Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
1.ß 92 Abs. 3 AO findet keine Anwendung auf rechtskräftige Steuerbescheide, wenn durch eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs in einer Rechtsfrage entgegen der Auffassung von Verwaltungsrichtlinien erkannt wird, die den Steuerbescheiden zugrunde liegt.
2.Steuergerichte (Finanzgerichte und Bundesfinanzhof) sind keine Aufsichtsbehörden im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO.
AO §§ 92 Abs. 3, 222.
Normenkette
AO § 92 Abs. 3, § 92/2, § 222/1/3, § 222 Abs. 1 Nr. 4
Tatbestand
Streitig ist, ob §§ 92 Abs. 3 bzw. 222 der Reichsabgabenordnung (AO) auf rechtskräftige Steuerbescheide angewendet werden können, wenn durch eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs eine zweifelhafte Rechtsfrage entgegen der Auffassung von Verwaltungsrichtlinien entschieden wird.
Die Beschwerdeführerin (Bfin.), die im Handelsregister eingetragen ist, hat die Verbindung der Geschäftsjahre II/1948 und 1949 rechtzeitig gemäß § 3 der 17. Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Dritten Gesetzes zur Neuordnung des Geldwesens (UGDV) dem Registergericht angezeigt. Das Finanzamt hat ihr bei der ursprünglichen einheitlichen Gewinnfeststellung für II/1948 und 1949 die zeitliche Aufteilung der Gewinne (was der Verbindung dieser Jahre gleichkommt) zuerkannt. Auf Grund einer bei der Bfin. stattgefundenen Betriebsprüfung hat das Finanzamt die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung für die genannten Jahre verneint und deshalb gemäß Abschn. 12 der Einkommensteuer-Richtlinien (EStR) II/1948 und 1949 durch entsprechende Berichtigungsbescheide die zeitliche Aufteilung der Gewinne auf die beiden Veranlagungszeiträume versagt. Die Berichtigungsbescheide hat die Bfin. rechtskräftig werden lassen.
Im Urteil des Bundesfinanzhofs I 72/52 U vom 10. Oktober 1952, Slg. Bd. 57 S. 4, Bundessteuerblatt (BStBl) 1953 III S. 3, ist zur Frage der Verbindung der Geschäftsjahre II/1948 und 1949 entschieden, daß ihre steuerliche Auswirkung nicht dadurch berührt wird, daß die Buchführung den Grundsätzen einer ordnungsmäßigen Buchführung nicht entspricht.
Nach mehreren vergeblichen Versuchen der Bfin., im Verwaltungswege eine Änderung der Steuerbescheide im Sinne der oben genannten Rechtsprechung, allenfalls im Billigkeitswege gemäß § 131 AO, zu erreichen, hat die Bfin. unter dem 22. Januar 1954 beim Finanzamt den Antrag gestellt, "den Feststellungsbescheid dahin zu berichtigen, daß die Veranlagung wieder unter Verbindung der Geschäftsjahre II/1948 und 1949 erfolgt". Sie behauptet, es handle sich bei der Berichtigung um eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 92 Abs. 3 AO.
Das Finanzamt lehnte den Antrag ab. Einspruch und Berufung blieben ohne Erfolg. Dieser ist auch der Rechtsbeschwerde zu versagen.
Entscheidungsgründe
Zu Unrecht hält die Bfin. durch die Vorentscheidung § 92 Abs. 3 AO für verletzt. Der Bundesfinanzhof hat in zahlreichen Entscheidungen (vgl. u. a. II 113/53 U vom 10. Juni 1953, Slg. Bd. 57 S. 558, BStBl 1953 III S. 214; IV 320/53 U vom 18. Februar 1954, Slg. Bd. 58 S. 585, BStBl 1954 III S. 133; IV 486/53 U vom 18. November 1954, Slg. Bd. 60 S. 52, BStBl 1955 III S. 19) ausgesprochen, daß § 92 Abs. 3 AO nicht angewendet werden kann, wenn auch nur die Möglichkeit eines Rechtsirrtums besteht. An dieser Rechtsprechung wird festgehalten. Ein Fehler im Sinne der genannten Vorschrift kann aber noch weniger gegeben sein, wenn die Rechtsfrage, um die es sich handelt, vor der Entscheidung des Bundesfinanzhofs umstritten war und wenn die Steuerbehörden entsprechend der Auslegung vorgegangen sind, die in Verwaltungsanweisungen (Richtlinien) enthalten ist.
Die Bedeutung der Ordnungsmäßigkeit der Buchführung für die Verbindung der Geschäftsjahre II/1948 und 1949 war, wie aus der Begründung des Urteils des Bundesfinanzhofs I 72/52 U hervorgeht, umstritten. Auch die Entscheidungen der Finanzgerichte über diese Frage gingen auseinander. Das Finanzamt hat somit, von der Richtigkeit seiner Auffassung, die mit den EStR Abschn. 12 übereinstimmte, überzeugt, seine Entscheidung getroffen. Eine "offenbare Unrichtigkeit" im Sinne des § 92 Abs. 3 AO kann also nicht vorliegen, da es sich nicht um einen Fehler handelt, der eine mechanische "offenbare Unrichtigkeit" beinhaltet. Die Richtigkeit dieser Auffassung ergibt sich insbesondere aus der oben angeführten Entscheidung IV 486/53 U, wo das Übersehen einer gesetzlichen Vorschrift durch das Finanzamt nicht als Fehler im Sinne des § 92 Abs. 3 AO anerkannt worden ist. Demnach müssen im vorliegenden Falle, wie in dem Urteil II 113/53 U dargelegt ist, hinter dem Gedanken der Rechtskraftwirkung der unanfechtbaren Verfügung (Bescheides) der Finanzbehörde die Interessen der Beteiligten (Steuerverwaltung und Steuerpflichtiger) und der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung zurücktreten. Der Schutz des Steuerpflichtigen vor einer Wiederaufrollung des Steuerverfahrens - abgesehen von den gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen wie ß 92 Abs. 3, § 94, § 222 AO - kann nach diesem Urteil nicht nach seiner materiellen Auswirkung abgestuft oder abgeändert werden. Die Entscheidung muß hiernach für Verfügungen (Bescheide) über die gleichen Steuern gleich sein. Darum ist im vorliegenden Falle der Gedanke der Gleichheit der Steuerpflichtigen vor dem Gesetz im Sinne des Art. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland nicht verletzt; denn sämtliche Steuerpflichtige und die Finanzverwaltungsbehörde sind bei dem gleichen Sachverhalt gleichmäßig vor einer Abänderung des Bescheids geschützt, gleichgültig welcher Beteiligte aus der Berichtigung Vorteile ziehen könnte. Eine andere Auffassung würde zur Wiederaufrollung sämtlicher abgeschlossenen Verfahren führen, wenn eine Auslegung des Gesetzes, die in Verwaltungsanweisungen niedergelegt ist, von den Finanzgerichten insbesondere vom Bundesfinanzhof nicht gebilligt wird.
Eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO kommt nicht in Frage, weil, wie das Finanzgericht zutreffend ausgeführt hat, der Fehler nicht durch die Aufsichtsbehörde aufgedeckt ist, sondern sich aus einer nachträglichen Rechtsprechung ergibt. Der Bfin. kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie als Aufsichtsorgan im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 4 a. a. O. auch die Finanzgerichte angesehen wissen will (vgl. Urteil des ReichsfinanzhofsVI A 215/36 vom 25. März 1936, Reichssteuerblatt 1936 S. 407).
Fundstellen
Haufe-Index 408446 |
BStBl III 1956, 137 |
BFHE 1956, 372 |
BFHE 62, 372 |