Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Senat stellt - wie bereits in der Entscheidung IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957 (BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132) betont ist - für die Frage, ob die auf eine neue Tatsache entfallende Mehrsteuer im Sinne des § 222 AO gewichtig genug ist, ausschließlich auf die Verhältnisse des jeweiligen Einzelfalles ab. Danach können die Voraussetzungen für eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO auch dann zu verneinen sein, wenn die auf die neue Tatsache entfallende Mehrsteuer über 100 DM betragen würde.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Der Bf. ist Steuerberater. Streitig ist unter anderem die Höhe der von ihm in den Veranlagungszeiträumen 1951 bis 1954 erzielten Gewinne aus selbständiger Arbeit. Er hat für die Veranlagungszeiträume 1953 und 1954 - zutreffend - einen Pauschbetrag von je 1.200 DM nach der für die Veranlagungszeiträume 1953 und 1954 geltenden Verordnung über die Gewährung eines Pauschbetrages für Betriebsausgaben bei Einkünften aus freier Berufstätigkeit vom 22. Oktober 1954 (BGBl 1954 I S. 291 = BStBl 1954 I S. 523) in Anspruch genommen. Außerdem hat er für alle vorgenannten Veranlagungszeiträume - also für 1951 bis 1954 - ohne Einzelnachweis für "kleine Ausgaben" folgende Beträge als Betriebsausgaben in seiner Einnahme-überschuß-Rechnung nach § 4 Abs. 3 EStG berücksichtigt:

1951 --- 900 DM 1952 --- 900 DM 1953 --- 900 DM 1954 --- 627 DM ------ 3.327 DM.

Dieser Betrag gliedert sich nach der Darstellung des Bf. für die Zeit vom 1. Januar 1951 bis 30. Juni 1954 in monatliche Beträge von je 75 DM auf. Der Rest von insgesamt 177 DM entfällt danach in ungleichen Beträgen auf die Monate Juli bis Oktober 1954. Diese geringeren Beträge seien - wie der Bf. ausgeführt hat - durch Urlaub bedingt. Im Hinblick auf "Ausführungen in Fachzeitschriften" sowie infolge eines längeren Krankenhausaufenthalts "Ende 1954; sei ein Spesenabzug für die Monate November und Dezember 1954 überhaupt unterblieben bzw. übersehen worden. Bei den genannten Beträgen handle es sich um "pauschal" geltend gemachte Betriebsausgaben "für Parkgebühren, Telefongespräche von unterwegs usw.".

Dieser Sachverhalt ist dem Finanzamt erstmals durch eine am 18. und 19. März 1957 durchgeführte Betriebsprüfung bekanntgeworden. Der Prüfer setzte die Beträge von je 900 DM bzw. von 627 DM - neben anderen unwesentlichen Beträgen - dem Gewinn der in Betracht kommenden Veranlagungszeiträume hinzu. Für die Veranlagungszeiträume 1953 und 1954 deshalb, weil neben den Pauschbeträgen nach der genannten Verordnung vom 22. Oktober 1954 von je 1.200 DM ein weiterer "Pauschbetrag" nicht berücksichtigt werden könne. Für die Veranlagungszeiträume 1951 und 1952 deshalb, weil es für eine pauschale Berücksichtigung von Betriebsausgaben der genannten Art in diesen Veranlagungszeiträumen an einer Rechtsgrundlage überhaupt fehle, nachdem der für eine solche Berücksichtigung in der Vergangenheit in Betracht kommende § 38 EStDV durch § 1 Ziff. 3 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 der Zweiten Verordnung zur änderung der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung vom 9. Dezember 1950 (BGBl 1950 I S. 781) mit Wirkung vom 1. Januar 1951 aufgehoben worden sei (wegen der Rechtsentwicklung hierzu vgl. die eingehende Darstellung des Senats in der Entscheidung IV 7/57 U vom 22. August 1957, BStBl 1957 III S. 354, Slg. Bd. 65 S. 317).

Das Finanzamt ist dem gefolgt. Es hat die ursprünglichen Veranlagungen für die genannten Veranlagungszeiträume durch einen am 28. August 1957 zur Post gegebenen Sammelbescheid gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO berichtigt, indem es - der Bf. war in allen Veranlagungszeiträumen verheiratet - die bisherige Art der Veranlagung (Zusammenveranlagung) beibehielt. Gegen die Beibehaltung der Zusammenveranlagung bestehen - vorweg bemerkt - keine Bedenken, obwohl ein entsprechender Antrag nach § 26 e EStG 1957 von den Ehegatten - soweit jedenfalls aus den Akten ersichtlich - nicht gestellt worden ist. Die Ehegatten haben sich im gesamten Verfahrensablauf nicht gegen sie gewandt. Sie entspricht offensichtlich ihrem Willen, zumal in Anbetracht geringer Kapitaleinkünfte und nicht unerheblicher Verluste aus Vermietung und Verpachtung.

Das Finanzgericht hat der - nach erfolglosem Einspruch eingelegten - Berufung zum Teil stattgegeben.

Es hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, daß der nach der Verordnung vom 22. Oktober 1954 zu gewährende Pauschbetrag - ebenso wie der nunmehr nach § 18 Abs. 4 EStG 1955 ff. bei der Ermittlung des Einkommens abzusetzende Betrag - als echter Freibetrag einer Berücksichtigung der vom Bf. geltend gemachten Betriebsausgaben nicht entgegenstehe. Es könne auch davon ausgegangen werden, daß diese Betriebsausgaben dem Grunde nach tatsächlich entstanden seien. Bei ihrer mangels Einzelnachweises gebotenen Schätzung könne allerdings dem Bf. hinsichtlich der Höhe nicht gefolgt werden. Es könne nur ein Betrag von monatlich 20 DM bzw. jährlich 240 DM für Parkgebühren und außerhalb geführte Telefongespräche als angemessen angesehen werden. Es bestehe auch kein Anlaß - der Bf. hat einen dahingehenden Antrag erstmals in der Berufungsinstanz gestellt -, den vom Bf. stets selbst mit 30 DM monatlich angesetzten und vom Betriebsprüfer in dieser Höhe anerkannten betrieblichen Aufwand für Licht, Heizung und Wasser höher anzusetzen. Insoweit wird wegen der Einzelheiten auf die vom Bf. mit der Rb. nicht angegriffenen Entscheidungsgründe des Finanzgerichts Bezug genommen.

Im übrigen hat das Finanzgericht die Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO für gegeben erachtet, da sich auch unter Berücksichtigung der vom Finanzamt nicht anerkannten Betriebsausgaben von jährlich 240 DM immer noch für jeden Veranlagungszeitraum eine Mehrsteuer von über 300 DM ergebe. Das sei gewichtig genug im Sinne des Urteils des Bundesfinanzhofs IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957 (BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132).

Nach der änderung der Einspruchsentscheidung und des vom Finanzamt erlassenen Berichtigungsbescheids durch das Finanzgericht ergeben sich folgende Mehrsteuern:

1951 berichtigte Steuer ------- 7.265 DM ursprüngliche Steuer ----- 6.945 DM Mehrsteuer ----------------- 320 DM 1952 berichtigte Steuer ------- 9.815 DM ursprüngliche Steuer ----- 9.465 DM Mehrsteuer ----------------- 350 DM 1953 berichtigte Steuer ------- 6.751 DM ursprüngliche Steuer ----- 6.442 DM Mehrsteuer ----------------- 309 DM 1954 berichtigte Steuer ------- 4.778 DM ursprüngliche Steuer ----- 4.618 DM Mehrsteuer ----------------- 160 DM.Mit der Rb. wendet sich der Bf. gegen die Vorentscheidung in folgenden Punkten:

Das Finanzgericht habe die ihm nach § 243 Abs. 1 AO obliegende Ermittlungspflicht verletzt. Er habe Parkgebühren, Telefongespräche von unterwegs "usw." bzw. "und dergl." geltend gemacht. Diesen letztgenannten Zusatz habe das Finanzgericht außer acht gelassen. Es seien ihm noch andere, im einzelnen nicht nachweisbare Betriebsausgaben entstanden (Straßenbahnfahrten, Kosten für Besprechungen mit Klienten und bei Sitzungen, Anbieten von Zigarren und dgl.). Unter Berücksichtigung dieser Aufwendungen seien die insgesamt pauschal geltend gemachten Betriebsausgaben noch "recht mäßig".

Die sich nach der Berechnung des Finanzgerichts ergebenden Steuermehrbeträge seien nicht gewichtig genug, um Berichtigungsveranlagungen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO zu rechtfertigen.

Das Finanzgericht habe im Urteilsausspruch übersehen, von den festgesetzten Einkommensteuern die jeweils in Betracht kommenden Kapitalertragsteuern abzusetzen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist hinsichtlich des Veranlagungszeitraum 1954 begründet. Der ursprünglich für diesen Veranlagungszeitraum ergangene Einkommensteuerbescheid ist - insoweit unter Aufhebung des Berichtigungsbescheids und der Vorentscheidungen - wiederherzustellen. Im übrigen ist die Rb. mit der Maßgabe als unbegründet zurückzuweisen, daß in Ergänzung des Urteilsausspruchs des Finanzgerichts von den festgesetzten Steuern die jeweils in Betracht kommenden Steuerabzugsbeträge abzusetzen sind.

Zunächst ist dem Finanzgericht darin beizupflichten, daß die für die Veranlagungszeiträume 1953 und 1954 nach der Verordnung vom 22. Oktober 1954 erfolgte Gewährung von Pauschbeträgen einer Berücksichtigung der vom Bf. geltend gemachten Betriebsausgaben nicht entgegensteht. In seiner nicht veröffentlichten Entscheidung IV 36/57 vom 25. Februar 1960 (wiedergegeben in Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK - bei § 18 EStG, Rechtsspruch 138) hat der Senat zu dieser Frage bereits wie folgt Stellung genommen:

"Gemäß § 1 der angeführten VO über die Gewährung eines Pauschbetrages für Betriebsausgaben bei Einkünften aus freier Berufstätigkeit v. 22. 10. 54 werden bei der Ermittlung der Einkünfte aus einer freien Berufstätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Ziff. 1 EStG auf Antrag als Pauschbetrag für die Abgeltung von Betriebsausgaben, die zur Bestreitung des dem Stpfl. entstehenden, durch die freie Berufstätigkeit veranlaßten Aufwandes dienen und die ihrer Natur nach nicht oder nur unvollkommen nachgewiesen werden können, 5 v. H. der Betriebseinnahmen, höchstens jedoch 1.200 DM im Jahre, abgesetzt. Dieser Pauschbetrag wird auch dann gewährt, wenn eine ordnungsmäßige Buchführung vorliegt oder der Gewinn auf Grund von Durchschnitt- oder Richtsätzen ermittelt wird. Aus der Tatsache, daß er auch neben den auf Grund einer ordnungsmäßigen Buchführung bereits erfaßten Betriebsausgaben abzusetzen ist, obwohl doch in dieser der gesamte betriebliche Aufwand zu verbuchen ist, folgt, daß er auch zu gewähren ist, wenn in Wahrheit weitere Betriebsausgaben nicht geleistet sind. Es werden zusätzliche Betriebsausgaben unterstellt, die in dieser Höhe wahrscheinlich nicht vorhanden sind. Das nimmt aber § 1 der genannten VO ausdrücklich in Kauf, offenbar weil es im Einzelfall außerordentlich schwer ist, den durch den Beruf entstandenen Aufwand mit Sicherheit festzustellen, und weil nicht zuverlässig ermittelt werden kann, ob der gesamte Aufwand durch die Buchführung erfaßt ist. Es handelt sich danach für die in Betracht kommenden Stpfl. um die Berücksichtigung eines nicht nachgewiesenen, auch nicht nachweisungsbedürftigen Repräsentationsaufwandes (Blümich-Falk, EStG, 8. Aufl., Anm. 7 c zu § 18, S. 1168), d. h. praktisch um eine Art Freibetrag (vgl. § 18 Abs. 4 EStG 1955)."

Das Finanzgericht hat mit hinreichender Begründung im Rahmen seiner freien überzeugung (ß 278 AO) für gegeben erachtet, daß dem Bf. Betriebsausgaben der geltend gemachten Art erwachsen sind. Seine mangels Einzelnachweises gebotene Schätzung, die von derjenigen des Bf. abweicht, läßt einen Verstoß gegen verfahrensrechtliche Grundsätze nicht erkennen und ist daher für den Senat nach den §§ 288, 296 AO bindend. Das Finanzgericht hat seine Schätzung eingehend und sorgfältig begründet.

Zu den vom Bf. mit der Rb. vorgebrachten Einwendungen ist im übrigen zu bemerken:

Das Finanzgericht hat seine Ermittlungspflicht nicht verletzt. Der Bf. hat stets mit Betonung die Parkgebühren und die genannten Telefongespräche in den Vordergrund gestellt. Das Finanzgericht konnte den formelhaften Zusatz des Bf. dahin verstehen, daß es sich dabei um unwesentliche, im Rahmen einer Schätzung nicht ins Gewicht fallende Beträge handle. Der Bf. ist Steuerberater. Es wäre Sache seiner Mitwirkungspflicht gewesen, weitere Erläuterungen zu geben. Da er das nicht getan hat, können seine sich darauf beziehenden und erstmals mit der Rb. vorgetragenen Ausführungen in dieser Instanz keine Berücksichtigung mehr finden (§§ 288, 296 AO).

Der Senat ist der Auffassung, daß die sich für die Veranlagungszeiträume 1950 bis 1953 ergebenden Steuermehrbeträge im Sinne seines Urteils IV 515/56 U (a. a. O.) sowohl unter absoluter als auch unter relativer Betrachtung - das heißt im Verhältnis zur ursprünglich festgesetzten Steuer - Gewicht genug haben, um eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO zu rechtfertigen. Dagegen ist der Senat der Meinung, daß dies nicht für den Veranlagungszeitraum 1954 zutrifft. Hier beträgt die Mehrsteuer - entgegen der Vorentscheidung - tatsächlich nur 160 DM.

Die Anrechnung der Steuerabzugsbeträge im Sinne des § 47 EStG erfolgt zwar im Erhebungsverfahren und nicht im Festsetzungsverfahren. Gleichwohl hat der Senat in übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs bereits in seiner Entscheidung IV 365/51 U vom 24. Oktober 1951 (BStBl 1952 III S. 146, Slg. Bd. 56 S. 373) Grundsätze dargelegt, nach denen ein berechtigtes Interesse des Bf. anzuerkennen ist, sich im Rechtsmittelverfahren gegen die Steuerfestsetzung auch gegen die Unterlassung der Anrechnung von Steuerabzugsbeträgen zu wenden (vgl. auch: Blümich-Falk, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, 8. Aufl., Anm. 3 zu § 47, S. 1862). Demgemäß war der Urteilsausspruch des Finanzgerichts insoweit zu ergänzen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409972

BStBl III 1961, 216

BFHE 1961, 594

BFHE 72, 594

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