Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung einer Klageschrift
Leitsatz (NV)
1. Eine Klageschrift, die das FG als isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung ausgelegt hat, kann vom BFH als gegen die Höhe der Einkommensteuer gerichtete Anfechtungsklage gewürdigt werden, denn eine Bindung des Revisionsgerichts an die erstinstanzliche Beurteilung von Prozeßerklärungen besteht nicht.
2. Die Zulässigkeit einer im Jahr 1993 vom FG entschiedenen Klage richtet sich nicht nach §65 Abs. 1 Satz 1 FGO in der ab 1. 1. 1993 geltenden Fassung, wenn sie sich gegen einen vor dem 1. 1. 1993 erlassenen Verwaltungsakt richtet.
Normenkette
FGO §§ 47, 65 Abs. 1; FGOÄndG vom 21. 12. 1992 Art. 1 Nr. 11; FGOÄndG vom 21. 12. 1992 Art. 7; FGOÄndG vom 21. 12. 1992 Art. 9
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erhob gegen die Einkommensteuerbescheide 1986 und 1987 Einsprüche, die der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) mit getrennten Einspruchsentscheidungen vom 16. März 1992 teilweise zurückwies. Mit den Klageschriften legte der Kläger Klage "wegen Einkommensteuer 1986" bzw. "wegen Einkommensteuer 1987" ein. Daran anschließend hatten die Klageschriften folgenden Wortlaut: "nehme ich zu dem Schreiben des Senats/des Beklagten vom ... (keine Datumsangabe) ... Stellung bzw. trage ich ergänzend folgendes vor: Ich beabsichtige, in der mündlichen Verhandlung folgenden zusätzlichen Antrag zu stellen: Die Einspruchsentscheidung ist aufzuheben." Zur Begründung führte der Kläger aus, die Einkommensteuern hätten durch die Einspruchsentscheidungen nicht vorläufig gemäß §165 der Abgabenordnung (AO 1977) festgesetzt werden dürfen.
In der mündlichen Verhandlung wiederholte der Kläger die Anträge auf Aufhebung der Einspruchsentscheidungen. Ferner beantragte er "hilfsweise", die Einkommensteuern aus einer Reihe von näher aufgeführten Gründen herabzusetzen.
Die Klagen hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) wies die Anträge auf Aufhebung der Einspruchsentscheidungen als unbegründet ab. Die "Hilfsanträge" hielt es dagegen für unzulässig. Die Klagen seien als isolierte Anfechtungsklagen nur gegen die Einspruchsentscheidungen gerichtet gewesen. Die erstmals nach Ablauf der Klagefrist gestellten Anträge auf Herabsetzung der Einkommensteuern seien daher Klageänderungen. Diese seien nicht zulässig, denn weder habe das FA zugestimmt noch seien sie sachdienlich i. S. des §67 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Mit den Revisionen macht der Kläger geltend, die Abweisungen der Anträge auf Herabsetzung der Einkommensteuern als unzulässig sei verfahrensfehlerhaft. Seine Klageschriften könnten nicht als isolierte Anfechtungen der Einspruchsentscheidungen verstanden werden. Die Klagen seien gegen die Steuerbescheide 1986 und 1987 gerichtete Anfechtungsklagen, bei denen es auch nach Ablauf der Klagefrist zulässig sei, klageerweiternde Anträge zu stellen.
Der Kläger beantragt, die erstinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Verfahren zur anderweitigen Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revisionen als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revisionsverfahren VIII R 7/96 wegen Einkommensteuer 1986 und VIII R 8/96 wegen Einkommensteuer 1987 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden ( §73 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Die Revisionen sind begründet. Sie führen zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen und zur Zurückverweisung der Sachen an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung ( §126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, daß die Klageschriftsätze jeweils nur Klagen gegen die Einspruchsentscheidungen und nicht auch gegen die diesen zugrundeliegenden Steuerbescheide enthielten. Die angefochtenen Entscheidungen sind aufzuheben, da sie aufgrund der unzutreffenden Beurteilung der Klagen das tatsächliche Klagebegehren, das auf Herabsetzung der Einkommensteuer gerichtet war, sachlich nicht entschieden haben.
1. Der Bundesfinanzhof (BFH) ist als Revisionsgericht bei der Beurteilung von Prozeßerklärungen nicht an die Auffassung der Tatsacheninstanz gebunden (BFH-Urteile vom 20. Juni 1984 I R 22/80, BFHE 142, 32, BStBl II 1985, 5, und vom 10. März 1988 IV R 218/85, BFHE 153, 195, BStBl II 1988, 731). Im Streitfall können die innerhalb der Monatsfrist des §47 Abs. 1 FGO eingegangenen Klageschriften nicht als isolierte Anfechtungen der Einspruchsentscheidungen verstanden werden. Nach dem Wortlaut der Klagen hat sie der Kläger "wegen Einkommensteuer 1986 bzw. 1987" erhoben, der nachfolgende Sachvortrag sollte ausdrücklich nur "ergänzend" sein. Dies steht der Annahme entgegen, die Klageschriftsätze richteten sich abschließend und endgültig nur gegen die Einspruchsentscheidungen. Vielmehr hat der Kläger mit der Bezeichnung der angefochtenen Einspruchsentscheidungen zugleich auch die zugrundeliegenden Steuerbescheide eindeutig zum Gegenstand der Verfahren benannt (BFH-Urteile vom 19. Mai 1992 VIII R 87/90, BFH/NV 1993, 31, und vom 21. April 1993 XI R 37--54/92, BFH/NV 1994, 45).
Eine Beschränkung der Klagen auf die Einspruchsentscheidungen kann auch nicht aus den Anträgen, die Einspruchsentscheidungen aufzuheben, gefolgert werden. Aus dem Wortlaut der Klageschriftsätze ergibt sich unmißverständlich, daß diese Anträge "zusätzlich" beabsichtigt waren, also nicht die alleinigen Anträge sein sollten. Des weiteren hat sich der Kläger mit der Formulierung "ich beabsichtige, in der mündlichen Verhandlung ... zu beantragen", Antragsänderungen ausdrücklich vorbehalten (vgl. hierzu BFH-Beschluß vom 25. August 1993 X B 32/93, BFHE 171, 412, BStBl II 1993, 797). Aus diesen Gründen waren die erst in der mündlichen Verhandlung gestellten Anträge nicht als Klageänderungen, sondern als auch noch nach Ablauf der Klagefrist zulässige Klageerweiterungen anzusehen (BFH-Beschluß vom 23. Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327).
2. Der vorstehenden Beurteilung steht die Neufassung des §65 Abs. 1 Satz 1 FGO durch Art. 1 Nr. 11 des Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze (FGO-Änderungsgesetz vom 21. Dezember 1992, BGBl I 1992, 2109, BStBl I 1993, 90) nicht entgegen. Nach der ab 1. Januar 1993 geltenden Gesetzesfassung (Art. 9 FGO-Änderungsgesetz) muß eine Anfechtungsklage sowohl den Verwaltungsakt als auch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen. Hieraus wird in der Rechtsprechung der Finanzgerichte vereinzelt der Schluß gezogen, die Rechtslage habe sich geändert und die bloße Angabe der Einspruchsentscheidung könne abweichend von den BFH-Urteilen in BFH/NV 1993, 31 und BFH/NV 1994, 45 zur Bezeichnung des angefochtenen Steuerbescheids nicht mehr genügen (z. B. FG Hamburg, Urteil vom 4. Oktober 1995 V 186/93, Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1996, 147, m. w. N.; ablehnend Stöcker in Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, §65 FGO Rz. 86, und Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §65 Anm. 1). Indes kommt es im Streitfall hierauf nicht an, denn keinesfalls kann die Neufassung des Gesetzes rückwirkend auf die bereits im Jahr 1992 erhobenen Klagen angewendet werden. Die gegenteilige Ansicht des FG Rheinland-Pfalz im Urteil vom 18. November 1993 5 K 2037/92 (EFG 1994, 360) widerspricht dem klaren und eindeutigen Wortlaut von Art. 7 Satz 1 FGO-Änderungsgesetz. Nach der Vorschrift richtet sich die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen gegen vor dem 1. Januar 1993 bekanntgegebene Verwaltungsakte nach den bis dahin geltenden Vorschriften.
3. Da die Revisionen bereits wegen der Abweisung der Anträge als unzulässig begründet sind, kommt es nicht mehr darauf an, ob die übrigen geltend gemachten Verfahrensfehler gegeben sind.
4. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da das FG die hierfür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen hat. Die Sache muß deshalb an das FG zurückverwiesen werden, das nunmehr über das Klagebegehren sachlich zu entscheiden hat.
Fundstellen
Haufe-Index 422396 |
BFH/NV 1998, 1099 |
HFR 1998, 657 |