Entscheidungsstichwort (Thema)
Sonstiges Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Finanzverwaltungsbehörden sind nicht verpflichtet, die Vollziehung einer Steuer auszusetzen, wenn der Steuerpflichtige sich auf Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes bzw. einer steuergesetzlichen Einzelbestimmung beruft.
Normenkette
GG Art. 100; AO §§ 251, 242
Tatbestand
Die Eheleute S. (- im folgenden kurz als Beschwerdegegner (Bg.) bezeichnet -) sind gemäß § 38 des Lastenausgleichsgesetzes (LAG) zusammen zur Vermögensabgabe veranlagt worden. Hiergegen haben sie mit der Begründung Einspruch eingelegt, daß § 38 LAG gegen Art. 6 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) verstoße, also verfassungswidrig sei. Der Einspruch der Bg. ist erfolglos geblieben, mit der Berufung haben sie einen betragsmäßigen Teilerfolg (wegen Kriegssachschadens) erzielt. Gegen dieses Urteil haben die Bg. Rechtsbeschwerde (Rb.) eingelegt, über die noch nicht entschieden ist. Im Zusammenhang mit ihrem Einspruch gegen den Vermögensabgabebescheid hatten die Bg. Aussetzung der Vollziehung der - gesamten - Vermögensabgabe beantragt. Das Finanzamt hat dem Antrag aber nur hinsichtlich der sich durch die Berücksichtigung des Kriegssachschadens ergebenden Ermäßigung entsprochen. Die Beschwerde, die die Bg. gegen die Versagung der Vollziehungsaussetzung für die auf Grund der gerügten Verfassungswidrigkeit im Streit befangenen Vermögensabgabebeträge eingelegt haben, ist von der Oberfinanzdirektion als unbegründet zurückgewiesen worden. Die Berufung der Bg. gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion hat Erfolg gehabt; das Finanzgericht hat die Aussetzung der Vollziehung auch für diejenigen Beträge bewilligt, die von den Verwaltungsbehörden nicht berücksichtigt waren. Das Finanzgericht hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache die Rb. zugelassen. Gegen die Entscheidung des Finanzgerichts richtet sich die Rb. der Oberfinanzdirektion, mit der die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt wird.
Das Urteil des Finanzgerichts ist in der Deutschen Steuer-Zeitung B 1958 Nr. 32 vom 23. August 1958 S. 333 abgedruckt.
Entscheidungsgründe
Die Rb. der Oberfinanzdirektion ist begründet.
Zunächst besteht zwischen der Entscheidung des Finanzgerichts in der vorliegenden Sache betreffend Aussetzung der Vollziehung und seiner Entscheidung in der Hauptsache ein unlösbarer Widerspruch. In der Hauptsache hat das Finanzgericht ausgeführt, es halte an seiner ständigen Rechtsprechung fest, daß die Zusammenveranlagung von Ehegatten zur Vermögensabgabe nicht verfassungswidrig sei, und hat sich darüber hinaus auf das Urteil des erkennenden Senats III 125/57 S vom 28. Februar 1958 (Bundessteuerblatt - BStBl - 1958 III S. 191, Slg. Bd. 66 S. 497) bezogen, dessen Begründung sich das Finanzgericht anschließt, wie es ausdrücklich sagt. Dagegen hat das Finanzgericht in der vorliegenden Sache betreffend Aussetzung der Vollziehung der Vermögensabgabe den Standpunkt eingenommen, die Ausführungen des vorerwähnten Urteils III 125/57 S seien nach Auffassung des Finanzgerichts nicht restlos überzeugend; der Senat habe nicht alle Einwendungen, die zum Beispiel von Lange in "Der Betriebs-Berater" 1958 S. 76 gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 38 LAG erhoben worden seien, zu widerlegen vermocht. Nun besteht freilich keine formelle Bindung des Finanzgerichts an sein in anderer Sache (- hier der Hauptsache -) erlassenes Urteil (- das Urteil in der Hauptsache ist zwei Monate vor dem Urteil in der vorliegenden Sache ergangen -). Wenn aber das Finanzgericht das Urteil III 125/57 S nicht für (restlos) überzeugend hielt, war es seine Pflicht, sich mit den nach seiner Auffassung offenen Punkten auseinanderzusetzen und gegebenenfalls von seiner bisherigen, auch in der Hauptsache vertretenen Auffassung abzugehen. Die lakonische Bemerkung, die Ausführungen des Urteils III 125/57 S seien nicht restlos überzeugend, reicht nicht aus. Zu Unrecht beruft sich das Finanzgericht für seine Auffassung auf die Ausführungen von Friedlaender in Steuer und Wirtschaft 1958 Sp. 138. Diese Darlegungen befassen sich hinsichtlich der hier zu entscheidenden Frage nicht mit der lex lata, sondern der lex ferenda, was dem Finanzgericht nicht hätte entgehen dürfen, da es den Ausdruck "lex ferenda" selbst wiedergibt. Im übrigen ist der Aufsatz von Friedlaender geraume Zeit vor dem Ergehen des Urteils III 125/57 S verfaßt. Das Finanzgericht verkennt auch die Aufgabe des Bundesfinanzhofs, wenn es meint, daß dieser alle im Schrifttum vorgebrachten Einwendungen ausdrücklich widerlegen müsse. Der Bundesfinanzhof hat seinen Entscheidungen eine das jeweilige Urteil tragende Begründung beizugeben, braucht aber nicht auf alle äußerungen im Schrifttum einzugehen. Soweit diese in der Sache erheblich sind, wird der Bundesfinanzhof ohnehin zu ihnen Stellung nehmen. Abwegig sind schließlich die Ausführungen des Finanzgerichts, daß einige Richter des erkennenden Senats bei der Beratung und Abstimmung über das Urteil III 125/57 S eine andere Rechtsauffassung vertreten hätten, als sie in dieser Entscheidung ausgesprochen worden ist. Nach den Ausführungen des Finanzgerichts soll ein Vortrag des dem erkennenden Senat angehörenden Bundesrichters Dr. v. Wallis offenbart haben, daß das erwähnte Urteil "erst nach vielen Für und Wider innerhalb des Senats zustande gekommen" sei. Dem Finanzgericht mußte bekannt sein, daß der Gang der Beratung und Abstimmung im deutschen Recht nicht, wie etwa bei den Entscheidungen des obersten Steuergerichtshofs der USA, aus "dissenting votes" ersehen werden kann, daß vielmehr Beratung und Abstimmung geheim sind und für die öffentlichkeit nur der verkündete einheitliche Spruch des Gerichts Bedeutung hat. Ebensowenig wie anderen Stellen stand daher dem Finanzgericht das Recht zu, sich überhaupt mit der Art des Zustandekommens des Urteils III 125/57 S zu befassen. Davon ganz abgesehen hätten dem Finanzgericht Bedenken gegen die Annahme kommen müssen, daß ein Mitglied eines oberen Bundesgerichts in der öffentlichkeit Einzelheiten über die geheime Beratung und Abstimmung mitgeteilt habe. In Wirklichkeit kann denn auch keine Rede davon sein, daß Bundesrichter Dr. v. Wallis von einem "Für und Wider innerhalb des erkennenden Senats" gesprochen hat. Er hat vielmehr im Anschluß an einen Hinweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ehegattenbesteuerung bei der Einkommensteuer ausgesprochen, daß der Senat das Urteil III 125/57 S "in ernstem Ringen und im Bewußtsein seiner Verantwortung gegenüber dem Bürger und dem Staat" gefällt hat. Das bedeutet aber etwas gänzlich anderes als der dieser äußerung vom Finanzgericht untergelegte Sinn. Bundesrichter Dr. v. Wallis hat mit seinen Ausführungen nur die ernsthafte Auseinandersetzung mit der erwähnten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gekennzeichnet, nicht aber von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedern des Senats gesprochen. Nach alledem können die Ausführungen des Finanzgerichts seinen Standpunkt nicht begründen, daß die Rechtslage im vorliegenden Fall zweifelhaft sei, das heißt, daß nicht feststehe, ob das Bundesverfassungsgericht die Auffassung des Bundesfinanzhofs über die Verfassungsmäßigkeit der Zusammenveranlagung der Ehegatten zur Vermögensabgabe billigen werde.
Das Finanzgericht beruft sich mit den Bg. auf das Urteil des erkennenden Senats III 187/52 S vom 10. September 1954 (BStBl 1954 III S. 328, Slg. Bd. 59 S. 307). In diesem Urteil hat der Senat ausgesprochen, daß die Vollziehung eines Steuerbescheids auszusetzen ist, wenn die Möglichkeit zu seiner Aufhebung in dem Sinne besteht, daß die Rechtslage auf Grund gewichtiger Darlegungen des Steuerpflichtigen zweifelhaft ist. Dieses Urteil kann jedoch auf die Fälle einer vom Steuerpflichtigen gerügten Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder einer einzelnen gesetzlichen Bestimmung im allgemeinen nicht angewandt werden, weil die besondere Rechtslage bei Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen dies nicht zuläßt. Nach dem mehrfach erwähnten Urteil des erkennenden Senats III 125/57 S muß bei Beurteilung der Frage, ob eine gesetzliche Bestimmung mit den Prinzipien der Verfassung vereinbar oder ob sie verfassungswidrig ist, davon ausgegangen werden, daß im parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat die gesetzgebenden Organe die verfassungsmäßigen Grundrechte der Bürger zu achten gewillt sind (BStBl 1958 III S. 194 rechte Spalte, Slg. Bd. 66 S. 505). Mit anderen Worten hat ein ordnungsmäßig erlassenes und verkündetes Gesetz die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit für sich (gl. A. Landesverwaltungsgericht Gelsenkirchen, Urteil 3 L 61/57 vom 30. Juli 1957, Neue Wirtschaftsbriefe Fach 1 S. 166 Nr. 933/57), ebenso wie ein Gesetz grundsätzlich die Vermutung für sich hat, zugleich Recht zu sein (Wernicke im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Erläuterungen II 3 e Abs. 2 zu Art. 20; v. Mangoldt-Klein, Das Bonner Grundgesetz, Anm. VI 4 f letzter Absatz zu Art. 20 S. 604). Regelmäßig ist daher die vollziehende Gewalt an die Steuergesetze gebunden. Es kommt aber vor allem hinzu, daß gemäß Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht das "Prüfungsmonopol" hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zusteht. Nicht einmal die anderen Gerichte können also von sich aus ein Gesetz als verfassungswidrig behandeln. Ebensowenig können demnach auch die Verwaltungsbehörden bei der ihnen durch Art. 20 Abs. 3 GG auferlegten Bindung an das Gesetz Zweifeln an dessen Verfassungsmäßigkeit Raum geben. Um so weniger sind Nichtgerichte, insbesondere also Verwaltungsbehörden, befugt oder verpflichtet, das Zwischenverfahren des Art. 100 GG in Gang zu setzen. (Holtkotten im Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Erläuterungen II A 2 f zu Art. 100 unter Berufung auf Ipsen, Grundgesetz und richterliche Prüfungszuständigkeit, Deutsche Verwaltung 1949 S. 486 ff.) Dies gilt natürlich auch dann, wenn der Steuerpflichtige die Verfassungswidrigkeit einer Gesetzesnorm behauptet. Muß demnach die Finanzverwaltungsbehörde bis zu einer etwaigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts das betreffende Steuergesetz als verfassungsmäßig ansehen, so kann sie folgerichtigerweise auch nicht verpflichtet sein, die Vollziehung der vom Steuerpflichtigen als verfassungswidrig angesehenen Abgabe gemäß § 251 der Reichsabgabenordnung (AO) auszusetzen (so im Ergebnis zutreffend auch Koch in Deutsche Steuer-Zeitung A. 1958 Nr. 11 vom 1. Juni 1958 S. 162 - 163 -). In Fällen dieser Art besteht jedenfalls kein Ermessensspielraum im Sinne einer gerichtlichen Nachprüfbarkeit nach Art. 19 Abs. 4 GG. Ob nicht darüber hinaus die Verwaltungsbehörde einem ausschließlich auf behauptete Verfassungswidrigkeit gestützten Antrag auf Vollziehungsaussetzung wegen der Bindung der Verwaltungsbehörde an das Gesetz überhaupt keinesfalls entsprechen darf, kann dahingestellt bleiben. Aus den dargelegten Gründen kann dem Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Münster III B 823/57 vom 9. November 1957 (Monatsschrift für Deutsches Recht 1958 S. 122), der die verfassungsrechtlich bestehende Lage verkennt, nicht beigetreten werden. Das gleiche gilt hinsichtlich des Urteils des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz I 132 - 135/58 vom 7. November 1958 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1959 Nr. 2 S. 68).
Nach den vorstehend entwickelten Grundsätzen haben daher im vorliegenden Fall die Finanzverwaltungsbehörden die Aussetzung der Vollziehung der Vermögensabgabe hinsichtlich des streitigen Betrages mit Recht versagt.
Da die angefochtene Entscheidung dies verkannt hat, ist sie aufzuheben. Die Berufung der Bg. gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion war als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 409255 |
BStBl III 1959, 140 |
BFHE 1959, 361 |
BFHE 68, 361 |