücke, so wäre die Steuerbefreiung, soweit es sich um das zweite Gebäude handelt, ohne weiteres gegeben. Die Anwendbarkeit der Steuervergünstigung wäre bei einer solchen Auslegung sogar dann zu verneinen, wenn jemand ein größeres Grundstück, auf dem sich ein altes baufälliges Gebäude befindet, in der Absicht erwirbt, darauf ein modernes Hochhaus zu errichten. Ein innerer Grund dafür, die Steuerbefreiung des § 1 Ziff. 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1952 von derartigen Zufälligkeiten abhängig zu machen, ist nicht ersichtlich. Die Steuerbefreiungen im § 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1952 sollen dazu dienen, die Beseitigung der Wohnungsnot durch Gewährung von Grunderwerbsteuervergünstigungen zu fördern. Es ist anzunehmen, daß es dem Landesgesetzgeber bei Schaffung des Gesetzes weniger darauf ankam, die Bebauung unbebauter Grundstücke im Sinn des bürgerlichen Rechts steuerlich zu begünstigen als vielmehr darauf, die Schaffung neuer Wohnungen auf unbebautem Baugelände überhaupt zu fördern. Es ist deshalb davon auszugehen, daß es dem Sinn und Zweck der bezeichneten Vorschriften entspricht, unter Grundstücken "Grundflächen" zu verstehen.

Demgemäß ist § 1 Ziff. 1 des Gesetzes vom 2. Juli 1952 auch anwendbar, wenn auf einem bereits bebauten Grundstück noch ein zweites Gebäude errichtet wird. In diesem Fall ist, soweit die Steuerbefreiung nicht schon im Hinblick auf das bereits errichtete Gebäude gegeben war, bei Errichtung des zweiten Gebäudes die Anwendbarkeit der angeführten Steuerbefreiungsvorschrift erneut zu prüfen. Ist in bezug auf das zweite Gebäude eine Steuerbefreiung gegeben (in bezug auf das zuerst errichtete Gebäude dagegen nicht), so wäre die Befreiung teilweise anzuerkennen. Dabei wäre der Grund und Boden angemessen auf die mehreren Gebäude zu verteilen. Siehe auch das zu § 8 Nr. 9 GrEStG 1919 / 1927 (jetzt § 4 Abs. 1 Ziff. 1 a GrEStG 1940) ergangene Urteil des Reichsfinanzhofs II A 126/32 vom 5. August 1932 (RStBl 1932 S. 858). Soweit es sich um das zweite Gebäude handelt, bedarf es demgemäß erneuter Prüfung, ob und inwieweit die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung erfüllt sind. Voraussetzung ist, daß nicht schon wegen des zuerst errichteten Gebäudes eine Steuerbefreiung in Betracht kommt. Darüber, daß die Absicht, auf dem Grundstück ein zweites Wohngebäude zu errichten, bereits im Zeitpunkt des Erwerbsvorgangs (11. Juli 1952) bestanden haben muß, siehe Urteil des Senats II 166/57 U vom 5. November 1958 (BStBl 1959 III S. 98, Slg. Bd. 68 S. 251).

Nach alledem war die nicht spruchreife Sache unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zur erneuten Entscheidung an das Finanzgericht zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 424023

BStBl III 1960, 253

BFHE 1961, 16

BFHE 71, 16

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