Leitsatz (amtlich)
Ein Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid kann vor seiner schriftlichen Bekanntgabe nicht wirksam mit einem Rechtsbehelf angefochten werden. Das gilt auch dann, wenn dem Steuerpflichtigen vor der Anfechtung entweder der Lohnsteuer-Erstattungsbetrag überwiesen worden ist oder ihm die Gründe, weshalb seinem Antrag nicht in vollem Umfang entsprochen wurde, mündlich mitgeteilt worden sind.
Normenkette
AO 1977 § 157 Abs. 1, § 355 Abs. 1 S. 1; EStG § 42 Abs. 5
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) machte mit seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1978 u. a. 3 000 DM Unterhaltszahlungen geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) erkannte nur 1 000 DM an. Am 22. März 1979 wurde dem Kläger ein Lohnsteuererstattungsbetrag in Höhe von 351 DM auf seinem Bankkonto gutgeschrieben. Am 9. April 1979 gab das FA den Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid 1978 zur Post. In dem Bescheid ist vermerkt: "Die Abweichung von Ihrem Antrag wurde Ihnen bereits mündlich mitgeteilt."
Mit Schreiben vom 2. April 1979 -- beim FA eingegangen am 4. April 1979 -- legte der Kläger gegen den Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid Einspruch ein. Das FA hat den Einspruch als unzulässig zurückgewiesen, weil der angefochtene Bescheid im Zeitpunkt der Rechtsbehelfseinlegung noch nicht bekanntgegeben gewesen sei.
Das Finanzgericht (FG) hat mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1980, 58 veröffentlichten Urteil die Einspruchsentscheidung aufgehoben und die Sache an das FA zurückverwiesen. Es vertrat die Auffassung, der Einspruch sei wirksam eingelegt worden.
Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung der §§ 122, 124, 157 und 355 der Abgabenordnung (AO 1977) sowie die Verletzung allgemeiner Rechts- und Erfahrungssätze. Ein Rechtsbehelf sei erst dann sinnvoll, nachdem ein wirksamer Verwaltungsakt ergangen sei. Der Erlaß eines Verwaltungsaktes vollziehe sich in zwei Phasen, nämlich der der Entstehung des Verwaltungsaktes und seiner formgerechten Bekanntgabe. Vor der Bekanntgabe könne das FA den Verwaltungsakt beliebig abändern. Der angefochtene Bescheid sei im Zeitpunkt der Einlegung des Einspruchs noch nicht erlassen gewesen, weil er in diesem Zeitpunkt noch nicht zugestellt gewesen sei. Vor seiner Bekanntgabe entfalte ein Verwaltungsakt noch keine Wirkungen gegenüber dem Adressaten. Allein aus der Überweisung des Erstattungsbetrags könne nicht geschlossen werden, daß ein Steuerbescheid erlassen sei. Die erwähnte mündliche Erörterung (damit kann nur die im schriftlichen Bescheid erwähnte Mitteilung der Abweichung von dem gestellten Antrag gemeint sein) sei als Anhörung gemäß § 91 AO 1977 erfolgt. Sie sei möglicherweise von einem nichtzeichnungsberechtigten Mitarbeiter vorgenommen worden. Sachbearbeiter und Sachgebietsleiter hätten sich noch anders entscheiden können. Durch die fehlerhafte Zusendung des Bescheids an die falsche Anschrift des Klägers sei der Bescheid nicht wirksam geworden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
Nach § 42 Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) hat das FA über den Lohnsteuer-Jahresausgleich dem Antragsteller einen Steuerbescheid zu erteilen. Steuerbescheid in diesem Sinne ist der nach § 122 Abs. 1 AO 1977 bekanntgegebene Verwaltungsakt (§ 155 Abs. 1 Satz 2 AO 1977). Nach § 355 Abs. 1 AO 1977 "sind" Rechtsbehelfe gegen einen Verwaltungsakt "innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes einzulegen". Aus dieser Gesetzesformulierung ergibt sich, daß ein vor der Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes eingelegter Rechtsbehelf unzulässig ist. Im Streitfall ist der Einspruch vor Bekanntgabe des Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids für 1978 eingelegt worden. Er war daher unzulässig.
1. Der Senat kann sich der Auffassung des FG (so auch Entscheidungen des FG Düsseldorf vom 29. November 1972 VIII 246/71 G, EFG 1973, 119; FG Hamburg vom 26. August 1974 I 105/74, EFG 1974, 552; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 355 AO 1977 Tz. 2, letzter Abs.; Koch, Abgabenordnung -- AO 1977, 2. Aufl., § 355 Anm. 2) nicht anschließen, daß gegen einen Verwaltungsakt jedenfalls schon dann ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, wenn der Steuerpflichtige von dem Inhalt des Verwaltungsaktes sichere Kenntnis erlangt hat. Für eine solche Auffassung ergibt sich nichts aus § 355 Abs. 1 AO 1977. Denn durch die Verwendung des Wortes "innerhalb" in dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, daß der Sinn und Zweck des § 355 Abs. 1 AO 1977 nicht nur darin besteht, den Steuerpflichtigen zu veranlassen, einen Rechtsbehelf bis zum Ablauf einer bestimmten Frist einzulegen, sondern er wollte auch die Einlegung vor Fristbeginn, also vor Bekanntgabe des Verwaltungsaktes, ausschließen. Hätte der Gesetzgeber nur den erstgenannten Zweck verfolgt, dann hätte er statt des Wortes "innerhalb" das Wort "bis" verwendet. Demzufolge ist in dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 13. Dezember 1973 I R 143/73 (BFHE 112, 107, BStBl II 1974, 433; ebenso v. Wallis in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 355 AO 1977 Anm. 6; Kühn/ Kutter/Hofmann, Abgabenordnung (AO 1977) / Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 355 AO 1977 Bem. 5, und Klein/Orlopp, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 355 Anm. 4) zutreffend entschieden worden, daß Einwendungen gegen einen Verwaltungsakt, die vor seiner Bekanntgabe erhoben werden, nicht als wirksamer Rechtsbehelf angesehen werden können. Das Urteil in BFHE 112, 107, BStBl II 1974, 433 ist zwar nicht zu § 355 AO 1977, sondern zu § 236 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) ergangen. Hinsichtlich der Frage, ob ein Rechtsbehelf auch schon vor Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes eingelegt werden kann, besteht jedoch zwischen beiden Vorschriften kein Unterschied. § 236 Abs. 1 AO bestimmte, daß die Rechtsbehelfe gegen eine Verfügung binnen eines Monats nach Bekanntgabe der Verfügung einzulegen sind. Demzufolge hat auch der I. Senat des BFH in seinem nicht zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 24. August 1981 I R 160/78 die hier vertretene Auffassung auf § 355 AO 1977 angewandt.
Die Nichtzulässigkeit einer Rechtsbehelfseinlegung vor ordnungsgemäßer Bekanntgabe des anzufechtenden Verwaltungsaktes ist auch sinnvoll; denn dadurch wird vermieden, daß entbehrliche Rechtsbehelfe eingelegt werden. Der Steuerpflichtige soll einen Verwaltungsakt in der vorgeschriebenen Bekanntmachungsform -- im Streitfall also schriftlich -- insbesondere auch hinsichtlich der Begründung vor Einlegung des Rechtsbehelfs kennen, um unter Abwägung aller Umstände entscheiden zu können, ob er den Verwaltungsakt anfechten will oder nicht. Eine solche Abwägung ist ihm ohne Kenntnis der Begründung des Verwaltungsaktes in der Regel nicht möglich.
Das Urteil des VIII. Senats des BFH vom 25. Januar 1983 VIII R 54/79 (BFHE 137, 544, BStBl II 1983, 543) steht der hier vertretenen Auffassung nicht entgegen; denn in dem vom VIII. Senat entschiedenen Fall war dem Steuerpflichtigen die Anlage zum Einkommensteuerbescheid 1972 mit Erläuterungen schriftlich bekanntgegeben worden. Der Steuerpflichtige hatte also "ein Schriftstück in der Hand, das als Teil des Einkommensteuerbescheids 1972 angesehen werden konnte" und aus dem er zweifelsfrei erkennen konnte, in welchen Punkten das FA bei der durchgeführten Einkommensteuerveranlagung von der Einkommensteuererklärung abgewichen war. Dem Steuerpflichtigen waren also in dem vom VIII. Senat entschiedenen Fall alle Umstände schriftlich bekanntgegeben worden, die für die Entscheidung über eine Rechtsbehelfseinlegung erforderlich waren.
Gegenüber den hier dargelegten Gründen können die Opportunitäts- und Billigkeitserwägungen des FG, wonach es übertriebener Formalismus wäre, wenn der Kläger nach der förmlichen Bekanntgabe des Bescheids hätte nochmals Einspruch einlegen müssen, nicht durchgreifen.
2. Der Einspruch des Klägers, der am 4. April 1979 beim FA eingegangen ist, ist vor der Bekanntgabe des Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids beim FA eingegangen, weil dieser Bescheid vom FA erst am 9. April 1979 zur Post gegeben worden ist. Der Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid war also am 4. April 1979 noch nicht bekanntgegeben. Dem steht nicht entgegen, daß der Erstattungsbetrag dem Kläger bereits vor dem 4. April 1979 auf seinem Bankkonto gutgeschrieben worden war und daß ihm möglicherweise auch schon vor dem 4. April 1979 die Abweichungen von seinem Antrag mitgeteilt worden waren; denn in beiden Fällen handelt es sich nicht um die Bekanntgabe des Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids. Das ergibt sich aus folgendem: § 42 Abs. 5 EStG ab 1975 verlangt für jeden Lohnsteuer-Jahresausgleich den Erlaß eines Steuerbescheids. Nach § 157 Abs. 1 AO 1977 müssen Steuerbescheide, soweit nichts anderes bestimmt ist, schriftlich erteilt werden. Für den Streitfall ist nichts anderes bestimmt. Schriftliche Steuerbescheide können einem Steuerpflichtigen nicht mündlich bekanntgegeben werden, weil durch eine solche Bekanntgabe dem Erfordernis der Schriftlichkeit nicht genügt wird. Die Bekanntgabe eines Steuerbescheids, der nach § 157 Abs. 1 AO 1977 die festgesetzte Steuer nach Art und Betrag bezeichnen, den Steuerschuldner angeben und eine Rechtsmittelbelehrung enthalten muß, setzt also stets dessen Übergabe, Übersendung oder Zustellung voraus. Weder die Gutschrift des Erstattungsbetrags auf dem Konto des Klägers noch die mündliche Mitteilung an ihn, seinem Antrag sei nicht voll entsprochen worden, erfüllen diese Voraussetzungen.
Fundstellen
Haufe-Index 74668 |
BStBl II 1983, 551 |
BFHE 1983, 154 |