Leitsatz (amtlich)
Wird der die Vollziehung eines Steuerbescheides aussetzende Beschluß des FG aufgehoben, so können in der Regel für die Zeit vom Ergehen des finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses bis zur Beschwerdeentscheidung des BFH Säumniszuschläge nicht erhoben werden.
Normenkette
StSäumG § 1 Abs. 1; FGO §§ 69, 112, 131 Abs. 1; AO § 131
Tatbestand
Der Beklagte, Revisionskläger und Anschlußrevisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) forderte von der Klägerin, Revisionsbeklagten und Anschlußrevisionsklägerin (Klägerin) durch Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide vom 2. Juli 1969 für die Monate März und Mai 1969 u. a. 4 785,58 DM bzw. 5 691,08 DM Sonderumsatzsteuer aufgrund des Gesetzes über Maßnahmen zur außenwirtschaftlichen Absicherung gemäß § 4 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (Absicherungsgesetz) vom 29. November 1968 - AbsichG - (BGBl I, 1255, BStBl I 1968, 1203). Die Klägerin legte gegen beide Bescheide Beschwerde ein, die sie durch Schreiben vom 8. Juni 1970 wieder zurückgenommen hat. Gleichzeitig begehrte sie die Aussetzung der Vollziehung ab Fälligkeit. Das FA lehnte den Aussetzungsantrag ab. Daraufhin stellte die Klägerin durch Schreiben vom 22. September 1969 beim Finanzgericht (FG) den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung nach § 69 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Diesem gab das FG durch Beschluß vom 3. November 1969 statt. Auf die Beschwerde des FA hob der Bundesfinanzhof (BFH) durch Beschluß vom 21. Mai 1970 V B 4/70 den Aussetzungsbeschluß des FG auf und lehnte die begehrte Aussetzung der Vollziehung ab.
Das FA forderte nunmehr von der Klägerin durch Bescheide vom 24. Juni 1970 für die Zeit vom 11. Juli 1969 (Fälligkeitstag) bis 10. Juli 1970 Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 1 205 DM. Daraufhin wendete sich die Klägerin gegen die Festsetzung der Säumniszuschläge und begehrte daneben den Erlaß gemäß § 131 der Reichsabgabenordnung (AO). Diese Begehren lehnte das FA mit der Begründung ab, daß die Klägerin bewußt das Risiko eingegangen sei, bei Unterliegen im Aussetzungsverfahren Säumniszuschläge zahlen zu müssen. Die Oberfinanzdirektion (OFD) Münster wies die Beschwerde der Klägerin durch Beschwerdeentscheidung vom 4. Januar 1971 zurück.
Das FG hat der Klage, mit der die Klägerin begehrt, die Verfügung des FA vom 24. Juni 1970 über die Anforderung der Säumniszuschläge aufzuheben, hilfsweise, die Säumniszuschläge nach § 131 AO zu erlassen, teilweise stattgegeben. Es hat die Anforderung von Säumniszuschlägen für die Zeit nach Ergehen des finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses aufgehoben, im übrigen aber für Rechtens erklärt. Nach Auffassung des FG hat sein Aussetzungsbeschluß vom 3. November 1969 die Fälligkeit der strittigen Umsatzsteuervorauszahlungsbeträge hinausgeschoben, da die gegen ihn gerichtete Beschwerde des FA keine aufschiebende Wirkung gehabt habe (§ 131 Abs. 1 Satz 1 FGO). Das FA habe nach Ergehen dieses Beschlusses von der Klägerin keine Zahlung verlangen können, so daß folglich keine Säumniszuschläge hätten verwirkt werden können. An diesen Rechtswirkungen habe auch der den finanzgerichtlichen Beschluß vom 3. November 1969 aufhebende BFH-Beschluß V B 4/70 nichts ändern können, weil durch ihn der tatsächliche Zustand der Nichtsäumigkeit der Klägerin nicht rückwirkend beseitigt worden sei. Folge man dem nicht, dann sei aber wegen sachlicher Unbilligkeit ein Erlaß der Säumniszuschläge aus den vorbezeichneten Gründen geboten. Dagegen seien für die Zeit bis zum Ergehen des finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses Säumniszuschläge verwirkt und einem Billigkeitserlaß nicht zugänglich. Der Aussetzungsbeschluß des FG habe nur Wirkung für die Zukunft entfaltet (Hinweis auf BFH-Beschluß vom 20. April 1971 VII B 114/70, BFHE 101, 494, BStBl II 1971, 402). Bis zu seinem Ergehen sei der Kläger säumig gewesen. Wolle der Steuerpflichtige wegen des fehlenden Suspensiveffektes seines Rechtsbehelfs den Anfall von Säumniszuschlägen vermeiden, so müsse er zunächst zahlen. Tue er dies nicht, könne er sich nicht auf rechtliche Härte berufen. Diese Rechtslage sei bewußt gewollt.
Mit der vom FG zugelassenen Revision begehrt das FA die Aufhebung der Vorentscheidung und die Abweisung der Klage. Es beanstandet die Verletzung materiellen Rechts (§ 1 Abs. 1 des Steuersäumnisgesetzes - StSäumG -, § 131 FGO, § 131 AO) und trägt dazu vor: Zwar sei es richtig, daß die Beschwerde gegen den finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschluß nach § 131 FGO keine aufschiebende Wirkung gehabt habe. Damit sei aber nichts für die Entscheidung der Frage gewonnen, welche Rechtswirkungen eintreten, wenn der BFH als letzte Instanz den Aussetzungsantrag der Klägerin unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Beschlusses ablehne. Aus der Beseitigung der finanzgerichtlichen Entscheidung folge, daß die Klägerin letztlich während des gesamten gerichtlichen Aussetzungsverfahrens säumig gewesen sei. Auch ein Erlaß wegen sachlicher Unbilligkeit komme bei einer derartigen Sachlage nicht in Betracht. § 131 AO sei nicht dazu da, Prozeßrisiken abzuwenden.
Die Klägerin tritt der Revision des FA entgegen. Darüber hinaus begehrt sie im Wege der Anschlußrevision auch die Freistellung von den für die Zeit von Fälligkeit bis zum Ergehen der FG-Entscheidung am 3. November 1969 angeforderten Säumniszuschlägen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf eine mündliche Verhandlung vor dem Senat verzichtet (§§ 121, 90 Abs. 2 FGO).
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA sowie die Anschlußrevision der Klägerin sind unbegründet.
1. Die Klägerin hat die vom FA festgesetzten Umsatzsteuervorauszahlungsbeträge nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet und damit die geschriebenen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 StSäumG erfüllt. Denn das FG hat durch die von ihm angeordnete Aussetzung der Vollziehung schon deshalb nicht auf den Zeitpunkt der Fälligkeit eingewirkt, weil der BFH auf die Beschwerde des FA hin diese der materiellen Rechtslage widersprechende Finanzgerichtsentscheidung mit Wirkung ex tunc aufgehoben hat (vgl. BFH-Beschluß vom 14. Februar 1975 VI B 72/74, BFHE 115, 95, BStBl II 1975, 452; Kühn/Kutter/Hofmann, Abgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., FGO § 69 Anm. 5).
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sollen allerdings die Säumniszuschläge den Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Zahlung anhalten; sie sind ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung fälliger Steuern (z. B. Beschluß vom 8. Dezember 1975 GrS 1/75, BFHE 117, 352, BStBl II 1976, 262, mit weiteren Nachweisen). Im vorliegenden Falle stand dieser gesetzlichen Zielsetzung der finanzgerichtliche Aussetzzungsbeschluß entgegen, da von der Beschwerde des FA gemäß § 131 Abs. 1 FGO keine aufschiebende Wirkung ausging. Er erzeugte für die Dauer seiner Existenz die Tatbestandswirkung, daß das FA während dieser Zeit die Steuer nicht geltend machen durfte (vgl. Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht, Bd. I, 9. Aufl., § 20 V; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 108 Anm. 7; Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 12. Aufl., § 150 Nr. 5). Dies könnte die Frage nahelegen, ob nicht im Sinne der bisherigen Rechtsprechung die Vorschrift des § 1 StSäumG zusätzlich das ungeschriebene gesetzliche Tatbestandsmerkmal des "Entrichtenmüssens von Steuer" beinhaltet, dessen Vorliegen hier zu verneinen wäre.
Der Senat braucht indes dieser Frage nicht nachzugehen, da sich das Klagebegehren aufgrund des vom Kläger erstrebten Erlasses von Säumniszuschlägen wegen rechtlicher Unbilligkeit als begründet erweist. Denn während der Existenz des finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses war wegen der von ihm ausgehenden Tatbestandswirkung die Erhebung von Säumniszuschlägen jedenfalls nicht geeignet, den ihr beigelegten Zweck eines Druckmittels zu verwirklichen, und verfehlte somit den Sinn und Zweck des Steuersäumnisgesetzes. Dies ist jedenfalls als Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers zu beurteilen; es veranlaßt einen Erlaß der Säumniszuschläge aus sachlichen Billigkeitsgründen (vgl. auch BFH-Entscheidung vom 22. April 1975 VII R 54/72, BFHE 116, 87, BStBl II 1975, 727). Dabei kann das dem FA eingeräumte Ermessen nur in der Weise fehlerfrei ausgeübt werden, daß die nach Ergehen des finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses verwirkten Säumniszuschläge zu erlassen und bereits gezahlte oder verrechnete Säumniszuschläge zu erstatten sind (Ermessensreduzierung auf null).
Der Senat braucht in diesem Zusammenhang nicht zu entscheiden, ob in Fällen rechtskräftiger Abweisung der Anfechtungsklage im Hauptverfahren auch ein etwaiger nur teilweiser Erlaß auf 1/2 v. H. Säumniszuschläge je angefangenen Monat ermessensfehlerfrei wäre. Im Entscheidungsfall hat die Klägerin schon die Beschwerden gegen die Umsatzsteuervorauszahlungsbescheide zurückgenommen. Sie hätte nach der damaligen maßgeblichen Rechtslage daher selbst für den Fall, daß sie eine bestandskräftige Aussetzung der Vollziehung erlangt hätte, keine Aussetzungszinsen nach § 112 FGO entrichten müssen.
Da die nach Ergehen des finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses verwirkten Säumniszuschläge somit in voller Höhe zu erlassen sind, erweisen sich die ebenfalls angefochtenen Festsetzungsbescheide vom 24. Juni 1970 zugleich als rechtsfehlerhaft. Das FG hat daher diese noch nicht bestandskräftigen Bescheide im Ergebnis zutreffend insoweit aufgehoben.
2. Die Anschlußrevision der Klägerin ist ebenfalls unbegründet. Im Zeitpunkt des Ergehens des finanzgerichtlichen Aussetzungsbeschlusses waren die strittigen Säumniszuschläge bereits entstanden. Da der Aussetzungsbeschluß nach seinem Tenor Rechtswirkungen nur für die Zukunft entfaltete (vgl. Senatsbeschluß vom 23. Juni 1977 V B 41/73, BFHE 122, 258, BStBl II 1977, 645), konnten von ihm vom Tage der Fälligkeit der Vorauszahlungsbeträge bis zu seinem Ergehen keine Tatbestandswirkungen der oben geschilderten Art ausgehen. Die Vorinstanz hat daher zutreffend darauf. abgestellt, daß nach den Wertungen des Gesetzes die vor Ergehen des Aussetzungsbeschlusses entstandenen Säumniszuschläge ohne Rücksicht auf ein etwaiges Verschulden der Klägerin vom FA erhoben werden können (vgl. auch BFH-Beschluß VI B 72/74).
Fundstellen
Haufe-Index 72963 |
BStBl II 1979, 58 |
BFHE 1979, 9 |