Entscheidungsstichwort (Thema)
Überschreitung der Zweiwochenfrist des § 104 Abs. 2 FGO kein Verfahrensmangel i. S. v. § 116 FGO; Abfassung eines Urteils innerhalb eines Jahres nach mündlicher Verhandlung nur unter bestimmten Umständen Verfahrensmangel i. S. v. § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO; Übergehen eines weder im Tatbestand des Urteils noch im Sitzungsprotokoll enthaltenen Antrags kein Verfahrensmangel i. S. v. § 116 Abs. 1 Nr. 5
Leitsatz (NV)
1. Die Überschreitung der Zweiwochenfrist des § 104 Abs. 2 FGO ist für sich allein kein Verfahrensmangel i. S. v. § 116 FGO.
2. Liegen zwischen Verkündung eines Urteils oder - bei Zustellung an Verkündungs Statt - zwischen dem Ende der Zweiwochenfrist nach § 104 Abs. 2 FGO und der schriftlichen Abfassung weniger als 12 Monate, ist ein wesentlicher Verfahrensmangel i. S. v. § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nur anzunehmen, wenn Umstände erkennbar sind, daß die Entscheidungsgründe als Folge der verzögerten Abfassung das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und Beratung nicht mehr zuverlässig wiedergeben.
3. Die Rüge, das Urteil sei nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO), weil das FG in den Entscheidungsgründen einen selbständigen Antrag übergangen habe, kann die zulassungsfreie Revision nur dann eröffnen, wenn aus dem Tatbestand oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist, daß der Kläger einen solchen Antrag gestellt hat.
Normenkette
FGO §§ 104, 116, 155; ZPO § 561 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war in den Streitjahren 1972 und 1973 in leitender Stellung bei der R-Bau GmbH Betreuungs KG (R-Bau) tätig. Daneben betrieb er unter dem Namen seiner Ehefrau ein . . .büro.
Der Kläger sowie der Geschäftsführer der R-Bau M vereinbarten 1972 mit dem schon seit längerer Zeit für die R-Bau tätigen Immobilienmakler G, ,,im Sinne einer besseren Zusammenarbeit" die Provisionen an G für die ,,Vermittlung" von Grundstücken auf 5 v. H. zu erhöhen und G auch Provisionen in solchen Fällen zukommen zu lassen, in denen er nicht oder nicht ursächlich am Erwerb von Grundstücken mitgewirkt hatte. Von den vereinnahmten Provisionen sollte G je 1/3 an M und den Kläger abgeben.
Nach den Feststellungen des Landgerichts in einem Strafverfahren gegen den Kläger wegen Steuerhinterziehung zahlte G aufgrund dieser Abrede an den Kläger im Jahr 1972 . . . DM und im Jahr 1973 . . . DM. Außerdem hatte der Kläger im Jahr 1972 Erlöse aus einem Wechselgeschäft in Höhe von . . . DM nicht versteuert: Er hatte von G zwei gefährdete Wechsel von zusammen . . . DM für etwa die Hälfte der Wechselsumme erworben, die letztlich vom Bezogenen vollständig eingelöst wurden.
Das Landgericht verurteilte den Kläger wegen Steuerhinterziehung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren, weil er die ,,Vermittlungsprovisionen" und den Erlös aus dem Wechselgeschäft in den Einkommensteuererklärungen nicht angegeben hatte.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) behandelte diese Beträge zunächst als Einkünfte aus sonstigen Leistungen (§ 22 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). In den geänderten und vom Kläger zum Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens gemachten Einkommensteuerbescheiden 1972 und 1973 nahm das FA dagegen Einkünfte aus Gewerbebetrieb an.
Während des finanzgerichtlichen Verfahrens führte der Berichterstatter mit den Beteiligten am 13. April 1984 und am 24. Februar 1987 Erörterungstermine durch. Nach den Niederschriften waren die Beteiligten damit einverstanden, daß das Finanzgericht (FG) seiner Entscheidung die tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts - mit einigen im einzelnen aufgeführten Ausnahmen - zugrunde legt. Nachdem sich die Beteiligten über einige Streitpunkte geeinigt hatten, erklärte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers im zweiten Erörterungstermin, es gehe nur noch darum, ob die streitigen Beträge als steuerbar anzusehen seien. Er beantragte, die Einkommensteuer 1972 und 1973 auf . . . DM festzusetzen.
Am 30. April 1987 wurde vor dem FG mündlich verhandelt. Der Kläger nahm an der mündlichen Verhandlung nicht teil, sondern ließ sich - wie auch schon in den Erörterungsterminen - durch seinen Prozeßbevollmächtigten vertreten. Ausweislich des Sitzungsprotokolls trug der Berichterstatter den wesentlichen Inhalt der Akten vor; die Beteiligten stellten die Anträge wie im Erörterungstermin vom 24. Februar 1987. Sie erklärten sich weiterhin damit einverstanden, daß in tatsächlicher Hinsicht die Feststellungen des Landgerichts zugrunde gelegt werden und der vom FG beigezogene Beweismittelordner im Wege des Urkundsbeweises herangezogen wird. Die Vorgänge auf Bl. 37 bis 45, 157 bis 159 und 271 bis 272 des Beweismittelordners (= FG-Akte II, Bl. 180 bis 188, 220 bis 222 und 247 bis 248) wurden mit den Beteiligten erörtert; Bl. 248 bis 249 des Beweismittelordners (= FG-Akte II, Bl. 225 und 226) wurde verlesen; von Bl. 147 bis 150 (= FG-Akte II, Bl. 216 bis 219) erhielten die Beteiligten Abschriften. Bei einer Einsicht in die Akten am Tag vor der mündlichen Verhandlung hatte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers außerdem weitere Kopien aus dem Beweismittelordner - u. a. von Bl. 37 bis 49 (= FG-Akte Bl. 180 bis 192) - erhalten.
Das FG wies die Klage ab. Das Urteil wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers mit Postzustellungsurkunde am 23. März 1988 zugestellt.
Mit der Revision macht der Kläger wesentliche Verfahrensmängel nach § 116 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend. Aus den FG-Akten sei nicht ersichtlich, daß die von den Berufsrichtern unterschriebene Urteilsformel innerhalb der Zweiwochenfrist des § 104 Abs. 2 FGO bei der Geschäftsstelle hinterlegt worden sei. Die Nichteinhaltung der Zweiwochenfrist werde als selbständiger Revisionsgrund gerügt. Außerdem sei das Urteil erst zehn Monate und neun Tage nach Ablauf der Zweiwochenfrist des § 104 Abs. 2 FGO zugestellt worden und deshalb nicht mit Gründen versehen (§ 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO). Im Streitfall seien keine Gründe ersichtlich, die die verspätete Abfassung rechtfertigen. Nach so langer Zeit sei es ausgeschlossen, daß dem Richter die Gründe, die zur Urteilsfindung geführt hätten, noch im einzelnen in Erinnerung seien. Dies werde auch dadurch belegt, daß das Urteil teils unzutreffende Verweisungen enthalte, teils auf Akten Bezug nehme, die nicht Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung gewesen seien oder mit deren Verwertung sich der Kläger nicht einverstanden erklärt habe (FG-Urteil S. 22 Tz.1.2.5 sowie der Randvermerk hierzu und S. 23 Tz.1.2.7). Dem Urteil könne daher nicht mehr die Beurkundungsfunktion zugesprochen werden, die die schriftlichen Gründe zu erfüllen hätten. Außerdem sei das Urteil nicht mit Gründen versehen, weil in den Entscheidungsgründen ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel übergangen worden sei. Als ein solches selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel sei der in der mündlichen Verhandlung vorgetragene, aber nicht protokollierte Einwand zu werten, die empfangenen Provisionsanteile hätten im Wege eines einheitlichen Gewinnfeststellungsverfahrens nach § 180 der Abgabenordnung (AO 1977) zugerechnet werden müssen, um der Einkommensteuer unterworfen werden zu können.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet.
1. Die Rüge des Klägers, die Urteilsformel sei entgegen § 104 Abs. 2 FGO nicht innerhalb von 2 Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben worden, ergibt keinen wesentlichen Verfahrensmangel, der die zulassungsfreie Revision eröffnet. Eine Verletzung des § 104 Abs. 2 FGO ist in § 116 Abs. 1 FGO nicht aufgeführt. Bei § 104 Abs. 2 FGO handelt es sich lediglich um eine Ordnungsvorschrift. Eine Überschreitung der Frist ist für sich allein kein in der Revision beachtlicher Verfahrensmangel (z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22. Februar 1980 VI R 132/79, BFHE 130, 126, BStBl II 1980, 398; BFH-Beschluß vom 22. Januar 1988 IX R 163/87, nicht veröffentlicht - NV -; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 19. Januar 1987 9 C 247.86, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1987, 1110; offengelassen im BFH-Urteil vom 10. November 1987 VII R 47/87, BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283).
2. Auch die späte Abfassung des Urteils verletzt im Streitfall nicht § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO.
Nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel vor, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Auch wenn das Urteil - entsprechend § 105 Abs. 2 Nr. 4, 5 FGO - Tatbestand und Entscheidungsgründe enthält, gilt es als ,,nicht mit Gründen versehen", wenn zwischen mündlicher Verhandlung und Beratung der schriftlichen Abfassung des Urteils ein so langer Zeitraum liegt, daß die zutreffende Wiedergabe des Beratungsergebnisses nicht mehr gewährleistet erscheint. Nach der neueren Rechtsprechung des BFH und des BVerwG ist dies regelmäßig anzunehmen, wenn zwischen Verkündung oder - bei Zustellung an Verkündungs Statt - zwischen dem Ende der Zwei-Wochenfrist nach § 104 Abs. 2 FGO und der schriftlichen Abfassung mehr als ein Jahr liegt (BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283, m. w. N. BFH-Urteil vom 23. August 1988 VII R 40/88, BFHE 154, 422, BStBl II 1989, 43, sowie BVerwG-Urteil vom 10. August 1988 4 CB 19/88, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1989, 730, m. w. N.). Wird das Urteil mit einer zeitlichen Verzögerung von weniger als 12 Monaten abgefaßt, müssen Umstände vorliegen, die dafür sprechen, daß die Entscheidungsgründe als Folge der verzögerten Abfassung das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und der Beratung nicht mehr zuverlässig wiedergeben (z. B. BVerwG-Beschluß vom 29. Dezember 1988 3 CB 42.87, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 310 § 133 VwGO Nr. 86, sowie BFH-Beschlüsse vom 14. August 1986 III R 44/86, BFH/NV 1987, 102, und vom 22. August 1989 VIII R 215/85, NV).
Derartige Umstände sind im Streitfall nicht erkennbar. Das Urteil beruht im Tatsächlichen auf den Feststellungen des Landgerichts. Die Beteiligten haben sich sowohl im Erörterungstermin als auch in der mündlichen Verhandlung damit einverstanden erklärt, daß das FG diese Feststellungen - mit den in der Niederschrift erklärten Abweichungen - zugrunde legt und den Beweismittelordner im Wege des Urkundenbeweises heranzieht. Außerdem ist der Streitfall in umfangreichen Schriftsätzen erörtert worden. Da der Kläger zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen ist, konnte es auch auf einen persönlichen Eindruck nicht ankommen. Es ist daher nicht ersichtlich, inwiefern der Zusammenhang mit der mündlichen Verhandlung bei Abfassung des Urteils verlorengegangen sein sollte.
Auch die vom Kläger angeführten Tz. 1.2.5 und 1.2.7 des Urteils können einen mangelnden Zusammenhang zwischen Urteil und mündlicher Verhandlung oder der Beratung nicht belegen. Der in Tz.1.2.5 geschilderte Sachverhalt ergibt sich aus Bl. 39 und 45 des Beweismittelordners (= FG-Akte Bl. 182 und 188). Von beiden Fundstellen erhielt der Prozeßbevollmächtigte des Klägers, als er die Akten beim FG einsah, Kopien (FG-Akte Bl. 255 Rückseite). Außerdem wurden diese Vorgänge ausweislich des Protokolls in der mündlichen Verhandlung erörtert. Der in Tz.1.2.7 beschriebene Sachverhalt erschließt sich aufgrund von Veräußerungsmitteilungen in der Einkommensteuerakte und sollte nur beispielhaft die vielfältigen Rechtsbeziehungen zwischen der R-Bau und dem Kläger (einschließlich seines Büros) aufzeigen. Auch wenn dieser - für die Entscheidung im übrigen unwesentliche - Vorgang in der mündlichen Verhandlung nicht erörtert wurde, ist dies kein Beweis dafür, daß der Zusammenhang zwischen mündlicher Verhandlung und Urteilsabfassung fehlt. Das Gericht braucht mit den Beteiligten nicht jeden denkbaren Gesichtspunkt in der mündlichen Verhandlung zu erörtern.
3. Ebenfalls nicht begründet ist die Rüge des Klägers, das Urteil sei wegen Übergehens eines ,,selbständigen Angriffs- oder Verteidigungsmittels" i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ,,nicht mit Gründen versehen".
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist eine Entscheidung zwar auch dann ,,nicht mit Gründen versehen", wenn die Entscheidungsgründe unvollständig sind, weil sie einen selbständigen Anspruch oder ein ,,selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel" übergehen (z. B. Urteil vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492, sowie Beschlüsse vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351, und vom 17. September 1987 IV R 161/85, BFH/NV 1989, 245). Ein solcher Mangel muß sich aber aus einem Vergleich des Tatbestandes oder des Sitzungsprotokolls mit den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ergeben; denn der Beurteilung des Revisionsgerichts unterliegt nur dasjenige Parteivorbringen, das aus dem Tatbestand des angefochtenen Urteils oder dem Sitzungsprotokoll ersichtlich ist - § 155 FGO i. V. m. § 561 Abs. 1 Satz 1 ZPO - (BFH-Urteile vom 7. August 1974 II R 177/73, BFHE 113, 540, BStBl II 1975, 119; vom 5. Mai 1976 I R 121/74, BFHE 119, 59, BStBl II 1976, 541, und vom 5. Mai 1977 V R 141/72, BFHE 122, 190).
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Der vom FG angeblich übergangene Einwand ist - wie der Kläger selbst vorträgt - nur in der mündlichen Verhandlung erhoben und nicht protokolliert worden. Ein Hinweis auf einen solchen Einwand ergibt sich weder aus dem Tatbestand noch aus den Entscheidungsgründen des Urteils.
Für eine Rüge nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO hätte der Kläger daher zuvor den Tatbestand des Urteils (§ 108 FGO) oder das Sitzungsprotokoll (§ 94 FGO i. V. m. § 164 ZPO) berichtigen lassen müssen (BFHE 113, 540, BStBl II 1975, 119; BFHE 119, 59, BStBl II 1976, 541, und BFHE 122, 190).
Fundstellen
Haufe-Index 417023 |
BFH/NV 1991, 49 |