Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Kinderfreibetrag für volljähriges behindertes Kind mit eigenen Einkünften
Leitsatz (NV)
1. Einem Steuerpflichtigen steht ein Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG nur dann zu, wenn das volljährige behinderte Kind über keine seinen Lebensunterhalt deckenden Einkünfte oder Bezüge verfügt.
2. Zur Verfassungsmäßigkeit des § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 Nr. 7
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte in seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (1991) die Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages und eines Behindertenpauschbetrages gemäß § 33 b Abs. 5 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) für seine schwerbehinderte Tochter sowie die Gewährung eines Haushaltsfreibetrages nach § 32 Abs. 7 EStG. Die 1967 geborene Tochter ist geistig behindert. Der Grad ihrer Erwerbsminderung beträgt nach dem Schwerbehindertenausweis 100 %. Der Schwerbehindertenausweis enthält weiterhin die Eintragung der Merkzeichen G und H sowie den Hinweis, daß eine ständige Begleitung erforderlich sei. Die Tochter, die in einer Behindertenwerkstatt tätig ist, lebt im Haushalt des Klägers. Im Streitjahr hatte sie Einkünfte in Höhe von insgesamt ... DM, und zwar aus einer Beteiligung an einer KG sowie aus Kapitalvermögen. Den der Behindertenwerkstatt zu zahlenden Pflegekostenbeitrag trugen der Kläger und die Tochter je zur Hälfte.
Bei der Festsetzung der Einkommensteuer lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) die Gewährung der beantragten Steuervergünstigungen mit der Begründung ab, der Tochter hätten im Streitjahr eigene Einkünfte von mehr als 9 000 DM zur Verfügung gestanden, so daß die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG und der weiter davon abhängigen Vorschriften nicht erfüllt seien.
Dem Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1991 vom 7. September 1993 half das FA nur insoweit ab, als es für die Betreuung der Tochter nach § 33 b Abs. 6 EStG einen Pflegefreibetrag in Höhe von 1 800 DM gewährte.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 716 veröffentlichten Urteil die Auffassung, bei der Beurteilung, ob ein Kind außerstande sei, sich selbst zu unterhalten, komme es nicht nur auf die Unfähigkeit des Kindes an, durch eigene Erwerbstätigkeit seinen Unterhalt zu bestreiten, sondern auch darauf, ob dem Kind hierfür andere Einkunftsquellen zur Verfügung stünden. Daß bei der Gewährung der Kinderfreibeträge nach § 32 Abs. 4 Nr. 1 bis 6 EStG eigene Einkünfte und Bezüge des Kindes unberücksichtigt blieben, stelle keine gleichheitswidrige Benachteiligung der Eltern schwerbehinderter Kinder gegenüber Eltern mit gleichaltrigen Kindern in Berufsausbildung etc. dar. Für die unterschiedliche Behandlung gebe es sachliche Gründe.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er trägt vor, das Urteil des FG stehe im Widerspruch zu § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG. Imstande sein sich selbst zu unterhalten, setze das Vorhandensein ausreichender Humankapazität voraus. Fehlten entsprechende intellektuelle Fähigkeiten, Sachkapital zur Bestreitung des Lebensunterhalts zu erwerben oder ohne die Notwendigkeit von ausreichendem Humankapital erworbenes Vermögen oder Einkommen so sinnvoll einzusetzen, daß das Bestreiten des Lebensunterhalts möglich sei, müsse "ein Außerstande sein, sich selbst zu unterhalten" angenommen werden. Das FG folge bei der Auslegung des § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG den Einkommensteuer- Richtlinien (EStR) 1990, die in Abschn. 180 d Abs. 2 Satz 2 den Aspekt der Notwendigkeit von Humankapital außer acht ließen, und komme daher zu einem falschen Ergebnis.
Zudem verstoße § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG in der Auslegung des Abschn. 180 d Abs. 2 Satz 2 EStR 1990 gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG). Der Kinderfreibetrag solle die Minderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern abgelten, die durch Verpflichtungen gegenüber Kindern ausgelöst werde. Zu den Verpflichtungen seien auch persönliche Zuwendungen zu rechnen. Diese sog. "Personensorge" werde u. a. auch für die Begründung des im Altersablauf des Kindes gleichbleibenden Kinderfreibetrages herangezogen (BTDrucks 7/1470). Dabei werde davon ausgegangen, daß die Notwendigkeit von per sönlicher Fürsorge mit zunehmendem Alter abnehme, die Notwendigkeit finanzieller Fürsorge jedoch steige. Werde daher die Ent lastung für Kinder in Ausbildung wegen der finanziellen Belastung der Eltern bis zum 26. Lebensjahr ausgedehnt, so müsse das für gleichaltrige Behinderte wegen der persönlichen Belastung, die diese für ihre Eltern darstellten, ebenfalls geschehen.
Der Gesetzgeber könne auch nicht typisierend davon ausgehen, daß bei Kindern, die unter § 32 Abs. 4 Nr. 1 bis 6 EStG fallen, keine unterhaltsdeckenden Einkünfte vorhanden seien. Die Wahrscheinlichkeit, daß bei einem geistig behinderten Kind der Altersgruppe des § 32 Abs. 4 EStG entsprechende finanzielle Mittel zur Bestreitung des Unterhalts vorhanden seien, sei wohl eher noch geringer als bei der Personengruppe des § 32 Abs. 4 Nr. 1 bis 6 EStG. Da § 32 Abs. 4 EStG nur eine begrenzte Altersspanne der Kinder erfasse, sei es unerheblich, wie lange die Behinderung andauere. Zudem sei es durchaus zweifelhaft, ob eine Berufsausbildung immer vor der Vollendung des 27. Lebensjahres abgeschlossen werde. Auch eine Behinderung könne aber durchaus nur vorübergehender Natur sein.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und den angefochtenen Bescheid dahingehend zu ändern, daß ein Kinderfreibetrag, ein Behindertenfreibetrag sowie ein Haushaltsfreibetrag berücksichtigt werden.
Das FA beantragt, die Revision zurückzu weisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die schwerbehinderte Tochter des Klägers im Streitjahr imstande war, sich selbst zu unterhalten.
Nach § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG wird ein Kind, das zu Beginn des Kalenderjahres das 16. (ab Veranlagungszeitraum 1992 das 18.) Lebensjahr, aber noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet hat, für kindbezogene Freibeträge berücksichtigt, wenn es wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
1. Der Begriff "außerstande sein, sich selbst zu unterhalten" entspricht dem Wortlaut des § 1602 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), mithin der Bedürftigkeitsregelung des zivilrechtlichen Unterhaltsrechts. Ein (hier volljähriges) Kind kann sich dann nicht selbst unterhalten, wenn es nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte oder Bezüge verfügt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 14. Juni 1996 III R 13/94, BFHE 181, 128; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 21. Aufl., § 32 EStG Anm. 153, m. w. N.). Diese Auslegung entspricht auch der des § 1602 Abs. 1 BGB, wonach der volljährige Unterhaltsberechtigte zur Deckung seines Lebensbedarfs zuerst seine eigenen Mittel einzusetzen hat. Zu diesen Mitteln gehören sein Vermögen ebenso wie seine Einkünfte, wobei es gleichgültig ist, ob es sich bei den Einkünften um solche aus einer eigenen Erwerbstätigkeit oder um Vermögenserträgnisse handelt (vgl. auch Köhler in Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 3. Aufl., § 1602 Rdnr. 8, 9).
Im Streitfall hat das FG für den Senat bindend festgestellt (§ 118 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --), daß der Tochter des Klägers im Streitjahr eigene Einkünfte aus einer Beteiligung an einer KG und aus Kapitalvermögen in Höhe von insgesamt ... DM zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts zur Verfügung standen.
Zwar mindert -- worauf der Kläger zutreffend hingewiesen hat -- die für den Steuerpflichtigen unvermeidbare Sonderbelastung durch Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Kindern seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Vergleich zu Steuerpflichtigen ohne solche Unterhaltsverpflichtungen. Diese Sonderbelastung darf daher ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG weder vom Gesetzgeber noch -- im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten -- von der Rechtsprechung unberücksichtigt bleiben (vgl. z. B. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 26. Januar 1994 1 BvL 12/86, BVerfGE 89, 346, BStBl II 1994, 307). Das bedeutet jedoch nur, daß bei der Beurteilung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Unterhalt für ein Kind in dem Umfang als steuerbares Einkommen des Steuerpflichtigen außer Betracht bleiben muß, in dem Aufwendungen erforderlich sind, um das Existenzminimum des Kindes zu gewährleisten (BVerfG-Beschluß vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84 u. a., BVerfGE 82, 60, BStBl II 1990, 653). Das Eltern- Kind-Verhältnis erschöpft sich bei einem volljährigen Kind in der Regel in den Unterhaltsbeziehungen (§§ 1601 ff. BGB); denn das Recht und die Pflicht zur Personensorge (§§ 1626 ff. BGB), die nach dem Zivilrecht insbesondere die Pflege, Erziehung, Beaufsichtigung und die Aufenthaltsbestimmung des Kindes umfaßt (§ 1631 Abs. 1 BGB), gilt nur für minderjährige Kinder (§ 1626 Abs. 1 BGB). Da nach § 1610 Abs. 2 BGB der Unterhaltsanspruch den gesamten Lebensbedarf umfaßt, kann der Unterhaltsberechtigte allerdings nicht nur Barleistungen beanspruchen, sondern auch Pflege und Betreuung (Palandt/Diederichsen, Bürgerliches Gesetzbuch, 55. Aufl., § 1610 Rdnr. 3). Hat jedoch der Unterhaltsberechtigte -- wie im Streitfall -- ein genügend hohes eigenes Einkommen, so deckt dieses Einkommen auch den Betreuungsbedarf ab. Aus § 1602 Abs. 1 BGB ergibt sich dann kein Anspruch auf Betreuung. Wird das volljährige Kind dennoch im Haushalt des Steuerpflichtigen betreut, so werden die entsprechenden Leistungen nicht in Erfüllung der gesetzlichen Unterhaltspflicht bewirkt. Für eine steuerliche Entlastung in Form eines Kinderfreibetrages besteht dann kein Anlaß.
Die Aufwendungen, die dem Kläger durch die häusliche Pflege der behinderten Tochter entstanden sind, haben im übrigen bei der Veranlagung des Klägers durch die Gewährung des Pauschbetrages nach § 33 b Abs. 6 EStG Berücksichtigung gefunden.
2. Nach Auffassung des Senats bestehen auch keine durchgreifenden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der strittigen Vorschrift. Die Berücksichtigung eigener Einkünfte oder Leistungen Dritter bei behinderten Kindern stellt keine gleichheitswidrige Benachteiligung gegenüber der steuerlichen Behandlung von Steuerpflichtigen mit Kindern i. S. des § 32 Abs. 4 Nr. 1 bis 6 EStG dar, bei denen eine derartige Anrechnung (in den Veranlagungszeiträumen vor 1996) nicht stattfindet. Der Kinderfreibetrag soll die durch den existentiell notwendigen Unterhalt von Kindern entstehende Belastung ausgleichen. Bei der Umsetzung dieser Vorgabe konnte der Gesetzgeber bei Kindern i. S. des § 32 Abs. 4 Nr. 1 bis 6 EStG typisierend von einem Fortbestehen der Unterhaltspflicht ausgehen, weil diese Kinder üblicherweise nicht über eigene Einkünfte und Bezüge oder eigenes Vermögen in ausreichendem Umfang verfügen, um ihren Unterhalt selbst zu bestreiten. Er durfte weiterhin berücksichtigen, daß der Lebensunterhalt schwerstbehinderter, erwerbsunfähiger Kinder in der überwiegenden Zahl der Fälle durch Sozial leistungen (z. B. Eingliederungshilfe für Behinderte gemäß § 27 i. V. m. §§ 39, 40 des Bundessozialhilfegesetzes -- BSHG --) gedeckt und eine Inanspruchnahme der Eltern durch den Sozialhilfeträger nur begrenzt möglich ist (§ 91 Abs. 2 BSHG). Die Einschränkung in § 32 Abs. 4 Nr. 7 EStG ist daher insoweit gerechtfertigt, als aus einer Behinderung nicht wie bei den in § 32 Abs. 4 Nr. 1 bis 6 EStG genannten Kindern typisierend auf die Notwendigkeit von Unterhaltsleistungen durch die Eltern geschlossen werden kann (vgl. Fitsch in Lademann/Söffing, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 32 Rdnr. 77). Andererseits sind die in § 32 Abs. 4 Nr. 1 bis 6 EStG geregelten Sachverhalte mit denen in § 32 Abs. 4 Nr. 7 und Abs. 5 EStG (Kinder, die das 27. Lebensjahr vollendet haben) auch noch aus einem anderen Grund nicht vergleichbar. Während bei den in Nr. 1 bis 6 genannten Kindern die Unterhaltsbedürftigkeit nur eine vorübergehende ist, bedarf ein behindertes Kind, das aufgrund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, sich selbst zu unterhalten, in der Regel einer dauernden oder länger andauernden Unterstützung (vgl. das o. a. Senatsurteil in BFHE 181, 128).
Fundstellen
Haufe-Index 421909 |
BFH/NV 1997, 343 |