Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung -- keine Nachfrage beim Mandanten notwendig
Leitsatz (NV)
1. Die Anforderungen an die Sorgfalt, mit der einer Versäumung der Klagefrist vorzubeugen ist, sind bei einem Steuerberater die gleichen wie bei Rechtsanwälten.
2. Es gehört nicht zu der erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt, grundsätzlich bei Schweigen des vom Ergehen einer Entscheidung ausreichend unterrichteten Mandanten Nachfrage zu halten, ob ein Rechtsbehelf eingelegt werden soll.
3. Das gilt auch dann, wenn das Mandat vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist gekündigt worden ist.
4. Es gehört nicht zu den Sorgfaltspflichten bei Übernahme eines Mandats zur Beratung und Vertretung in Steuersachen, sich ohne konkreten Anlaß bei dem bisherigen Bevollmächtigten oder dem Finanzamt nach etwaigen Entscheidungen zu erkundigen, bei denen noch Rechtsbehelfsfristen laufen.
Normenkette
FGO § 56 Abs. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) möchte erreichen, daß ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die versäumte Klagefrist gewährt und bei der Einkommensteuerveranlagung die ... angewandt wird.
Die gegen die Einkommensteuerbescheide 1983 und 1984 erhobenen Einsprüche sind durch Einspruchsentscheidungen vom 16. März 1988 zurückgewiesen worden. Diese sind der damaligen Verfahrensbevollmächtigten des Klägers A am 13. April 1988 zugestellt worden. Mit Schreiben vom 6. Mai 1988 unterrichtete der Kläger den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Finanzamt -- FA --) darüber, daß er mit der künftigen Wahrnehmung seiner steuerlichen Angelegenheiten den Steuerberater B beauftragt habe. B erhob jedoch erst am 19. Mai 1988 bei dem Finanzgericht (FG) Klage.
Wegen der versäumten Klagefrist beantragte der Kläger in den Klageschrift Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und trug dazu vor: A habe die Einspruchsentscheidungen noch am Zustellungstag an die Privatanschrift des Klägers abgesandt. Diese Postsendung sei jedoch erst am 17. Mai 1988 bei der Firma des Klägers eingegangen, die von seiner Wohnung nur wenige Meter entfernt sei; dort werde von dem Postboten stets unabhängig von der Adressierung sämtliche für den Kläger bestimmte Post abgegeben. Es sei daher davon auszugehen, daß ihm durch ein Postversehen die am 13. April 1988 abgesandte Sendung erst am 17. Mai 1988 zugegangen sei.
Zur Glaubhaftmachung seines Vorbringens legte der Kläger ein am 13. April gestempeltes Kuvert einer als Päckchen von A aufgegebenen, an die Privatanschrift des Klägers und seiner Ehefrau adressierten Sendung und eine Erklärung einer in seiner Firma beschäftigten Angestellten gegenüber B vor, daß die Einspruchsentscheidungen erst am 17. Mai 1988 als Päckchen mit der übrigen Post eingegangen seien.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Es führte aus, Wiedereinsetzung in die versäumte Klagefrist sei nicht zu gewähren, weil dem Kläger ein Verschulden seiner Bevollmächtigten zuzurechnen sei. Der angebliche Zugang der Einspruchsentscheidungen erst am 17. Mai 1988 sei für die verspätete Klageerhebung nicht maßgeblich. Der Kläger habe nicht vorgetragen, welche Maßnahmen die damalige Bevollmächtigte getroffen habe, um die Rechtsbehelfsfrist zu überwachen. Selbst wenn die Einspruchsentscheidungen weitergeleitet worden seien, habe dies A nicht davon entbunden, die Überwachung der Rechtsbehelfsfrist sicherzustellen und den Mandanten angemessene Zeit vor ihrem Ablauf an die Frist zu erinnern. Das müsse um so mehr gelten, wenn nach Zustellung der Einspruchsentscheidung das Mandat auf einen neuen Berater übergegangen sei. Bei entsprechender Fristenkontrolle und -überwachung hätte eine Fristversäumung verhindert werden können, selbst wenn man unterstelle, daß eine Verzögerung im Postverkehr eingetreten sei.
Gegen dieses Urteil richtet sich die von dem Senat zugelassene Revision des Klägers.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die von dem FA während des Revisionsverfahrens geänderten Einkommensteuerbescheide sind vom Kläger zum Gegenstand des Verfahrens gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Das Urteil des FG verletzt Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FG hat dem Kläger rechtsfehlerhaft Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 Abs. 1 FGO versagt. Seine Auffassung, die ursprüngliche Verfahrensbevollmächtigte des Klägers habe sich nicht damit begnügen dürfen, die ihr zugestellten Einspruchsentscheidungen an den Kläger weiterzuleiten, sondern sie habe den Kläger darüber hinaus noch einmal an die Klagefrist erinnern müssen, überspannt die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines Verfahrensbevollmächtigten.
1. War jemand ohne Verschulden verhindert, die Klagefrist einzuhalten, so ist ihm nach § 56 Abs. 1 FGO auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ein Verschulden im Sinne dieser Vorschrift liegt nur dann vor, wenn ein Beteiligter diejenige Sorgfalt außer acht gelassen hat, die für einen gewissenhaften Beteiligten nach den Umständen des Einzelfalles geboten und zumutbar ist (vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 3. August 1978 VI R 171/75 BFHE 125, 493, BStBl II 1978, 667, und den Beschluß des Senats vom 10. August 1988 III R 221/84, BFH/NV 1989, 787). Ein Verschulden seines Bevollmächtigten muß sich der Beteiligte gemäß § 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) wie eigenes zurechnen lassen.
a) Für die Bestimmung der von einem Steuerberater zur Wahrung der Klagefrist aufzuwendenden Sorgfalt können die von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) entwickelten Anforderungen an die Sorgfaltspflichten eines Anwalts bei Rechtsmittelfristen herangezogen werden (vgl. u. a. BFH-Urteile vom 27. Februar 1986 IV R 72/85, BFHE 146, 213, BStBl II 1986, 547, und vom 11. März 1988 V R 49/86, BFHE 152, 423, BStBl II 1988, 546). Denn die Prozeßvertretung durch Rechtsanwälte und die Beratung durch Steuerberater sind zivilrechtlich demselben Vertragstypus zuzuordnen (BFH-Urteil in BFHE 146, 206, 213, BStBl II 1986, 547). Die Risiken, eine Rechtsbehelfsfrist zu versäumen, sind in beiden Fällen im wesentlichen die gleichen, so daß es gerechtfertigt ist, die gleichen Anforderungen an die Sorgfalt zu stellen, mit der einer solchen Fristversäumung vorzubeugen ist.
b) Die Sorgfaltspflichten eines Rechtsanwalts oder Steuerberaters verlangen grundsätzlich, den Mandanten vom Inhalt einer gegen ihn ergangenen Entscheidung sowie über die Möglichkeiten, gegen sie Rechtsbehelfe zu ergreifen, und die dabei einzuhaltenden Fristen so rechtzeitig zu unterrichten, daß er ausreichend Zeit hat, sich über die Einlegung eines Rechtsbehelfs schlüssig zu werden (vgl. z. B. BGH-Beschlüsse vom 1. Oktober 1992 IX ZB 41/92, Versicherungsrecht -- VersR -- 1993, 630, und vom 5. Mai 1986 II ZR 102/86, VersR 1986, 966). Hat der Rechtsanwalt seine Partei hierüber -- auch nur durch einfachen Brief -- unterrichtet, gehört es jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des BGH nicht zu der erforderlichen und dem Rechtsanwalt zumutbaren Sorgfalt, grundsätzlich bei Schweigen des Mandanten Nachfrage zu halten (BGH-Beschluß vom 13. November 1991 VIII ZB 29/91, VersR 1992, 898; BGH-Entscheidungen vom 30. September 1958 VIII ZR 133/57, VersR 1958, 789; vom 23. Januar 1963 VIII ZB 19/62, VersR 1963, 435; vom 14. November 1984 VIII ZR 180/84, VersR 1985, 90, und in VersR 1986, 966).
Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen bejaht der BGH die Verpflichtung zur Nachfrage. Sie besteht insbesondere dann, wenn der Anwalt konkreten Anlaß zur Sorge haben muß, seine Mitteilung sei verloren gegangen (BGH-Entscheidungen in VersR 1963, 435, und vom 26. September 1985 VII ZB 14/85, VersR 1986, 36), oder wenn ihm der Standpunkt seines Mandanten bekannt ist, unter allen Umständen ein Rechtsmittel einlegen zu wollen (BGH- Entscheidungen vom 16. Oktober 1974 IV ZB 32/74, VersR 1975, 86, und vom 14. Mai 1981 VI ZB 39/80, VersR 1981, 834). Ferner ist eine Pflicht zur Nachfrage dann bejaht worden, wenn der Anwalt sonst nach den Umständen eine Antwort seines Mandanten in jedem Fall erwarten oder mit besonderen Schwierigkeiten bei der Postzustellung rechnen muß (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 23. November 1982 BVerwG 9 C 167.82, BVerwGE 66, 240).
Eine Nachfragepflicht besteht schließlich dann, wenn der Bevollmächtigte eines Beteiligten -- von sich aus oder auf Veranlassung seines Mandanten -- einen anderen Bevollmächtigten mit der Klageerhebung oder der Einlegung eines Rechtsbehelfs beauftragt; denn er muß sich dann vergewissern, daß dieser den Auftrag zu übernehmen bereit und an der Übernahme nicht rechtlich oder tatsächlich gehindert ist (BGH-Entscheidungen vom 31. Mai 1976 VII ZR 332/75, VersR 1976, 939, vom 30. November 1978 III ZR 139/78, VersR 1979, 190, und vom 17. April 1985 IV b ZB 136/84, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1985, 1709). Die Nachfragepflicht entfällt folglich, wenn die Bereitschaft, das Mandat zu übernehmen, den Umständen nach zweifelsfrei ist (BGH-Beschluß vom 19. September 1994 II ZB 7/94, NJW 1994, 3101 m. w. N.) oder wenn der neue Bevollmächtigte die Übernahme des Mandats bereits vor der Auftragserteilung verbindlich zugesagt hat (BGH-Beschluß vom 29. März 1982 II ZB 2/82, VersR 1982, 655). Die Pflicht des bisherigen Bevollmächtigten, den Postzugang bei dem neuen Bevollmächtigten zu kontrollieren, entfällt ferner, wenn der Mandant diesem das Mandat selbst erteilt hat (BFH-Urteil in BFHE 146, 206, 213, BStBl II 1986, 547) oder wenn nach Mandatsübernahme lediglich weitere, für die Fristwahrung notwendige Informationen übersandt werden sollen (BFH-Urteil in BFHE 152, 423, BStBl II 1988, 546).
Diese in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Rechtsgrundsätze gehen mit Recht übereinstimmend davon aus, daß sich die Angehörigen der rechts- und steuerberatenden Berufe -- wie jedermann -- auf den ordnungsgemäßen Postlauf -- auch bei einem einfachen Brief -- verlassen dürfen (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG --, z. B. Beschluß vom 1. Dezember 1982 1 BvR 607/82, BVerfGE 62, 334 m. w. N.; vgl. BGH-Beschluß in VersR 1963, 435).
c) Weitergehende Pflichten, den Zugang einer Information des Mandanten über eine ergangene Entscheidung zu kontrollieren, bestehen auch dann nicht, wenn das Mandat vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist gekündigt worden ist. Die über die Beendigung eines Mandats hinauswirkenden Fürsorgepflichten des bisherigen Bevollmächtigten (vgl. dazu BGH-Beschluß in VersR 1963, 435), der über die Bekanntgabe einer Entscheidung unterrichtet und über die Anfechtungsfrist belehrt hat, gebieten es auch bei einem Bevollmächtigtenwechsel nicht, den Mandanten an den drohenden Ablauf der Rechtsbehelfsfrist zu erinnern und ihn dadurch zusätzlich vor dem Risiko zu schützen, daß er seinem (neuen) Bevollmächtigten den Rechtsbehelfsauftrag nicht rechtzeitig erteilt. Denn dieses Risiko wird durch den Wechsel des Bevollmächtigten während der Rechtsbehelfsfrist nicht wesentlich gesteigert.
Es gehört auch nicht zu den Sorgfaltspflichten bei Übernahme eines Mandats zur Beratung und Vertretung in Steuersachen, sich ohne konkreten Anlaß bei dem bisherigen Bevollmächtigten oder dem Finanzamt nach etwaigen Entscheidungen zu erkundigen, bei denen noch Rechtsbehelfsfristen laufen. Wer in einem laufenden Verfahren ein Mandat übernimmt, muß sich zwar darüber erkundigen, in welcher Lage sich das Verfahren befindet (BGH-Beschluß vom 10. Januar 1973 VI ZR 65/72, VersR 1973, 437). Er kann sich dabei jedoch im all gemeinen auf die Informationen seines Mandanten über den Stand seiner Angelegenheiten verlassen und muß jedenfalls grundsätzlich keine eigenen Nachforschungen anstellen, ob dessen bisheriger Bevollmächtigter es versäumt hat, seinen Mandanten über das Ergehen einer Entscheidung zu unterrichten, oder ob diesen eine solche Information wegen eines Postversehens möglicherweise nicht erreicht hat.
2. Das FG ist von anderen Sorgfaltsanforderungen ausgegangen. Sein Urteil ist aufzuheben. Das FG hat keine tatsächlichen Umstände festgestellt, die A veranlassen müßten, den Zugang der Einspruchsentscheidungen bei dem Kläger zu überwachen, oder die von B verlangten, sich bei A oder dem FA nach dem Stand der Einspruchsverfahren zu erkundigen.
Das Urteil des FG erweist sich auch nicht im Ergebnis aus anderen Gründen als richtig (§ 126 Abs. 4 FGO). A hat zwar möglicherweise insofern gegen ihre Sorgfaltspflichten verstoßen, als sie offenbar den Kläger nicht, wie es die Rechtsprechung grundsätzlich fordert (BFH-Urteil vom 29. Juli 1987 II R 32/85, BFH/NV 1988, 784; BGH-Beschluß in VersR 1993, 630), ausdrücklich über die Bedeutung der Klagefrist und das Fristende belehrt hat. Das steht indes einer Wiedereinsetzung nicht entgegen; denn die fehlende Belehrung wäre für die Versäumung der Klagefrist nicht ursächlich geworden, wenn der Kläger die Einspruchsentscheidungen erst am 17. Mai 1988 erhalten hat.
Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG wird noch zu prüfen und die dafür notwendigen tatsächlichen Feststellungen zu treffen haben, ob A konkreten Anlaß hatte, damit zu rechnen, daß die Postsendung mit den Einspruchsentscheidungen den Kläger nicht rechtzeitig erreichen würde. Das FG hat insbesondere bisher -- von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig -- nicht untersucht, ob der früheren Steuerberaterin des Klägers im Zusammenhang mit der Kündigung ihres Mandats Umstände bekanntgeworden sind, die zu solchen Zweifeln Anlaß geben mußten. Ferner kommt in Betracht, daß Steuerberater B bei Erteilung des Mandats Mitteilungen gemacht worden sind, die ihm konkreten Anlaß zu Nachforschungen wegen des Standes der Einspruchsverfahren bieten mußten. Schließlich wird das FG zu würdigen haben, ob der Vortrag des Klägers zum tatsächlichen Geschehensablauf ausreichend glaubhaft gemacht ist, insbesondere daß die Einspruchsentscheidungen erst am 17. Mai bei ihm eingegangen sind und daß sämtliche für ihn bestimmte Post, auch die an seine Privatadresse adressierte, in seiner Firma abgeliefert wird.
Sollte das FG danach zu dem Schluß gelangen, daß der Kläger unverschuldet an der Wahrung der Klagefrist gehindert war und ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wird es die Streitsache materiell-rechtlich zu beurteilen haben.
Fundstellen
Haufe-Index 421164 |
BFH/NV 1996, 680 |