Leitsatz (amtlich)
Ein Ausnahmefall, der auch bei Bekanntwerden ungewichtiger neuer Tatsachen eine Berichtigungsveranlagung auf dem Gebiet der Umsatzsteuer rechtfertigt, liegt nicht vor, wenn verhältnismäßig geringfügige Mängel des Buchnachweises festgestellt werden, die auf schnelles Wachstum des Unternehmens und damit verbundene Personalschwierigkeiten zurückzuführen sind.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1; UStG 1951 § 7 Abs. 3; UStDB § 14
Tatbestand
Zu entscheiden ist, ob Umsatzsteuerveranlagungen aufgrund des Ergebnisses einer Betriebsprüfung berichtigt werden können.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige), eine OHG, betreibt einen Elektrohandel. In den Streitjahren erzielte sie Großhandelsumsätze zwischen rd. ... DM (1956) und ... DM (1960) sowie Einzelhandelsumsätze zwischen rd. ... DM (1956) und ... DM (1960) jährlich. Im Jahre 1957 befreite der Beklagte und Revisionskläger (FA) die Steuerpflichtige von der Angabe des Lieferers und des Tages der Lieferung bei jedem einzelnen Umsatz, machte jedoch ausdrücklich zur Auflage, den Abnehmer mit Namen, Gewerbezweig oder Beruf und Anschrift zu bezeichnen. Bei einer im Jahre 1962 durchgeführten Betriebsprüfung stellte der Prüfer fest, daß bei einer großen Zahl von Kunden die Angabe des Gewerbes bzw. Berufes fehlte. Über diesen Mangel setzte sich der Betriebsprüfer bei einem Teil der Umsätze hinweg, weil der jeweilige Abnehmer als Gewerbetreibender bekannt oder sein Gewerbe bzw. Beruf aus dem Telefonbuch feststellbar war. Durch Schätzung ermittelte der Prüfer die nachzuerhebende Umsatzsteuer für noch verbleibende ungeklärte Lieferungen wie folgt:
1956 ... DM = 3,9 v. H. der bisherigen Steuerschuld
1957 ... DM = 3,2 v. H. der bisherigen Steuerschuld
1958 ... DM = 1,6 v. H. der bisherigen Steuerschuld
1959 ... DM Berichtigungsveranlagung rechtskräftig
1960 ... DM = 1,3 v. H. der bisherigen Steuerschuld.
Das FA nahm an, daß ein die Nacherhebung ausschließender Regelfall nicht vorliege, weil die Steuerverkürzung auf Fahrlässigkeit der Gesellschafter beruhe. Es berichtigte deshalb die Steuerbescheide nach dem Ergebnis der Betriebsprüfung. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Auf die Berufung der Steuerpflichtigen hob das FG die Berichtigungsveranlagungen ersatzlos auf, weil ein Ausnahmefall, der bei den festgestellten Mehrsteuern Berichtigungsveranlagungen gerechtfertigt hätte, nicht vorliege. Mit der Rechtsbeschwerde rügt das FA einen Verstoß wider den klaren Inhalt der Akten sowie unrichtige Anwendung der §§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO und 7 Abs. 3 UStG.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die nach Einführung der FGO (1. Januar 1966) als Revision zu behandelnde Rb. des FA ist unbegründet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH dürfen rechtskräftige Steuerbescheide nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nur dann berichtigt werden, wenn neue Tatsachen von einigem Gewicht bekanntgeworden sind (vgl. u. a. die Urteile des BFH IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957, BFH 66, 132, BStBl III 1958, 52; I 176/57 U vom 18. November 1958, BFH 68, 137, BStBl III 1959, 52). Diese Voraussetzung ist nach den vom Senat im Urteil V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (BFH 74, 610, BStBl III 1962, 225) für das Gebiet der Umsatzsteuer aufgestellten Richtlinien im Regelfalle u. a. dann nicht gegeben, wenn die für die einzelnen Veranlagungszeiträume ermittelten Mehrsteuern 1 000 DM oder 10 v. H. der ursprünglich festgestellten Steuerschuld nicht übersteigen. Diese Grenzen wurden im vorliegenden Falle - wie die obige Aufstellung zeigt - in keinem der in Streit befindlichen Jahre überschritten. Die Annahme eines Ausnahmefalles, der nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil V 211/61 U vom 8. Februar 1962, BFH 74, 675, BStBl III 1962, 249) auch bei niedrigeren Mehrsteuern die Annahme gewichtiger Tatsachen rechtfertigen würde, hat das FG mit zutreffender Begründung verneint.
Nach der Rechtsprechung des Senats liegt ein Ausnahmefall vor, wenn sich einer der Beteiligten nicht so verhält, wie es nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen Steuerpflichtigen und FA erwartet werden kann. Durch bloße Versehen, Irrtümer, falsche Rechtsauslegung und dergleichen verstößt der Steuerpflichtige nicht gegen das Vertrauensverhältnis. Andernfalls würden die Ausnahmefälle zur Regel und die Beschränkung der Berichtigungsveranlagungen auf das Bekanntwerden von Tatsachen "von einigem Gewicht" verlöre jede Bedeutung (BFH-Urteil V 25/64 vom 28. Juli 1966, BFH 86, 634, BStBl III 1966, 635). Im Streitfall beruhen die Mehrsteuern nach den tatsächlichen, für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG auf Versehen im Sinne dieses Urteils. Nach den tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil haben sich die Steuerpflichtige und ihr Berater stets darum bemüht, Groß- und Einzelhandelsumsätze sorgfältig zu unterscheiden. Der mangelhafte Nachweis ist vor allem auf das schnelle Anwachsen der Umsätze und das Fehlen von geeignetem Personal zurückzuführen. Es läßt sich nicht erkennen, inwiefern die dadurch verursachten Fehler, die im Verhältnis zu den hohen Umsätzen der Steuerpflichtigen eine nur geringe steuerliche Auswirkung hatten, das Vertrauensverhältnis zwischen der Steuerpflichtigen und dem FA beeinträchtigt haben sollen. Im Gegensatz zu den in der Vorentscheidung angegebenen Fällen (Urteile des BFH V 91/60 vom 28. März 1963, Umsatzsteuer-Rundschau 1964 S. 43 und V 248/60 vom 8. August 1963 HFR 1964, 99; vgl. auch das vom FA angeführte Urteil V 202/63 U vom 15. Oktober 1964, BFH 80, 525, BStBl III 1964, 662) kann insbesondere keine Rede davon sein, daß sich die Steuerpflichtige dem FA gegenüber unfair oder gar unredlich benommen hätte. Die wiedergegebenen unstreitigen Tatsachen rechtfertigen es daher im Streitfalle, die Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagungen zu verneinen.
Da das FG die Berichtigungsveranlagungen wegen Fehlens neuer Tatsachen von einigem Gewicht zu Recht für unzulässig gehalten hat, kann unerörtert bleiben, ob die weiteren Rechtsausführungen im angefochtenen Urteil zu § 7 Abs. 3 UStG 1951 und § 14 UStDB einer Nachprüfung standhalten würden.
Fundstellen
BStBl II 1968, 632 |
BFHE 1968, 424 |