Leitsatz (amtlich)

Bei der Prüfung, ob die Grenze von 7 200 DM nach § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG überschritten ist, sind auch Einkünfte des Kindes aus ererbtem Vermögen zu berücksichtigen, und zwar selbst dann, wenn die Verfügungsbefugnis des Kindes durch eine Testamentsvollstreckung beschränkt ist.

 

Normenkette

EStG § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten haben im Jahre 1968 ihre Töchter A und B, die in diesem Jahr das 19. bzw. 20. Lebensjahr vollendeten, unterhalten und ihnen eine Berufsausbildung gewährt. In diesem Jahr bezogen die Kinder Erträge aus Vermögen (Geld, Bankguthaben, Wertpapiere), das sie von ihren Großeltern geerbt hatten. Allerdings haben die Großeltern bis zum 28. Geburtstag der Kinder Testamentsvollstreckung angeordnet. Erst an diesem Tag soll ihnen ihr Erbteil übergeben werden. Die Testamentsvollstrecker, die im übrigen die Verwaltung nach ihrem eigenen besten Ermessen durchführen sollen, sind angewiesen, unverbrauchte Erträge, die nicht für auf dem Erbteil ruhende Steuern und Lasten zu entrichten sind, dem Kapital zuzuschlagen. Sie sind berechtigt, einem Kinde für besondere Aufwendungen, z. B. für Ausbildung, Heirat, größere Krankheiten usw. schon vor dem 28. Geburtstag Beträge nach ihrem freien Ermessen auszuzahlen. Die Erträge beliefen sich nach Angabe der Testamentsvollstrecker im Streitjahr für A auf 9 948 DM. Davon verblieben nach Abzug von Ausgaben für Testamentsvollstreckervergütung, Steuerberatung, Bankspesen sowie für Vermögensteuern, Erstattung verauslagter Steuern und Lastenausgleich 6 961,10 DM. Für B fielen 10 024 DM an, von denen nach Abzug entsprechender Ausgaben 4 772,80 DM verblieben. Die verbleibenden Beträge wurden in Wertpapieren angelegt. Das FA lehnte bei der Zusammenveranlagung der Eheleute deren Antrag, ihnen für die beiden Kinder Kinderfreibeträge sowie Freibeträge wegen auswärtiger Unterbringung zum Zwecke der Berufsausbildung zu gewähren, mit der Begründung ab, daß die Kinder eigene Einkünfte von mehr als 7 200 DM gehabt hätten.

Die nach erfolglosem Einspruch eingelegte Klage der Eheleute hatte Erfolg. Das FG, dessen Entscheidung in EFG 1972, 239 veröffentlicht ist, war der Auffassung, daß die Kinder im Streitjahr keine Einkünfte und Bezüge i. S. des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG gehabt haben, die zur Bestreitung ihres Unterhalts oder ihrer Berufsausbildung geeignet waren. Es ließ dahingestellt, ob der Begriff der Einkünfte eher i. S. des § 2 Abs. 4 EStG zu verstehen ist, und war jedenfalls der Auffassung, daß sich der Relativsatz auch auf die "Einkünfte" bezieht. Es führte aus, das gelte zumindest insoweit, als die Einkünfte in voller Höhe der Verfügung des Kindes oder seiner Eltern entzogen seien.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 32 EStG 1967. Es ist der Auffassung, daß sich der Relativsatz in § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG (Einkünfte oder Bezüge, "die zur Bestreitung seines Unterhalts oder seiner Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind") nur auf den Begriff Bezüge, nicht aber auf den Begriff Einkünfte beziehe und daß Einkünfte ihrem Wesen nach stets zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung geeignet seien. Den gegenteiligen Ausführungen des BFH in seinem Urteil VI 207/57 U vom 31. Januar 1958 (BFH 66, 277 BStBl III 1958, 108) fehle die Überzeugungskraft, weil es an einer zwingenden Auslegung i. S. der angefochtenen Entscheidung fehle und eine solche der sonst im EStG üblichen und unerläßlichen sorgfältigen Begriffsbildung und Formulierung widersprechen würde. Unabhängig hiervon sei den Kindern niemals die Möglichkeit genommen gewesen, ihre Erträgnisse für ihren Unterhalt und besonders ihre Berufsausbildung zu verwenden. Durch die den Testamentsvollstreckern erteilte Ermächtigung zur Auszahlung von Beträgen für besondere Aufwendungen seien die Erträge für Zwecke der Ausbildung voll verfügbar gewesen. Tatsächlich seien in späteren Veranlagungszeiträumen auch Beträge von monatlich 500 DM gezahlt worden. Das FA hält als Werbungskosten nur die Testamentsvollstreckervergütungen und als Sonderausgaben die Lastenausgleichsbeträge und die Steuerberatungskosten für abzugsfähig.

Die Eheleute tragen demgegenüber u. a. vor, der Wortlaut der §§ 32 und 33a EStG möge mehrdeutig sein, der Sinn des Gesetzes liege eindeutig klar auf der Hand. Der Gesetzgeber habe offenkundig Kinderfreibeträge für Kinder zulassen wollen, die keine oder Einkünfte unter der vom Gesetzgeber gezogenen Grenze haben, die zum Verbrauch bestimmt und geeignet sind. Zu welch unvernünftigen Ergebnissen die "typisierende" Betrachtungsweise des FA führen könne, zeige das Beispiel zweier Kinder, die an einer GmbH beteiligt sind und als Ausschüttung nur den Betrag erhalten, der von ihnen als Vermögensteuer auf den gemeinen Wert der Beteiligungen zu zahlen ist. Obwohl den Kindern im Beispielsfalle nichts an "geeigneten" Einkünften verbleibe, sollten nach Auffassung des FA den Eltern keine Kinderfreibeträge zustehen, weil nach dem Wortlaut des Gesetzes angeblich zum Unterhalt "bestimmte und geeignete Einkünfte" vorhanden sind. Der Widersinn der Rechtsauffassung des FA sei offenkundig. Das Beispiel zeige, daß, wenn der Wortlaut des EStG zu Zweifeln Anlaß geben sollte, lediglich eine möglicherweise den Wortlaut vernachlässigende Auslegung nach dem Sinn des Gesetzes eingreifen müsse, die nur dahin führen könne, daß der Gesetzgeber "zum Verbrauch bestimmte und geeignete Einkünfte" gemeint habe.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Revision des FA ist begründet.

Zur Auslegung des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG hat der Senat in der Entscheidung VI R 257/71 vom 8. November 1972 (BStBl II 1973, 143) grundsätzlich Stellung genommen. Er hat dort ausgeführt, daß bei der Ermittlung der Grenze von 7 200 DM alle Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 4 EStG zu berücksichtigen sind und daß die Eignung zur Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung nur bei "Bezügen" zu prüfen ist, d. h. bei nicht bereits im Rahmen der steuerlichen Einkunftsermittlung berücksichtigten Einnahmen. Der Senat ist zu dem Ergebnis gelangt, daß es der Anrechnung von steuerpflichtigen Einkünften nicht entgegensteht, wenn sie für das Kind nicht oder noch nicht verfügbar sind oder wenn sie vom Kinde zwangsläufig für bestimmte Aufwendungen (z. B. Einkommensteuerzahlungen) verwendet werden müssen. Ebensowenig können Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen abgezogen werden, weil derartige Aufwendungen nach der Systematik des EStG bei der Ermittlung der Einkünfte auch nicht berücksichtigungsfähig sind.

Nach diesen Grundsätzen steht im Streitfall auch eine etwa von den Großeltern im Testament verfügte Verfügungsbeschränkung der beiden Kinder hinsichtlich des ererbten Vermögens und der Erträge daraus einer Berücksichtigung der Erträge bei der Prüfung, ob die 7 200-DM-Grenze überschritten ist, nicht entgegen. Es kann deshalb die zwischen den Beteiligten strittige Frage, ob das Testament eine solche Beschränkung tatsächlich enthält, dahingestellt bleiben. Der Auffassung der Kläger, daß ein solches Ergebnis offensichtlich widersinnig sei, vermag der Senat nicht zu folgen. Der Streitfall und auch das von den Klägern angeführte Beispiel zeigen deutlich, daß bei bestehenden Verfügungsbeschränkungen jedenfalls das Vermögen der Kinder vermehrt wird. Es ist aber gerade, wie der Senat in der Entscheidung VI R 257/71 (a. a. O.) betont hat, der Zweck der Regelung des § 32 Abs. 2 Nr. 2 letzter Satz EStG, bei erheblichen eigenen Einkünften des Kindes die Gewährung des Kinderfreibetrages auszuschließen, auch wenn die Einkünfte zur Vermögensmehrung verwendet werden. Da die Vorinstanz dies verkannt hat, war das FG-Urteil aufzuheben.

Die Sache ist entscheidungsreif.

Bei der steuerlichen Einkunftsermittlung sind nach § 2 Abs. 4 Nr. 2 EStG von den Einnahmen, im Streitfall also den Vermögenserträgen (vgl. § 20 EStG), die Werbungskosten abzuziehen. Zwar hat das FG die Einkünfte der Kinder aus Kapitalvermögen nicht selbst ermittelt. Seine Feststellungen reichen aber aus, um diese Ermittlung vorzunehmen. Von den Ausgaben, die die Testamentsvollstrecker von den Vermögensträgern zur Ermittlung der von ihnen in Wertpapieren anzulegenden verbleibenden Beträge abgesetzt haben, sind die Ausgaben für Vermögensteuern, für die Erstattung verauslagter Steuern und für Lastenausgleich eindeutig keine Werbungskosten. Diese Beträge können daher bei der Einkunftsermittlung nicht abgesetzt werden. Ob die verbleibenden Ausgaben für Testamentsvollstreckung, Steuerberatung und Bankspesen voll Werbungskosten sind, kann jedenfalls für Teile dieser Beträge zweifelhaft sein. Jedoch braucht das im einzelnen nicht geprüft zu werden. Auch wenn diese Beträge voll als Werbungskosten angesetzt würden, ergeben sich für das Kind A Einkünfte aus Kapitalvermögen in Höhe von (9 948 DM ./. 468 DM + 137 DM + 122 DM =) 9 221 DM, für das Kind B von (10 024 DM ./. 468 DM + 246 DM + 114 DM =) 9 196 DM, die die Grenze von 7 200 DM überschreiten. Die Klage war daher abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70276

BStBl II 1973, 145

BFHE 1973, 441

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