Leitsatz (amtlich)
Ist ein Steuerpflichtiger rechtzeitig zu der vorgesehenen Terminsstunde für eine mündliche Verhandlung im Gerichtsgebäude erschienen und mit Wissen eines hauptamtlichen Richters von einem Angehörigen des Gerichts in den Warteraum verwiesen worden und erfolgt dann der Aufruf der Sache (§ 92 Abs. 2 FGO) in einer Weise, daß er von dem Steuerpflichtigen nicht gehört werden kann, so liegt in der Durchführung der mündlichen Verhandlung ohne ihn eine Versagung des rechtlichen Gehörs.
Normenkette
FGO § 92 Abs. 2, § 119 Nr. 3
Tatbestand
Auf Antrag des Revisionsklägers (Steuerpflichtigen) hatte das FG nach Erlaß eines Vorbescheides gemäß § 90 Abs. 3 FGO mündliche Verhandlung anberaumt. Die Prozeßbevollmächtigte des Steuerpflichtigen war bereits 15 Minuten vor der angesetzten Terminsstunde (um 8.45 Uhr) an Gerichtsstelle erschienen und nach Meldung durch den Geschäftsstellenleiter des zuständigen Senats in den Gerichtssaal geführt worden. Da der Gerichtssaal jedoch zu der Zeit noch gelüftet wurde und der Jahreszeit entsprechend (Januar) kalt war, empfahl der kurz darauf mit Akten den Gerichtssaal betretende Offiziant B der Prozeßbevollmächtigten, in dem geheizten Warteraum Platz zu nehmen; er werde sie vom Aufruf der Sache rechtzeitig verständigen. Außerdem verständigte er nach dem Aktenvermerk der Geschäftsstelle des FG vom 20. November 1967 einen der beiden hauptamtlichen Richter davon, daß die Prozeßbevollmächtigte sich im Warteraum aufhalte und den Aufruf der Sache abwarte. Ein Aufruf der Sache im Warteraum unterblieb jedoch. Auch eine Verständigung der dort wartenden Prozeßbevollmächtigten des Steuerpflichtigen erfolgte nicht.
In der über die mündliche Verhandlung gefertigten Niederschrift heißt es, daß zur Verhandlung "für die Klagepartei niemand" erschienen sei. Die mit dem Vertreter des Revisionsbeklagten (des FA) geführte Verhandlung dauerte von 9.05 bis 9.20 Uhr. Das Urteil (Abweisung der Klage) wurde um 9.25 Uhr durch den Vorsitzenden verkündet.
Nachdem die Prozeßbevollmächtigte bis 9.30 Uhr auf den Aufruf der auf 9.00 Uhr anberaumten Sache gewartet hatte, stellte sie durch einen Blick in den Sitzungssaal fest, daß bereits die auf 9.30 Uhr anberaumte nächste Sache verhandelt wurde. Sie begab sich daraufhin erneut zum Geschäftsstellenleiter des zuständigen Senats, der nach Klärung des Vorgefallenen den Vorsitzenden verständigte. Dieser erklärte, daß infolge der bereits erfolgten Urteilsverkündung eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht mehr möglich sei. In einem Aktenvermerk vom gleichen Tag stellte der Vorsitzende fest, daß er die auf 9.00 Uhr anberaumte Sache um 9.05 Uhr im Gerichtssaal aufgerufen habe; ein Aufruf außerhalb des Gerichtssaals sei nicht erfolgt.
Mit der form- und fristgerecht eingelegten Revision rügt der Steuerpflichtige Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 119 Nr. 3 FGO).
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückweisung der Sache an das FG.
Die Revision ist zulässig, da der Wert des Streitgegenstandes 1 000 DM übersteigt. Sie ist auch begründet, da einer der absoluten Revisionsgründe des § 119 FGO geltend gemacht wird und vorliegt, dessen Vorliegen die gesetzliche, unwiderlegliche Vermutung dafür begründet, daß die angefochtene Entscheidung auf der Verletzung von Bundesrecht beruht. Die Sache war deshalb ohne weiteres Eingehen auf den materiell-rechtlichen Gehalt des Rechtsstreits unter Aufhebung der Vorentscheidung an das FG zurückzuverweisen (Urteil des BFH III 70/63 vom 30. September 1966, BFH 87, 60, BStBl III 1967, 25).
Urkundenbeweis für die wesentlichen Vorgänge der mündlichen Verhandlung liefert die über die mündliche Verhandlung gefertigte Niederschrift (§ 94 FGO). Diese enthält im Streitfall nichts über den Aufruf der Sache, mit dem auch im finanzgerichtlichen Verfahren die mündliche Verhandlung beginnt (§ 92 Abs. 2 FGO). Wie jedoch die Erklärung des Vorsitzenden vom gleichen Tage erweist, wurde die Sache wohl im Gerichtssaal, nicht aber auf dem Flur und im Wartezimmer für die Verfahrensbeteiligten und deren Prozeßbevollmächtigte aufgerufen.
Auch im Zivilprozeß beginnt nach § 220 ZPO der Termin mit dem Aufruf der Sache. Dabei kommt nach überwiegender Meinung im Hinblick auf die Möglichkeit des Ergehens eines Versäumnisurteils dem Aufruf der Sache durch den Vorsitzenden oder einen von ihm mit dem Aufruf beauftragten Dritten (den die Niederschrift besorgenden Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder den Gerichtswachtmeister) im Gerichtssaal die entscheidende Bedeutung zu; der Aufruf der Sache vor der Saaltür, auf dem Flur und im Warteraum begründet nur die Bereitschaftspflicht der Beteiligten für die bevorstehende Verhandlung (vgl. dazu Baumbach-Lauterbach, Kurzkommentar zur ZPO, 27. Aufl., Anm. 1 zu § 220; Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur ZPO, Anm. I 2 zu § 220; Wieczorek, Kommentar zur ZPO, Anm. A I, A II zu § 220; Beschluß des Bundesgerichtshofs V ZR 203/56 vom 2. April 1958, Juristische Rundschau 1958, 344). Die Wirksamkeit des ohne vorherigen Aufruf der Sache, d. h. unter Verstoß gegen § 220 ZPO ergangenen Urteils bleibt unberührt (Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., S. 315). Ob der Unterlassung des Aufrufs der Sache vor der Saaltür, auf dem Flur und im Warteraum danach eine selbständige rechtliche Bedeutung als Revisionsgrund zukommt, steht dahin.
Der Senat ist der Ansicht, daß es einer Unterscheidung zwischen dem Aufruf der Sache im Gerichtssaal und vor dem Gerichtssaal, auf dem Flur und im Warteraum für das finanzgerichtliche Verfahren nicht bedarf, da dieses ein Versäumnisurteil nicht kennt. Das Gericht kann jedoch nicht davon ausgehen, daß die jeweils am Verfahren Beteiligten bei Aufruf der Sache im Gerichtssaal bereits im Sitzungssaal anwesend sind. Im vorliegenden Streitfall, in dem der Prozeßbevollmächtigten zugesagt worden war, sie vom Aufruf der Sache (durch den Vorsitzenden oder einen von ihm beauftragten Dritten) im Gerichtssaal zu verständigen und ihre Anwesenheit im Warteraum einem hauptamtlichen Mitglied des Gerichts bekannt war, liegt im Verfahren des Gerichts jedenfalls eine Versagung des Rechts auf Gehör.
Fundstellen
Haufe-Index 68061 |
BStBl II 1968, 537 |
BFHE 1968, 262 |