Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
Eine Entscheidung, die sich auf einen im Verlauf des gesamten Verfahrens nicht angesprochenen rechtlichen Gesichtspunkt stützt, verletzt den Anspruch des betroffenen Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 96 Abs. 2, § 155; ZPO § 278 Abs. 3
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) errichtete auf einem einer Nachbargemeinde (Gemeinde) gehörenden Grundstück u.a. eine Tennishalle mit dazugehörenden Sozialräumen (Umkleideräume, Duschen, WC). Noch vor ihrer Fertigstellung verpachtete er die Tennishalle einschließlich der Einrichtung, den beweglichen Geräten und den Außenanlagen an eine KG, an der er als Kommanditist beteiligt war. Zugleich war er Gesellschafter-Geschäftsführer ihrer persönlich haftenden Gesellschafterin (GmbH). Die KG nahm den Betrieb der Tennishalle mit deren Fertigstellung auf und vermietete sie an Privatpersonen. Danach schloß der Kläger mit der Gemeinde einen Erbbauvertrag über das betreffende Grundstück, in dem er berechtigt wurde, das Erbbaugrundstück mit einer Tennishalle zu bebauen und zu nutzen. Hinsichtlich der Verpachtung, Veräußerung und Belastung des Erbbaurechts unterlag der Kläger Verfügungsbeschränkungen.
In seinen Umsatzsteuererklärungen für die Streitjahre verzichtete der Kläger auf die Steuerbefreiung der Umsätze aus der Verpachtung und machte die angefallenen Vorsteuern geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erkannte die Verpachtung an die KG wegen Gestaltungsmißbrauchs gemäß § 42 der Abgabenordnung (AO 1977) nicht an und ging von einer Endvermietung durch den Kläger an die privaten Benutzer aus. Auch die ablehnende Einspruchsentscheidung des FA wurde ausschließlich auf die Begründung gestützt, daß die Einschaltung der KG als Zwischenmieterin einen Gestaltungsmißbrauch i.S. des § 42 AO 1977 darstelle.
Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, der Pachtvertrag mit der KG sei wegen fehlender Zustimmung der Gemeinde als Eigentümerin der Pachtgegenstände schwebend unwirksam und somit steuerlich unbeachtlich. Der Pachtvertrag sei auch nicht durch den späteren Abschluß des Erbbauvertrages mit der Gemeinde wirksam geworden, denn deren nach dem Vertrag erforderliche Zustimmung zur Verpachtung sei bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung und damit dem für den Senat maßgebenden Zeitpunkt nicht erteilt worden. Zwar seien auch zivilrechtlich unwirksame Verträge nach § 41 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 der Besteuerung zugrundezulegen, soweit die Beteiligten das wirtschaftliche Ergebnis des Rechtsgeschäfts gleichwohl tatsächlich vollzögen. Im Streitfall sei die Verpachtung aber aus verschiedenen Gründen weder vom Kläger noch der KG im erforderlichen Maße vollzogen worden. Der Kläger sei daher umsatzsteuerlich so zu behandeln, als ob er statt der KG die Vermietungsleistungen unmittelbar an die Endmieter erbracht hätte. Die vom Kläger angeführten Gründe für die von ihm gewählte zivilrechtliche Gestaltung könnten die zivilrechtlichen Fehler der vom Kläger abgeschlossenen Verträge nicht beseitigen. Der Senat brauche auch nicht darauf einzugehen, ob ein Mißbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten vorliege.
Im Tatbestand des vorinstanzlichen Urteils sind als klägerischer Vortrag lediglich Ausführungen dazu wiedergegeben, daß es sich bei der Verpachtung nicht um eine Zwischenvermietung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) handele und daher auch die dort aufgestellten Grundsätze der Anwendung des § 42 AO 1977 nicht in Betracht kommen könnten. Auch der dargestellte Vortrag des FA bezieht sich lediglich auf die Frage dieses Gestaltungsmißbrauchs. Wesentliche Zusatzerwägungen ergeben sich auch nicht aus den gewechselten Schriftsätzen, auf die die Vorentscheidung Bezug nimmt. Außerdem wird im Tatbestand auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen. Darin ist eine Erklärung des Prozeßvertreters des Klägers aufgenommen, daß ihm keine Vereinbarungen zwischen diesem und der Gemeinde über diejenigen hinaus bekannt seien, die dem Gericht vorgelegt wurden.
Mit seiner Revision rügt der Kläger Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der Kläger rügt zu Recht Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs.
1. Ein Gericht verletzt seine Verpflichtung, rechtliches Gehör zu gewähren, wenn es seine Entscheidung für die Prozeßbeteiligten unvorhersehbar auf einen rechtlichen Gesichtspunkt stützt, der im bisherigen außergerichtlichen und gerichtlichen Verfahren noch nicht angesprochen worden ist, zu dem sich die Beteiligten nicht geäußert haben, und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens zu einer Äußerung auch keine Veranlassung bestanden hat (BFH-Urteile vom 12. Juli 1972 I R 205/70, BFHE 107, 186, BStBl II 1973, 59; vom 12. Oktober 1977 I R 181/75, BFHE 123, 404, BStBl II 1978, 59; vom 22. Oktober 1986 I R 107/82, BFHE 148, 507, BStBl II 1987, 293; vom 19. September 1990 X R 79/88, BFHE 162, 199, BStBl II 1991, 100). Zwar besteht keine allgemeine Hinweispflicht des FG in dem Sinne, daß es seine spätere rechtliche Beurteilung andeuten müsse. Das Gericht ist auch nicht verpflichtet, die maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkte mit den Beteiligten umfassend zu erörtern und andererseits nicht gehindert, rechtliche Gesichtspunkte, die im bisherigen Verfahren nicht im Vordergrund standen, in der Entscheidung als maßgeblich herauszustellen (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 14. April 1978 2 BvR 238/78, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1, Rechtsspruch 160; BFH-Urteile vom 14. März 1989 I R 105/88, BFHE 157, 72, BStBl II 1989, 741, und vom 31. Juli 1991 VIII R 23/89, BFHE 165, 398, BStBl II 1992, 375). Dennoch muß sichergestellt sein, daß die Beteiligten sich vor Ergehen einer Entscheidung zum gesamten Sachverhalt und allen Rechtsfragen äußern können, also vor Überraschungsentscheidungen bewahrt bleiben (BFH-Urteile vom 20. Juni 1967 II 73/63, BFHE 90, 82, BStBl III 1967, 794, und vom 22. März 1972 II R 121/68, BFHE 105, 515, BStBl II 1972, 637; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 119 Anm. 10a).
2. Im Streitfall hat das FG seine Entscheidung darauf gestützt, daß der Pachtvertrag zwischen dem Kläger und der KG mangels Zustimmung der Gemeinde als Eigentümerin des Pachtgegegenstandes schwebend unwirksam sei. Eine Genehmigung der Gemeinde habe bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegen. Dieser rechtliche Gesichtspunkt ist nach Aktenlage und dem unwidersprochenen Vorbringen des Klägers erstmals in der Urteilsbegründung angesprochen und dort mit den daran anschließenden Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 41 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 zur tragenden Erwägung gemacht worden. Dagegen hat sich die Einspruchsentscheidung des FA und der Vortrag der Beteiligten im Klageverfahren ausschließlich auf die Frage des Gestaltungsmißbrauchs infolge Zwischenvermietung bezogen, die für das FG nicht entscheidungserheblich war. Auch dem Protokoll über die mündliche Verhandlung ist nicht zu entnehmen, daß die Frage der zivilrechtlichen Wirksamkeit des Pachtverhältnisses Gegenstand der Erörterung war. Die dort wiedergegebene Erklärung des Prozeßvertreters des Klägers, daß ihm keine Vereinbarungen zwischen diesem und der Gemeinde über diejenigen hinaus bekannt seien, die dem Gericht vorgelegt worden sind, läßt nicht den Schluß zu, daß die Wirksamkeit des Pachtvertrages und die Bedeutung einer vorherigen Zustimmung der Gemeinde erörtert worden ist oder der Prozeßvertreter darüber hinaus das Vorliegen einer derartigen Zustimmung verneint hat. Eine so zu verstehende entscheidungserhebliche Erklärung hätte das Gericht zudem im Protokoll konkretisieren und inhaltlich in den Tatbestand des Urteils aufnehmen müssen. Die Vorentscheidung stützt sich somit auf rechtliche Gesichtspunkte, die im bisherigen Verfahren nicht erörtert worden sind und nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens vom Kläger auch nicht erörtert zu werden brauchten, da sie erkennbar auch nicht als Eventualerwägungen angesprochen worden sind. Das vorinstanzliche Urteil bedeutet für den Kläger somit eine Überraschungsentscheidung, die seinen Anspruch auf Gehör verletzt. Er hat in der Revisionsbegründung auch im einzelnen dargelegt, was er bei Ergehen entsprechender Hinweise an erheblichen Tatsachen vorgetragen und welche Beweisanträge er gestellt hätte. Damit genügt er gleichzeitig den Erfordernissen an eine erfolgreiche Rüge, das FG habe seine Verpflichtung verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 419650 |
BFH/NV 1994, 391 |