Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben kann sich im Einzelfall ergeben, daß das Finanzamt eine Tatsache, die es bei gehöriger Erfüllung seiner Ermittlungspflicht hätte aufdecken können, gegen sich als bekannt gelten lassen muß. Hierauf kann sich aber nur ein Steuerpflichtiger berufen, der seiner Mitwirkungspflicht selbst voll nachgekommen ist.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Der Beschwerdeführer (Bf.) ist Vorstandsmitglied einer AG. Diese hat für die Zukunftssicherung des Bf. an eine rechtlich selbständige Pensionskasse in den Jahren 1952, 1953 und 1954 Arbeitgeberbeiträge in Höhe von jeweils 1.350 DM, 1.800 DM und 1.800 DM gezahlt. Nach Bescheinigungen der AG, die der Bf. seinen Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1952, 1953 und 1954 beigefügt hat, sind die Beiträge als Sonderausgaben "noch abzusetzen". In den Vorjahren waren der Bf. und die AG in gleicher Weise verfahren, nur war hier in den Bescheinigungen darauf hingewiesen worden, daß die Arbeitgeberbeiträge "mit Genehmigung des zuständigen Finanzamts pauschal versteuert" waren.
Das Finanzamt veranlagte den Bf. für die Jahre 1952, 1953 und 1954, indem es die erwähnten Arbeitgeberbeiträge dem Antrag des Bf. entsprechend als Sonderausgaben berücksichtigte. Bei der Veranlagung für das Jahr 1955 stellte das Finanzamt auf Grund einer fernmündlichen Rückfrage fest, daß die Beiträge auch in den Jahren 1952, 1953 und 1954 pauschal versteuert worden sind. Es berichtigte daraufhin die Veranlagungen für diese Jahre, indem es die Sonderausgaben um die Arbeitgeberbeiträge verminderte. Hierbei berichtigte es den Bescheid für 1954 auch insofern, als es 586 DM für den Nutzungswert der Wohnung im eigenen Einfamilienhaus ansetzte. Dieser war in den Vorjahren nicht angesetzt worden, weil er unter 600 DM lag und der Bf. nur Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit hatte. In dem Jahre 1954 aber hatte der Bf. auch Einkünfte aus selbständiger Arbeit bezogen.
Der Bf. wandte sich gegen die Berichtigungsveranlagungen. Nach seiner Meinung war das Finanzamt zur Berichtigung der ursprünglichen Bescheide nicht berechtigt.
Die Sprungberufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht hielt eine neue Tatsache für gegeben. Das Finanzamt habe, so führt das Urteil aus, von der Richtigkeit und Vollständigkeit der Steuererklärungen des Bf. und der ihr beigefügten Bescheinigungen ausgehen können. Es habe, weil der Sachverhalt nach den Erklärungen und Bescheinigungen völlig klar gelegen habe, keinen Grund gehabt, auf die Unterlagen der Vorjahre zurückzugreifen, so daß es ohne Bedeutung sei, daß das Finanzamt aus diesen Unterlagen die pauschale Versteuerung der Arbeitgeberbeiträge hätte ersehen können. Die Bescheinigungen für die Jahre 1952, 1953 und 1954 hätten auch ohne weiteres nicht erkennen lassen, daß die Arbeitgeberbeiträge nicht schon in den vom Bf. als versteuert angeführten Bezügen enthalten gewesen seien. Wenn die Bescheinigungen die Beiträge als "noch" abzusetzende Sonderausgaben bezeichneten, so spreche das im Gegenteil dafür, daß sie wie die übrigen dort angeführten Beträge behandelt worden seien. Im Hinblick darauf, daß im Jahre 1954 trotz Vorliegens von Einkünften aus selbständiger Arbeit die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung wieder nur mit 0 DM angegeben worden seien, liege die Vermutung nahe, daß die Bescheinigungen bewußt unklar gehalten gewesen seien.
Mit seiner Rechtsbeschwerde (Rb.) wehrt sich der Bf. gegen die Berichtigung der ursprünglichen Bescheide. Er ist nach wie vor der Auffassung, daß die Berichtigung unzulässig sei. Dem Finanzamt sei, so macht er geltend, nicht eine Tatsache unbekannt gewesen, sondern ein Fehler unterlaufen. Wie die Veranlagungen für die den Streitjahren vorangegangenen Jahre zeigten, habe das Finanzamt die Arbeitgeberbeiträge als Sonderausgaben berücksichtigt, obwohl die damals eingereichten Bescheinigungen darauf hingewiesen hätten, daß die Beiträge pauschal versteuert worden seien. Erst bei der Veranlagung für das Jahr 1955, als der für die Veranlagung zuständige Beamte gewechselt habe, sei das Finanzamt zu der Ansicht gekommen, daß die Arbeitgeberbeiträge nicht berücksichtigt werden dürften. Der Vorwurf des Finanzgerichts, daß mit den Bescheinigungen für die Streitjahre der feste Eindruck der Abzugsfähigkeit der Beiträge habe erweckt werden sollen, sei ebensowenig gerechtfertigt wie die Annahme, daß der Ansatz der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung der Irreführung gedient habe.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist im Streitpunkt nicht begründet.
Das angefochtene Urteil ist mit Recht davon ausgegangen, daß Arbeitgeberbeiträge für die Zukunftssicherung des Arbeitnehmers von diesem dann nicht als Sonderausgaben geltend gemacht werden können, wenn sie nicht unter Zurechnung zum Arbeitslohn von dem Arbeitnehmer selbst, sondern lediglich zu Lasten des Arbeitgebers pauschal versteuert wurden (vgl. das Urteil des erkennenden Senats VI 104/56 U vom 28. März 1958, Bundessteuerblatt - BStBl - 1958 III S. 267, Slg. Bd. 66 S. 696). Die dies nicht berücksichtigenden ursprünglichen Steuerbescheide für die Jahre 1952, 1953 und 1954 sind mithin insoweit unrichtig, als sie die für die Zukunftssicherung des Bf. geleisteten Arbeitgeberbeiträge als Sonderausgaben berücksichtigt haben.
Wie das angefochtene Urteil zutreffend festgestellt hat, sind die Voraussetzungen für die Berichtigung der Bescheide gegeben. Daß die Arbeitgeberbeiträge, um die es hier geht, nicht von dem Bf., sondern pauschal von dem Arbeitgeber versteuert wurden, ist von dem Finanzgericht ohne Rechtsirrtum als neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) angesehen worden.
Aus den Akten des Finanzamts über die Einkommensteuer des Bf. geht zwar für die Jahre 1950 und 1951 hervor, daß die Arbeitgeberbeiträge in diesen Jahren pauschal bei dem Arbeitgeber versteuert worden sind. Die von dem Bf. zusammen mit seinen Einkommensteuererklärungen eingereichten Arbeitgeberbescheinigungen weisen auf die pauschale Versteuerung ausdrücklich hin. Hieraus kann aber, wie das Finanzgericht mit Recht ausgeführt hat, nicht gefolgert werden, daß dem Finanzamt auch die pauschale Versteuerung der Jahre 1952, 1953 und 1954 bekannt gewesen sei. Daß die pauschale Versteuerung in dem einen Jahr durchgeführt worden ist, besagt nicht, daß sie auch in einem anderen Jahr durchgeführt worden sei.
Mit Recht hat das Finanzgericht es in dem hier zu beurteilenden Zusammenhang als entscheidend angesehen, daß die Einkommensteuererklärungen des Bf. für die Jahre 1952, 1953 und 1954 die Tatsache der pauschalen Versteuerung nicht erkennen lassen, weil die ihnen beigefügten Arbeitgeberbescheinigungen den Hinweis auf die pauschale Versteuerung nicht mehr enthalten. Zuzugeben ist zwar, daß eine Rückfrage bei dem Bf. oder dessen Arbeitgeber wie im Jahre 1955 auch für die Streitjahre zur Aufdeckung der Tatsache der pauschalen Versteuerung geführt hätte. Es fragt sich aber, ob und inwieweit die Möglichkeit der Aufdeckung dazu führen kann, die tatsächlich nicht aufgedeckte Tatsache als bekannt zu unterstellen.
Für die Veranlagung eines Steuerpflichtigen bietet dessen Steuererklärung regelmäßig die Grundlage. Der Steuerpflichtige hat die Steuererklärung nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 1 AO). Daß die Steuererklärung vollständig und richtig sein muß, versteht sich von selbst. Das Finanzamt hat die Steuererklärung zu prüfen (vgl. §§ 204, 205 AO). Es ist an die Angaben des Steuerpflichtigen nicht gebunden, sondern muß sie auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit hin durchsehen. Diese Anweisung kann aber nicht bedeuten, daß die Finanzämter jede Steuererklärung argwöhnisch bis aufs letzte prüfen müssen. Für den Regelfall kann und muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß die Angaben der Steuererklärung vollständig und richtig sind. Das Finanzamt muß einen Anlaß zur Nachprüfung haben, z. B. weil die Angaben des Steuerpflichtigen unvollständig erscheinen.
Die Frage, welche Bedeutung die Unterlassung einer gebotenen Aufklärung für das Vorliegen einer neuen Tatsache hat, ist von dem Bundesfinanzhof nicht einheitlich beantwortet worden. Nach der Auffassung des V. Senats ist es für das Vorliegen einer neuen Tatsache unerheblich, ob sie bei gehöriger Aufklärung hätte aufgedeckt werden können (vgl. das Urteil V 198/56 U vom 6. Dezember 1956, BStBl 1957 III S. 61, Slg. Bd. 64 S. 162). Nach Ansicht des III. Senats kann dagegen eine Tatsache dann nicht als neu angesehen werden, wenn das Finanzamt die Tatsache beim Erlaß des Bescheids zwar nicht kannte, aber bei einwandfreier Bearbeitung des Falles hätte kennen müssen (Urteil III 383/57 U vom 23. Mai 1958, BStBl 1958 III S. 326). Dies ist auch die Auffassung des IV. Senats, nach der eine Tatsache dann als bekannt gilt, wenn das Finanzamt bei ausreichender Erfüllung der amtlichen Ermittlungspflicht davon Kenntnis hätte erlangen können, z. B. wenn das Finanzamt trotz ersichtlicher Unwahrheiten auf weitere Ermittlungen verzichtete (Urteil IV 143/56 U vom 10. Juli 1958, BStBl 1958 III S. 365).
Die Frage nach der Bedeutung einer nicht ordnungsmäßigen Aufklärung für das Vorliegen einer neuen Tatsache berührt den Widerstreit der Grundsätze der Richtigkeit der Besteuerung einerseits und den der Rechtssicherheit andererseits. Wie aus der Regelung der AO hervorgeht (insbesondere §§ 93, 94, 218, 222 und 223 AO), ist der Grundsatz der Rechtssicherheit zwar anerkannt, aber doch weitgehend zugunsten des Grundsatzes der Richtigkeit der Besteuerung durchbrochen. Diese Durchbrechung beruht auf dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Die Beachtung des dem verfassungsmäßig garantierten Grundsatz der Gleichbehandlung (Art. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland - GG -) entsprechenden Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung ist nicht zuletzt deswegen von besonderer Bedeutung, weil sich jeder Vorteil, der einem Steuerpflichtigen durch eine zu niedrige Erfassung erwächst, zu Lasten der Allgemeinheit auswirkt. Mag dies auch für die richtig erfaßten Steuerpflichtigen nicht oder wenigstens nicht unmittelbar zu einer Mehrbelastung führen, so erscheint doch die mit jeder Besteuerung verbundene Belastung nur unter der Voraussetzung tragbar, daß jeder in gleicher Weise herangezogen wird. Dem trägt das Steuerrecht durch die, wie erwähnt, weitgehende Durchbrechung des Grundsatzes der Rechtssicherheit zugunsten des Grundsatzes der (materiellen) Richtigkeit der Besteuerung Rechnung.
Der Bedeutung der Grundsätze der Richtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung würde es nach der Auffassung des Senats nicht gerecht, wenn man die dem Verfahrensrecht angehörenden Vorschriften, die mit der Durchbrechung der Bindung an den einmal erteilten Bescheid der Verwirklichung jener Grundsätze dienen, allzu eng auslegte. Der Senat ist zwar der Ansicht, daß sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben im Einzelfall ergeben kann, daß das Finanzamt eine von ihm in Verletzung seiner Ermittlungspflicht nicht aufgedeckte Tatsache als bekannt gegen sich gelten lassen muß. Dies setzt aber mindestens eine einwandfreie Erfüllung auch der Steuererklärungspflicht voraus. Ein Steuerpflichtiger, der seine Erklärung unrichtig oder unvollständig abgegeben hat, kann sich nicht darauf berufen, daß das Finanzamt seine Pflicht zur Prüfung versäumt habe. Die Veranlagung gerade der Einkommensteuer beruht auf einer weitgehenden Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen, auf einem Zusammenwirken zwischen diesem und dem Finanzamt. Nur der Steuerpflichtige, der dieser seiner Mitwirkungspflicht nachgekommen ist, kann sich darauf berufen, daß das Finanzamt seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen sei, wie auch das Urteil des Bundesfinanzhofs III 383/57 U a. a. O. zutreffend bemerkt.
Das Finanzgericht ist danach mit Recht davon ausgegangen, daß sich der Bf. auf mangelnde Aufklärung durch das Finanzamt dann nicht berufen könne, wenn er selbst unvollständige Angaben gemacht hat. Ob dies der Fall ist, ist eine Frage der Tatsachenwürdigung. Wenn das Finanzgericht hier zu dem Ergebnis gekommen ist, daß der Bf. irreführende unvollständige Angaben gemacht habe, so ist der Bundesfinanzhof an diese Feststellung gebunden. Die Ausführungen des Finanzgerichts lassen weder eine Verletzung der Denkgesetze noch einen Verstoß wider den Akteninhalt erkennen. Das Finanzgericht konnte zu seinem Ergebnis kommen; daß es zu dem Ergebnis kommen mußte, ist nicht erforderlich. Ob insbesondere die Angaben - wie das Finanzgericht annimmt, der Bf. aber bestreitet - bewußt irreführend waren, kann dahingestellt bleiben. Es genügt, daß sie unvollständig waren. Ob der Steuerpflichtige seine Pflichten bewußt oder unbewußt nicht erfüllt hat, ist für die Frage, ob er dem Finanzamt mangelnde Aufklärung vorwerfen kann, gleichgültig.
Die Berichtigungsveranlagungen bestehen danach zu Recht. Weil die Berichtigung den Veranlagungsfall im vollen Umfange aufrollt, bestehen auch keine Bedenken dagegen, daß das Finanzamt bei der Berichtigungsveranlagung für das Jahr 1954 den vorher übersehenen Ansatz der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung nachgeholt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 409247 |
BStBl III 1959, 86 |
BFHE 1959, 223 |
BFHE 68, 223 |