Entscheidungsstichwort (Thema)
Übergang zur Regelbesteuerung von Land- und Forstwirten
Leitsatz (NV)
1. Die rückwirkende Verlängerung der Frist für den Übergang zur Regelbesteuerung von Land- und Forstwirten bei der Umsatzsteuer stand im behördlichen Ermessen.
2. Bei der Ermessensentscheidung waren sowohl die Gründe der Fristversäumnis als auch die hieraus entstehenden Nachteile zu berücksichtigen.
Normenkette
UStG 1973 § 24 Abs. 4 i.d.F. d. EGAO 1977 Art. 17 Nr. 12 Buchst. b
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt Land- und Forstwirtschaft. Er versteuerte seine Umsätze nach § 24 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1973. Mit Schreiben vom 22. Januar 1980 teilte er dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt - FA -) durch seinen steuerlichen Vertreter mit, daß seine Umsätze vom Beginn des Jahres 1979 an nach den allgemeinen Vorschriften des UStG 1973 besteuert werden sollen. Soweit die Frist für diese Erklärung bereits abgelaufen sei, bitte er um die rückwirkende Verlängerung dieser Frist. Gleichzeitig erklärte er vorsorglich die Option nach § 19 Abs. 4 UStG 1973. In der Umsatzsteuererklärung 1979 errechnete er einen Überschuß von . . . DM.
Das FA ließ den Übergang zur Regelbesteuerung erst mit Wirkung ab 1. Januar 1980 zu. Eine rückwirkende Verlängerung der bereits am 15. April 1979 abgelaufenen Frist für die Wahl der Regelbesteuerung lehnte es ab; es lägen weder sachliche noch persönliche Unbilligkeitsgründe vor. Zur Begründung der gegen den Ablehnungsbescheid erhobenen Beschwerde führte der Kläger im wesentlichen aus, er habe erst nach Ablauf des Jahres 1979 festgestellt, daß aufgrund der getätigten Investitionen in einer Größenordnung von mehreren 100 000 DM die angefallenen Vorsteuern höher gewesen seien als die zu berücksichtigende Umsatzsteuer. Er sei auf die umsatzsteuerliche Liquiditätshilfe angewiesen, um als Vollerwerbsbetrieb existenzfähig bleiben zu können. Die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit der Verlängerung der Frist für die Option dürfe nicht von zu strengen Voraussetzungen abhängig gemacht werden.
In der ablehnenden Beschwerdeentscheidung vertrat die Oberfinanzdirektion (OFD) die Auffassung, die Frist für die Ausübung des Wahlrechts könne nur dann rückwirkend verlängert werden, wenn sich nach Ablauf der Frist herausstelle, daß aufgrund besonderer betrieblicher Gegebenheiten die regelmäßig anfallenden Vorsteuerbeträge die Durchschnittsätze des § 24 Abs. 1 Satz 4 UStG 1973 dauernd übersteigen. Diese Sätze seien vom Gesetzgeber so festgesetzt, daß bei normalen Vorbezügen für die Land- und Forstwirte kaum ein Bedürfnis bestehe, zur Besteuerung nach den allgemeinen Vorschriften des Gesetzes überzugehen. Sie berücksichtigten ausreichend auch die auf Anlagegüter entfallenden Vorsteuerbeträge unter Verteilung auf die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer. In Fällen außergewöhnlicher Investitionstätigkeit ließen sich Billigkeitsmaßnahmen deshalb nicht damit begründen, die Rechtsfolgen des Fristablaufs stellten eine vom Gesetzgeber nicht gewollte unbillige Härte dar. Umstände, die darauf hindeuten könnten, es habe sich erst nach Ablauf der Optionsfrist herausgestellt, daß aufgrund besonderer betrieblicher Gegebenheiten die regelmäßig anfallenden Vorsteuern die Durchschnittsätze dauernd übersteigen, seien nicht ersichtlich.
Die hiergegen erhobene Klage hatte insofern Erfolg, als das Finanzgericht (FG) den Ablehnungsbescheid des FA und die Beschwerdeentscheidung aufhob und das FA verpflichtete, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. Die rückwirkende Fristverlängerung, eine behördliche Ermessensentscheidung, komme nicht nur bei unvorhergesehenen Ereignissen oder höherer Gewalt in Betracht, sondern auch in sonstigen Ausnahmefällen (Härtefällen). Die Finanzbehörden hätten den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt, um die Ermessensausübung gerichtlich überprüfen zu können.
Mit der Revision rügt das FA eine Verletzung des § 24 Abs. 4 Satz 6 UStG 1973 i. d. F. des Art. 17 Nr. 12 Buchst. b des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977). Die angefochtenen finanzbehördlichen Entscheidungen seien nicht ermessensfehlerhaft.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Nach § 24 Abs. 4 Satz 1 UStG 1973 konnte der Unternehmer eines land- und forstwirtschaftlichen Betriebs spätestens bis zum zehnten Tag nach Ablauf des ersten Voranmeldungszeitraums eines Kalenderjahres gegenüber dem FA erklären, daß seine Umsätze vom Beginn dieses Kalenderjahres an nicht nach § 24 Abs. 1 bis 3 UStG 1973, sondern nach den allgemeinen Vorschriften dieses Gesetzes besteuert werden sollten. Die Erklärung band den Unternehmer mindestens für fünf Kalenderjahre (§ 24 Abs. 4 Satz 2 UStG 1973). Die in § 24 Abs. 4 Satz 1 UStG 1973 bestimmte Frist konnte verlängert werden. War die Frist bereits abgelaufen, so konnte sie rückwirkend verlängert werden, wenn es unbillig gewesen wäre, die durch den Fristablauf eingetretenen Rechtsfolgen bestehen zu lassen (§ 24 Abs. 4 Sätze 5 und 6 UStG 1973 i. d. F. des Art. 17 Nr. 12 Buchst. b EGAO 1977).
2. Bei der Entscheidung über die rückwirkende Fristverlängerung handelte es sich um eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur darauf überprüft werden kann, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 FGO). Das Merkmal ,,unbillig" war kein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Anwendung durch die Finanzbehörden voller gerichtlicher Überprüfung unterlag (FG Niedersachsen, Urteile vom 2. März 1981 V 295/79, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1982, 50; vom 8. November 1982 V 100/82, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 1983, 38; Schöll in Sölch/Ringleb/List, Umsatzsteuergesetz, § 24 Rdnr. 100). Der Maßstab der Billigkeit bestimmte Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens. Die Rechtslage ist nicht anders als bei der Entscheidung über die Gewährung oder Versagung von Billigkeitsmaßnahmen nach § 227 AO 1977 (vgl. hierzu Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603; Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 13. März 1990 VII S 3/90, BFH/NV 1991, 171). Unterwürfe man die Frage der Unbilligkeit voller gerichtlicher Überprüfung, bliebe für die in § 24 Abs. 4 Satz 6 UStG 1973 vorgesehene Ermessensbetätigung der Finanzbehörden praktisch kein Raum mehr.
3. Die Ablehnung der rückwirkenden Fristverlängerung ist nicht ermessensfehlerhaft.
a) Bei der Entscheidung über die rückwirkende Fristverlängerung waren alle erheblichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (Schöll, a.a.O.; Schuhmann, UR 1982, 198, 201 sowie in Rau/Dürrwächter / Flick / Geist, Umsatzsteuergesetz, § 24 Rdnr. 130; Lange in Schüle / Teske / Wendt, Umsatzsteuergesetz, § 24 Anm. 171; Hartmann/Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz, § 24 Rdnr. 130). Wie bei der Entscheidung über einen beantragten Erlaß mußten alle für den Einzelfall bedeutsamen Tatsachen von den Finanzbehörden ermittelt und gewürdigt werden (vgl. etwa BFH-Urteil vom 4. Oktober 1989 V R 106/84, BFHE 158, 306, BStBl II 1990, 179; BFH in BFH/NV 1991, 171). Der Untersuchungsgrundsatz wird jedoch begrenzt durch die dem Steuerpflichtigen gemäß § 90 AO 1977 auferlegten Mitwirkungspflichten. Der Umfang des aufzuklärenden Sachverhalts ergibt sich zunächst vor allem aus der vom Steuerpflichtigen gegebenen Schilderung (vgl. zum Erlaß BFH in BFHE 158, 306, BStBl II 1990, 179; in BFH/NV 1991, 171).
b) Bei der Prüfung der Unbilligkeit i. S. des § 24 Abs. 4 Satz 6 UStG 1973 in der im Streitfall anzuwendenden Fassung hatte die Finanzbehörde sowohl die Gründe für die Versäumung der Optionsfrist als auch die hieraus für den Steuerpflichtigen entstehenden Nachteile zu berücksichtigen.
aa) Was die Gründe für die Fristversäumnis angeht, so ging der Gesetzgeber erkennbar davon aus, daß die Ausübung des Wahlrechts innerhalb der dafür bestimmten Frist regelmäßig zumutbar war, zumindest aber die Stellung eines Antrags auf Fristverlängerung vor Ablauf der Frist. Die gesetzliche Regelung nahm in Kauf, daß bei Fristablauf eine Entscheidung über die Ausübung der Option nicht aufgrund gesicherter Kenntnisse möglich war, sondern eine Prognose über den Bezug von vorsteuerbelasteten Leistungen und die Auswirkungen der Regel-/Pauschalbesteuerung erforderte. Hierbei waren nicht nur die Verhältnisse des laufenden Kalenderjahres, sondern auch die des gesamten Bindungszeitraums der Option (§ 24 Abs. 4 Satz 2 UStG 1973) zu berücksichtigen. Ferner waren auch persönliche Gesichtspunkte in die Überlegungen einzubeziehen (Aufzeichnungspflicht, Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse gegenüber Steuerberater und Fiskus; vgl. Flock, Die Information über Steuer und Wirtschaft 1982, 102). Zu den regelmäßig vorliegenden Umständen gehörte, daß einige Steuerpflichtige die steuerliche Gestaltungsmöglichkeit nicht kannten oder sie zwar generell kannten, aber nicht im Einzelfall prüften, oder nur die Frist nicht kannten oder sie übergingen, und dies jeweils mit oder ohne steuerliche Beratung. Weil jeder Land- und Forstwirt die aufgezeigten Schwierigkeiten zu überwinden hatte, können diese Gesichtspunkte keine Unbilligkeit i. S. des § 24 Abs. 4 Satz 6 UStG 1973 in der genannten Fassung begründen.
Das auf die Fristversäumnis bezogene Merkmal der Unbilligkeit liegt hingegen insbesondere vor, wenn der Land- und Forstwirt im maßgeblichen Zeitpunkt entscheidungserhebliche Umstände nicht erkennen konnte, weil sie bereits eingetreten, aber noch nicht erkennbar waren, oder weil sie noch nicht eingetreten und auch nicht voraussehbar waren.
bb) Bei der Prüfung der ,,Unbilligkeit" kam es darüber hinaus auf die durch den Fristablauf eingetretenen Rechtsfolgen an, und zwar nicht auf die formelle Seite, d. h. den Ausschluß des Übergangs zur Regelbesteuerung, sondern auf die dem Steuerpflichtigen hieraus entstehenden materiellen Nachteile. Die der Ausübung des Wahlrechts zugrunde liegende Prognose war zwar grundsätzlich vom Steuerpflichtigen zu treffen. Im Fall eines Antrags auf rückwirkende Fristverlängerung hatten die Finanzbehörden jedoch die Auswirkungen des Übergangs zur Regelbesteuerung auf den Betroffenen in die Erwägungen einzubeziehen.
c) Der Senat hält es danach nicht für zutreffend, eine rückwirkende Fristverlängerung nur dann zuzulassen, wenn aufgrund besonderer betrieblicher Gegebenheiten die regelmäßig anfallenden Vorsteuern die Durchschnittsätze dauernd überstiegen. Bei verständiger Würdigung der Beschwerdeentscheidung wollte dies die OFD indes auch nicht ausdrücken. Die Beschwerdeentscheidung ist vielmehr so zu verstehen, daß sie für die Auslegung des Begriffs der ,,Unbilligkeit" sowohl auf die Erkennbarkeit der zur Wahl der Regelbesteuerung führenden Umstände bei Fristablauf als auch auf die Auswirkungen der Ablehnung der rückwirkenden Fristverlängerung auf den Kläger abstellte.
d) Angesichts des vom Kläger vorgetragenen Sachverhalts war die Versagung der rückwirkenden Fristverlängerung ermessensgerecht. Der Kläger hat nicht dargelegt, wann er die Investitionsentscheidungen getroffen hat, die zu den geltend gemachten hohen Vorsteuerbeträgen führten. Ob er zum Zeitpunkt des Ablaufs der Optionsfrist steuerlich beraten war oder nicht, ist, wie dargelegt, ebenso unerheblich wie seine etwa fehlende Kenntnis der Optionsmöglichkeit oder der hierfür bestehenden Frist. Die Möglichkeit der Wahl der Regelbesteuerung ist für einen Land- und Forstwirt von so grundlegender Bedeutung, daß von ihm zu erwarten ist, daß er sich insoweit kundig macht, ggf. durch fachliche Beratung. Weitere Ermittlungen der OFD hierzu drängten sich nicht auf. Die OFD konnte davon ausgehen, daß der Kläger mit den Investitionsplanungen angesichts ihrer Größenordnung nicht erst nach Fristablauf begonnen hatte, zumal die Investitionen bereits im Jahr 1979 durchgeführt worden waren.
Fundstellen
Haufe-Index 417853 |
BFH/NV 1992, 208 |