Entscheidungsstichwort (Thema)
Besetzungsrüge wegen geschäftsplanmäßiger Unzuständigkeit des erkennenden Gerichts
Leitsatz (NV)
1. Zu den Anforderungen an die Besetzungsrüge wegen unrichtiger Anwendung des Geschäftsverteilungsplans (hier: Bezugnahme auf einschlägige Ausführungen in der Vorentscheidung).
2. Die Rüge eines Verstoßes gegen Geschäftsverteilungsregelungen greift nur bei Vorliegen von Willkür durch, nicht bei einfachen Abweichungen von dem Geschäftsverteilungsplan (fehlerhafte Auslegung).
Normenkette
FGO § 116 Abs. 1 Nr. 1, § 120 Abs. 2, § 4; GVG § 21e
Verfahrensgang
Tatbestand
Das Finanzgericht (FG) - sein A. Senat - wies die am 1. Oktober 1984 eingegangene Klage gegen einen Lohnsteuerhaftungsbescheid des Finanzamts (FA) aus Sachgründen ab, obwohl es sich geschäftsplanmäßig für nicht zuständig hielt. Es führte insoweit aus, die an sich in seine geschäftsplanmäßige Zuständigkeit - Lohnsteuer, u. a. für Sachen aus dem Bezirk des FA - fallende Streitsache sei bei Eingang der Klage durch Beschluß des Präsidiums vom 13. Dezember 1983 seiner (des erkennenden A. Senats) Entscheidungsbefugnis entzogen gewesen. Durch diesen durch die folgenden Geschäftsverteilungspläne nicht geänderten Beschluß sei ,,die Zuständigkeit für die ab 1. Januar 1984 im Zuständigkeitsbereich dieses (des A.) Senats eingehenden Streitsachen" zu dessen Entlastung ,,bis zur Zahl 300" nach bestimmter Maßgabe - fortlaufende Zuteilung der Eingänge - auf die anderen Senate verteilt worden. Dieser Beschluß sei durch Präsidiumsbeschluß vom 23. Dezember 1983, ergangen im Umlaufverfahren, dahin geändert worden, daß die Eingänge bei der Geschäftsstelle A. den anderen Senaten bis zum Erreichen der für jeden Senat bestimmten Gesamtzahl bis zur 10. Woche 1984 wochenweise, danach im arbeitstäglichen Wechsel, zugeteilt werden sollten. Durch Präsidiumsbeschluß vom 31. Januar 1984 sei unter anderem ein wöchentlicher Wechsel vorgeschrieben worden. Die Klage in der vorliegenden Streitsache sei zunächst beim B. Senat registriert, dann auf Bitte des Vorsitzenden dieses Senats (vom 14. November 1984) vom Vorsitzenden des A. Senats zunächst übernommen worden. Der A. Senat habe sich indessen für unzuständig gehalten, weil die Klage - nach der Klageschrift ersichtlich Lohnsteuer-Haftung (,,§ 69 AO") betreffend - noch zur Zeit der Entlastungsregelung eingegangen sei. Er habe daher das Präsidium angerufen. Dieses habe am 27. November 1984 beschlossen, daß die Sache ,,in der Zuständigkeit des A. Senats" verbleibe, und zur Begründung ausgeführt, die Entlastungsregelung habe sich nach dem festgelegten zahlenmäßigen Verteilungsschlüssel gerichtet, die Zuständigkeit des jeweiligen anderen Senats sei mithin durch entsprechende Registrierung begründet worden, die damit erfolgte Konkretisierung des gesetzlichen Richters für 300 Streitsachen könne nach Durchführung der Verteilung - Abschluß der Entlastungsaktion am 15. Oktober 1984 - nicht rückwirkend verändert werden. Diesen Standpunkt habe auch der C. Senat vertreten, der aufgrund der Entlastungsregelung für die Entscheidung über die Klage in dieser Streitsache zuständig gewesen sei. Nachdem der Bundesfinanzhof - BFH - durch Beschluß vom 18. Februar 1986 VII S 39/85 (BFHE 146, 14, BStBl II 1986, 357, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1986, 302 mit Anmerkung, Zeitschrift für Zivilprozeß 1987, 81 mit Anmerkung von Sangmeister) dem Ersuchen des FG (A. Senat), den für die Entscheidung zuständigen Senat zu bestimmen, nicht stattgegeben habe, sei der Streitfall abermals dem Präsidium vorgelegt worden, das durch Beschluß vom 23. Mai 1986 entschieden habe. Das Präsidium hat in diesem vom FG in Bezug genommenen Beschluß zum Ausdruck gebracht, es habe weder Anlaß noch Befugnis, seine rechtmäßige Entscheidung vom 27. November 1984 aufzuheben oder zu ändern, und sich zur Begründung darauf gestützt, die Klageschrift habe nicht erkennen lassen, ob sie ausschließlich Lohnsteuer betroffen habe; für die erst nach Abschluß der Entlastungsaktion erfolgte Klärung sei der A. Senat als ,,Bezirkssenat" zuständig gewesen.
Das FG legte hierzu dar, das vorliegende Verfahren habe, auch unter Berücksichtigung des Präsidiumsbeschlusses vom 23. Dezember 1983, der nur die Verteilung der Streitsachen geregelt, aber keine den laut Geschäftsverteilungsplan maßgebenden Beschluß vom 13. Dezember 1983 modifizierende Zuständigkeitsregelung getroffen habe, im Abgabezeitpunkt nicht als Neuzugang behandelt werden dürfen; vielmehr habe es zu diesem Zeitpunkt bereits seinen gesetzlichen Richter gehabt. Die Zuständigkeit des A. Senats ergebe sich auch nicht aus dem Präsidiumsbeschluß vom 27. November 1984.
Ferner führte das FG aus, es könne ungeachtet seiner Überzeugung von seiner Unzuständigkeit nach Ergehen des Präsidiumsbeschlusses vom 23. Mai 1986 nur noch in der Sache selbst entscheiden, da die weitere Bearbeitung nicht abgelehnt werden dürfe und ein Prozeßurteil gegen den Kläger ausscheide.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, der vorbringt, die Überlegungen des FG zur Frage des gesetzlichen Richters hätten ergeben, daß der grundgesetzlich gesicherte Anspruch auf den gesetzlichen Richter nicht gewahrt und die Entscheidung des FG nur erfolgt sei, um seinem - des Klägers - Justizgewährungsanspruch nachzukommen. Er - der Kläger - habe jedoch nicht einen allgemeinen, sondern einen untrennbar mit dem gesetzlichen Richter verbundenen Justizgewährungsanspruch. In Fortführung der überzeugenden Darlegungen des FG ergebe sich, daß ein verfassungsrechtlich gesehen unzuständiges Gericht tätig geworden sei, so daß das Urteil wegen eines grundlegenden Verfassungsverstoßes aufzuheben und (die Sache) an den zuständigen Senat zurückzuverweisen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision kann keinen Erfolg haben.
Bedenken bestehen bereits gegen ihre Zulässigkeit. Zwar ist sie als zulassungsfreie Revision gemäß § 116 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO - statthaft, denn mit der sog. Besetzungsrüge kann auch die unrichtige Anwendung des Geschäftsverteilungsplanes gerügt werden, soweit durch dessen fehlerhafte Anwendung der Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt worden ist (Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 25. November 1964 V C 16.63, BVerwGE 20, 39, 41; Senat, Beschluß vom 7. Mai 1985 VII R 7/85, BFH/NV 1986, 612; vgl. auch Senat in BFHE 146, 14, 18, BStBl II 1986, 357). Indessen muß den formellen Anforderungen an eine Verfahrensrevision genügt werden. Werden Verfahrensmängel gerügt, so müssen spätestens in der Revisionsbegründung die Tatsachen bezeichnet werden, die den Mangel ergeben (§ 120 Abs. 2 FGO). Im Falle der Besetzungsrüge müssen Tatsachen vorgetragen werden, die geeignet erscheinen, eine Verletzung der Vorschriften über die Besetzung des Erstgerichts darzutun (BFH, Urteile vom 28. November 1968 I R 101/68, BFHE 94, 207, BStBl II 1969, 115, und vom 30. Oktober 1974 I R 40/72, BFHE 114, 85, BStBl II 1975, 232; Beschluß vom 5. März 1970 V R 135/68, BFHE 98, 239, BStBl II 1970, 384; BVerwG, Beschluß vom 18. März 1982 9 CB 1076.81, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts 310, § 133 VwGO Nr. 35); dies bedingt eine Auseinandersetzung mit den Einzelheiten der einschlägigen Geschäftsverteilung, die insbesondere erforderlich ist, weil die Besetzungsrüge nur bei Vorliegen von Willkür durchzugreifen vermag (BVerwG, Beschluß vom 17. Dezember 1982 8 C B 83.80, a.a.O., § 138 Ziffer 1 VwGO Nr. 24). Hierfür hätte es einer Darlegung der Gründe bedurft, die den kompetenzkonfliktentscheidenden Beschluß des Präsidiums des FG vom 27. November 1984 als willkürlichen Verstoß gegen die (im Zeitpunkt der Sachentscheidung noch fortgeltende) geschäftsplanmäßige Entlastungsregelung erscheinen lassen könnten. An eigenen Darlegungen dieser Art läßt es die Revisionsbegründung fehlen; sie bezieht sich vielmehr pauschal auf die ,,in hohem Maße anerkennenswerten rechtsstaatlichen Überlegungen des FG zur Frage des gesetzlichen Richters".
Wegen der Besonderheiten des vorliegenden Falles, der sich dadurch kennzeichnet, daß der Spruchkörper, der die Vorentscheidung getroffen hat, selbst sich ausdrücklich für unzuständig erklärt und dies im einzelnen begründet hat, könnte die Besetzungsrüge gleichwohl für zulässig erhoben erachtet werden, wenn sich bereits die Vorentscheidung mit allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten auseinandergesetzt und die Revision diese Erwägungen sich klar und vollständig zu eigen gemacht hätte (vgl. auch zu den Anforderungen an eine unter Bezugnahme auf die Gründe der Vorentscheidung erhobene Aufklärungsrüge BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 1957 IV C 267.57, BVerwGE 6, 69). Ob diese Voraussetzungen im Streitfall gegeben sind, ob (durch Bezugnahme) gerügt wird, die durch Beschluß vom 23. Mai 1986 bestätigte Entscheidung des Präsidiums vom 27. November 1984 sei willkürlich getroffen worden, erscheint zweifelhaft.
Jedenfalls ist die Verfahrensrüge, unterstellt, daß sie zulässig erhoben ist, unbegründet, weil der behauptete Verfahrensmangel nicht vorliegt. Die mit einem Verstoß gegen Regelungen der Geschäftsverteilung (§ 4 FGO, § 21 e des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG -; dazu Kissel, GVG, 1981, § 21 e Rdnr. 108) begründete Rüge vorschriftswidriger Besetzung kann nur im Falle eines qualifizierten Verstoßes, bei Vorliegen von Willkür, Erfolg haben (BVerwG, Beschluß in Buchholz, § 138 Ziffer 1 VwGO Nr. 24 mit Rechtsprechungsnachweisen); ein solcher Verstoß muß objektiv vorliegen, die Bewertung durch die Vorinstanz ist nicht entscheidend. Die bloße Möglichkeit einer objektiven Abweichung von der Zuständigkeitsregelung des Geschäftsverteilungsplans bleibt außer Betracht (Bundesgerichtshof - BGH -, Urteil vom 13. Mai 1975 1 StR 138/75, Neue Juristische Wochenschrift 1975, 1424).
Unter diesem revisionsrechtlich eingeschränkten Blickwinkel kann in dem Präsidiumsbeschluß vom 27. November 1984 und darin, daß ihn das FG (A. Senat) im praktischen Ergebnis durch seine Entscheidung zur Sache beachtet hat, ein der Revision zum Erfolg verhelfender Rechtsverstoß nicht gefunden werden. Dabei braucht nicht darauf eingegangen zu werden, ob dieser Beschluß auf einer Auslegung der Geschäftsverteilungsregelung beruhte - dahin, daß der A. Senat von Anfang an (vgl. auch Präsidiumsbeschluß vom 23. Mai 1986) oder aufgrund einer in der Regelung angelegten Umverteilung nach abgeschlossener Entlastungsaktion (wieder) zuständig war (vgl. zur Umverteilung Kissel, a.a.O., Rdnr. 87) - oder ob er sich als Ergebnis einer Lückenfüllung darstellte (zu letzterer Senat in BFHE 146, 14, 16, BStBl II 1986, 357). Sowohl zur Auslegung des Geschäftsverteilungsplans als auch zur Füllung von Lücken desselben war das Präsidium aufgrund dieses Plans - rechtlich unbedenklich (vgl. BGH, Urteil vom 25. August 1975 2 StR 309/75, BGHSt 26, 191, 200) - ausdrücklich berufen. Weder unter dem einen noch unter dem anderen Gesichtspunkt kann in dem Beschluß des Präsidiums vom 27. November 1984 über die Zuständigkeit des A. Senats eine willkürliche Entscheidung, ein gewolltes Nichtbeachten der Sachgesetzlichkeit der Geschäftsverteilungsregelung (BVerwG in BVerwGE 20, 39, 43), gesehen werden. Der erkennende Senat hält vielmehr die in dem Beschluß getroffene Entscheidung über die Zuständigkeit des A. Senats nicht für willkürlich, gleich, ob sie als Ergebnis einer - zulässigen - Auslegung oder einer ebenfalls zulässigen, weil allgemeingültigen (wenn auch durch den Einzelfall veranlaßten) Lückenfüllung zu werten ist. Daß die Entscheidung nicht gegen die Sachgesetzlichkeit der Geschäftsverteilungsregelung verstieß, ergibt sich aus den ihr zugrunde liegenden, später durch eine neue Begründung ersetzten Erwägungen. Darauf, ob eine einfache Abweichung von dem Geschäftsverteilungsplan (durch fehlerhafte Auslegung desselben) vorliegt oder ob gegebenenfalls eine andere Entscheidung möglich gewesen wäre, kommt es nicht an.
Da lediglich eine Verfahrensrüge erhoben worden und kein Fall von § 115 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 FGO gegeben ist, war, wie geschehen, nur über den geltend gemachten Verfahrensmangel zu entscheiden (§ 118 Abs. 3 Satz 1 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 415224 |
BFH/NV 1988, 307 |