Entscheidungsstichwort (Thema)
Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO wegen eines beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens
Leitsatz (NV)
Eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO kann geboten sein, wenn vor dem BVerfG bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren anhängig ist, den Finanzgerichten zahlreiche Parallelverfahren (Musterverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klagever fahrens ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, wenn mit der Klage ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge (§ 10 Abs. 3 EStG) geltend gemacht wird (vgl. Senatsbeschluß vom 25. August 1993 X B 32/93, BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797).
Normenkette
FGO § 74; EStG § 10 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden für das Streitjahr 1987 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. In ihrer Einkommensteuererklärung machten sie u. a. Sozial- und Privatversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 13 260 DM als Sonderausgaben sowie Kinderfreibeträge für zwei Söhne geltend. Im Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 6. Juni 1988 berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1987 einen Höchstbetrag für Vorsorgeaufwendungen in Höhe von 7 073 DM und zwei Kinderfreibeträge von je 2 484 DM. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.
Mit der Klage haben die Kläger u. a. beantragt, höhere Kinderfreibeträge und weitere Versicherungsbeiträge in Höhe von 6 187 DM (13 260 DM ./. 7 073 DM) als Sonderausgaben zu berücksichtigen und das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Verfassungsbeschwerde 1 BvR 1220/88 ruhen zu lassen. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage als unbegründet abgewiesen. Die gesetzlichen Vorschriften über die Kinderfreibeträge und die Höchstbeträge von Vorsorgeaufwendungen seien verfassungsgemäß. Das Klageverfahren sei auch nicht im Hinblick auf beim BVerfG anhängige Ver fassungsbeschwerden auszusetzen. Diese hätten unter grundrechtlichen und haushaltswirtschaftlichen Gesichtspunkten keine Aussicht auf Erfolg. Dem FG Rheinland- Pfalz lägen keine Massenverfahren zu den streitbefangenen Abzugsregelungen des EStG vor. Die gegen die Höchstbeträge für Vorsorgeaufwendungen und die Kinderfreibeträge erhobenen Einwände seien "Außenseitermeinungen". Die Prozeßführung des Bevollmächtigten der Kläger bewirke letztlich einen Stillstand der Steuerrechtspflege, bei dem das Einkommensteuerrecht seine Aufgabe, den (Gegenwarts-)Bedarf der öffentlichen Haushalte durch Teilhabe am jeweiligen (Gegenwarts-)Einkommen der Steuerpflichtigen zu decken, nicht mehr erfüllen könne.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision rügen die Kläger Verletzung des § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Sie beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist begründet, weil das FG den Antrag der Kläger auf Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO) zu Unrecht abgelehnt hat. Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Zwar haben die Kläger nur beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und das Verfahren an das FG zurückzuverweisen. Ein Antrag auf Aufhebung des Urteils ist jedoch in der Regel dahin auszulegen, daß eine Entscheidung nach den in der Vorinstanz gestellten Anträgen begehrt wird (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 120 Rdnr. 28, m. w. N.).
2. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist das Klageverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen, wenn vor dem BVerfG ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, den Finanzgerichten zahlreiche Parallelverfahren (Massenverfahren) vorliegen und keiner der Beteiligten des Klageverfahrens ein besonderes berechtiges Interesse an einer Entscheidung des FG über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen Regelung hat (BFH-Beschluß vom 27. November 1992 III B 133/91, BFHE 169, 498, BStBl II 1993, 240, m. w. N.).
Diese Voraussetzung ist im Streitfall erfüllt (vgl. Beschluß vom 10. November 1993 X B 41/93, BFH/NV 1994, 568; Urteil vom 23. November 1994 X R 159/93, BFH/NV 1995, 794). Vor dem BVerfG sind Ver fassungsbeschwerden anhängig, die sich gegen die beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen richten. Den Finanzgerichten liegen nach Kenntnis des Senats eine Vielzahl gleichartiger Fälle zur Entscheidung vor. Unerheblich ist, daß -- möglicherweise -- bei dem zur Entscheidung berufenen FG nur einige Klagen dieser Art erhoben worden sind. Bei Verfahren, mit denen die Verfassungswidrigkeit der Sonderausgabenhöchstbeträge geltend gemacht wird, handelt es sich um Massenverfahren im Sinne der vorstehend zitierten Rechtsprechung des III. Senats. Die dem BVerfG vorliegenden Verfassungsbeschwerden sind auch nicht offensichtlich aussichtslos. Wegen der Begründung im einzelnen wird auf den Senatsbeschluß vom 25. August 1993 X B 32/93 (BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797) Bezug genommen. Dort ist auch ausgeführt, daß der BFH bei der Frage, ob § 74 FGO anzuwenden ist, sein eigenes Ermessen auszuüben hat und daß er in Fällen wie dem vorliegenden die Aussetzung des Verfahrens für geboten hält (vgl. ferner Senatsbeschlüsse vom 10. November 1993 X B 69/93, BFH/NV 1994, 630, betreffend den Sonderausgabenhöchstbetrag für 1984; vom 9. August 1994 X B 26/94, BFHE 174, 498; BStBl II 1994, 803, unter II. 1.).
Der Fall, daß die Einkommensteuer hinsichtlich der verfassungsrechtlich umstrittenen Besteuerungsgrundlagen vorläufig festgesetzt und die Klage deswegen grundsätzlich unzulässig ist, liegt hier nicht vor; in dieser Hinsicht hatte der Senat im Beschluß in BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803 eine andere verfahrensrechtliche Situation zu beurteilen.
3. Im Hinblick auf diesen Verfahrensverstoß war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen. Dieses wird das Verfahren bis zur Entscheidung des BVerfG über die anhängigen Verfassungsbeschwerden (vgl. hierzu Senatsbeschluß in BFHE 171, 412, 415, BStBl II 1993, 797) aussetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 421706 |
BFH/NV 1997, 254 |