Entscheidungsstichwort (Thema)
Kein Ansatz eigenen Vermögens volljähriger behinderter Kinder
Leitsatz (NV)
Bei Prüfung der Frage, ob ein volljähriges behindertes Kind, welches das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG), ist dessen Vermögen nicht zu berücksichtigen.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
FG Münster (EFG 2001, 759) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog Kindergeld für den im seinem Haushalt lebenden und im September 1978 geborenen Sohn M, der seit seiner Geburt behindert ist. Der Grad der Behinderung beträgt 100 v.H.; der Schwerbehindertenausweis weist die Merkzeichen H, G, aG und B aus.
M befand sich bis Juni 1999 in Schulausbildung; seit dieser Zeit übt er keine Berufs- oder Ausbildungstätigkeit mehr aus. Aus einem vom Kläger geschenkten Kapitalvermögen in Höhe von X DM erzielte er 1999 Erträge in Höhe von Y DM. Andere Einkünfte oder Bezüge hatte M nicht.
Auf den Antrag des Klägers vom Juni 1999, weiterhin Kindergeld zu zahlen, da wegen der Behinderung des Kindes eine Berufsausbildung oder eine Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt ausgeschlossen sei, hob der Beklagte und Revisionskläger (Beklagter) die Kindergeldfestsetzung für M gemäß § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab Juli 1999 auf. Die Aufhebung begründete der Beklagte damit, M habe eigenes Vermögen von mehr als 30 000 DM und sei daher imstande, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
Den dagegen erhobenen Einspruch des Klägers wies der Beklagte als unbegründet zurück.
Während des Klageverfahrens hat der Beklagte mit Bescheid vom April 2001 für Juli 1999 Kindergeld für den Sohn des Klägers festgesetzt und den Rechtsstreit hinsichtlich des Kindergeldanspruchs für den Monat Juli 1999 in der Hauptsache für erledigt erklärt. Der Kläger hat sich dieser Erledigungserklärung angeschlossen.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob die Einspruchsentscheidung auf und verpflichtete den Beklagten, dem Kläger für seinen Sohn M in gesetzlicher Höhe auch über den Monat Juni 1999 hinaus Kindergeld zu gewähren. Aufgrund seiner Behinderung sei M nicht imstande gewesen, sich selbst zu unterhalten; das Kapitalvermögen des M sei in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2001, 759 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt der Beklagte eine fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG.
Er beantragt,
das Urteil des FG Münster vom 1. März 2001 12 K 5563/00 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
Rechtsfehlerfrei hat das FG entschieden, dass der Beklagte Kindergeld für seinen Sohn M auch über den Monat Juni 1999 hinaus beanspruchen kann und dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung ab Juli 1999 rechtswidrig war. Zu Unrecht hat der Beklagte das Vermögen des behinderten Sohnes des Klägers bei der Kindergeldfestsetzung berücksichtigt.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 1997 (in der für das Jahr 1999 gültigen Fassung) besteht für ein Kind, dass das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
a) Das Tatbestandsmerkmal "außerstande sein, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Durch die Verweisung in § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG auf § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG hat der Gesetzgeber aber klargestellt, dass der steuerrechtliche Begriff des Außerstandeseins zum Selbstunterhalt seit der Systemumstellung zum 1. Januar 1996 auch im Kindergeldrecht anzuwenden und somit eine einheitliche Steuerauslegung geboten ist. Auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zum Bundeskindergeldgesetz in der bis zum 31. Dezember 1995 geltenden Fassung (BKGG a.F.), das für das Kindergeld und für den Kinderfreibetrag eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung zugrunde gelegt hat (vgl. BSG-Urteil vom 3. Dezember 1996 10 RKg 12/95, Sozialrecht 3. Folge ―SozR 3― 5870 § 11a BKGG Nr. 10) kann daher nicht zurückgegriffen werden. Denn das Kindergeld dient seit dem 1. Januar 1996 ―ebenso wie der Kinderfreibetrag― in erster Linie der steuerrechtlichen Freistellung des Existenzminimums des Kindes bei den Eltern.
b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind über keine anderen Einkünfte und Bezüge verfügt (BFH-Urteile vom 12. November 1996 III R 53/95, BFH/NV 1997, 343, und vom 14. Juni 1996 III R 13/94, BFHE 181, 128, BStBl II 1997, 173).
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG stellt nicht allein darauf ab, dass ein Kind körperlich, geistig oder seelisch behindert ist; vielmehr muss es wegen seiner Behinderung außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Ist folglich das Kind trotz seiner Behinderung (z.B. aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge) in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu. Denn nur diese Auslegung entspricht dem gesetzgeberischen Willen, bei hinreichender Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72).
c) Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein behindertes Kind erst dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt, die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensbedarfs ausreicht. Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist daher anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen, nämlich des gesamten Lebensbedarfs des Kindes einerseits sowie der finanziellen Mittel des Kindes andererseits, zu prüfen (BFH-Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72; vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75; vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79). Erst wenn sich daraus eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes ergibt, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern oder anderen gegenüber dem behinderten Kind Unterhaltsverpflichteten kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerrechtliche Leistungsfähigkeit mindert (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, 87, BStBl II 1990, 653, 658). Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld bzw. keinen Kinderfreibetrag zu gewähren.
Wie der BFH in den Grundsatzurteilen in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 sowie in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 dargelegt hat, setzt sich der gesamte existentielle Lebensbedarf eines behinderten Kindes aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für das Streitjahr 1999 ist der Grundbedarf mit 13 020 DM zu bemessen (vgl. BFH-Beschluss vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486 zum Jahr 1998; zur allgemeinen Bemessung dieses am Existenzminimum orientierten Betrages nach dem im Sozialhilferecht jeweils anerkannten Mindestbedarf vgl. BVerfG-Beschluss vom 10. November 1998 2 BvR 1057/91, 2 BvR 1226/91, 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, 191, zu C. II.). Da es gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG darauf ankommt, ob sich das behinderte Kind "selbst unterhalten" kann, muss auch bei ihm zunächst ein am Existenzminimum orientierter Betrag als allgemeiner Unterhaltsbedarf anerkannt werden. Diesem Grundbedarf wird mit Ansatz des am Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG (in der im Streitjahr 1999 gültigen Fassung) orientierten Betrages von 13 020 DM Rechnung getragen (BFH-Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486).
Hinzu kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Zu diesem gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen (vgl. Schmidt/ Glanegger, Einkommensteuergesetz, 21. Aufl., 2002, § 33b Rz. 5). Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen.
2. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze auf den Streitfall bestehen keine Zweifel, dass M nicht über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existentiellen Lebensbedarf zu decken. Bei einem Grundbedarf von 13 020 DM und dem zusätzlich erforderlichen behinderungsbedingten Mehrbedarf ist erkennbar, dass die M zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel, die nach den Feststellungen des FG, an die der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden ist, ausschließlich aus Kapitalerträgen bestehen (1999 … DM vor Abzug des Sparer-Freibetrages gemäß § 20 Abs. 4 EStG von 6 000 DM p.a., vgl. dazu BFH-Urteil vom 26. September 2000 VI R 85/99, BFHE 192, 485, BStBl II 2000, 684), bei weitem nicht ausreichen, den Gesamtbedarf zu decken. Darüber besteht zwischen den Beteiligten auch Einigkeit.
Dabei kann der Senat offen lassen, ob er der vom VI. Senat des BFH in seinen Urteilen in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, in BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75 und in BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79 angewandten Berechnungsmethode in allen Einzelheiten folgen könnte. Denn das gleiche Ergebnis ergibt sich, wenn man ―wie die Verwaltung― in Anlehnung an § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG darauf abstellt, ob das behinderte Kind über eigene Einkünfte oder zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bestimmte oder geeignete Bezüge von mehr als 13 020 DM verfügt (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes ―DA-FamEStG― 63.3.6.3 Abs. 2, BStBl I 1998, 389, 420 bzw. die überarbeitete Fassung der DA-FamEStG 63.3.6.3.2, BStBl I 2000, 639, 669).
Da M nach den tatsächlichen Feststellungen des FG aufgrund seiner Schwerbehinderung weder in der Lage war, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, noch ―abgesehen von den Kapitalerträgen― über andere Einkünfte und Bezüge verfügte, aus denen er seinen Lebensunterhalt hätte bestreiten können, war M auch nach Auffassung der Verwaltung außerstande, sich selbst zu unterhalten.
3. Die Behinderung des M war auch ursächlich für seine Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten. Diese Voraussetzung für den Anspruch auf Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist im Streitfall erfüllt, da M seit seiner Geburt zu 100 v.H. behindert ist und in seinem Schwerbehindertenausweis die Merkmale "H" (hilflos), "G" (erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel) eingetragen sind. Damit liegt eine i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigende, vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretene Behinderung vor (vgl. dazu BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832; Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486).
4. Entgegen der Auffassung des Beklagten kann bei der Frage, ob M außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht auf dessen vorhandenes Vermögen abgestellt werden. Nach den Grundsatzentscheidungen des Senats vom 19. August 2002 VIII R 51/01 und VIII R 17/02 (juris) kann das Vermögen volljähriger behinderter Kinder bei der Beurteilung der Frage, ob das behinderte Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, nicht herangezogen werden. Auf die Begründung dieser Entscheidungen nimmt der Senat insoweit in vollem Umfang Bezug.
Fundstellen
Haufe-Index 884181 |
BFH/NV 2003, 310 |