Leitsatz (amtlich)
1. Gesellschaftsteuerbescheide können nicht nach § 223 AO, sondern nur auf Grund § 222 AO zum Nachteil des Steuerpflichtigen geändert werden (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).
2. § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV ist nichtig.
Normenkette
AO §§ 2, 12, 210b Abs. 1, §§ 212, 222-223; KVStG 1934, 1955 § 36; KVStG 1959 § 27; KVStDV §§ 4-6
Tatbestand
Das FA hatte die Klägerin und Revisionsbeklagte wegen auf einem Ergebnisabführungsvertrag beruhender Verlustübernahmen für die Geschäftsjahre 1951 bis 1954 und 1956 durch mehrere Bescheide zur Gesellschaftsteuer herangezogen. Der Besteuerung legte die Behörde den Regelsteuersatz nur insoweit zugrunde, als die Klägerin in der Bilanz eine Sonderrücklage in Höhe von 140 DM ausgewiesen hatte; im übrigen besteuerte sie nach dem ermäßigten Steuersatz des § 9 Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe b KVStG. Ein im Jahre 1951 von der Klägerin gegebenes Darlehen nach § 7c EStG, für das ein Wertberichtigungsposten gebildet war, wurde von der Behörde vor Anwendung des ermäßigten Steuersatzes nicht berücksichtigt. Die Darlehnshingabe und der Wertberichtigungsposten waren dem FA vor Erlaß der - unanfechtbar gewordenen - Gesellschaftsteuerbescheide bekanntgeworden.
Auf Grund einer Kapitalverkehrsteuerprüfung forderte das FA unter Hinweis auf § 223 AO Gesellschaftsteuer nach. Die Nachforderung stützte das FA darauf, daß der ersten Heranziehung zur Gesellschaftsteuer der ermäßigte Steuersatz zum Teil zu Unrecht zugrunde gelegt worden sei; durch die Wertberichtigung des Darlehens nach § 7c EStG in voller Höhe seien bei der Klägerin stille Reserven entstanden, so daß insoweit ein Verlust am Stammkapital nicht vorliege.
Die gegen die Einspruchsentscheidung gerichtete Berufung hatte Erfolg. Das FG hob die Einspruchsentscheidung und den Nachholungsbescheid auf, weil die Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht erfüllt seien. Entgegen der Rechtsprechung des BFH sei § 223 AO auf Gesellschaftsteuer-Nachforderungen nicht anwendbar. § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV sei ungültig, weil die Vorschrift weder durch § 12 AO a. F. gedeckt noch mit der Regelung der AO vereinbar sei.
Mit der seit 1. Januar 1966 als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde begehrt das FA die Abweisung der Berufung als unbegründet. Die Behörde vertritt die Auffassung, für Gesellschaftsteuer-Nachforderungen sei § 223 AO und nicht § 222 AO maßgebend, es komme daher nicht darauf an, ob neue Tatsachen bekanntgeworden seien, die eine höhere Veranlagung rechtfertigten.
Der BdF ist dem Verfahren beigetreten (§ 122 Abs. 2 FGO). Er meint, die Ermächtigung des § 12 AO in der Fassung des StAnpG vom 16. Oktober 1934 (RGBl I 1934, 925) habe ausgereicht, um sowohl die Festsetzungsverfügung im Sinne des § 6 Abs. 1 S. 1 KVStDV als Bescheid nach § 212 AO zu qualifizieren als auch die schriftliche Erteilung dieses Bescheides vorzuschreiben. Trotz des § 6 Abs. 2 S. 1 KVStDV, in dem die Festsetzungsverfügung als Bescheid im Sinne des § 212 AO bezeichnet sei, müsse auf Gesellschaftsteuerbescheide § 222 AO angewandt werden. Das Schleswig-Holsteinische FG habe im Urteil III 29 bis 33/63 vom 25. November 1965 (EFG 1966, 291 Nr. 321) mit Recht dargelegt, daß es gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße, wenn man die Anwendung des § 222 AO auf Gesellschaftsteuerbescheide ausschließe.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist unbegründet.
I. Das FG hat die Einspruchsentscheidung und den Steuernachholungsbescheid, soweit die Steuer nicht schon durch die Einspruchsentscheidung niedriger festgesetzt wurde, mit Recht aufgehoben. Gesellschaftsteuerbescheide können nicht nach § 223 AO, sondern nur auf Grund § 222 AO zum Nachteil des Steuerpflichtigen geändert werden.
Im Streitfall kommt es nur darauf an, ob der angefochtene Bescheid auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützt werden konnte; ob § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO eine Änderung zuungunsten des Steuerpflichtigen rechtfertigen könnte, ist nicht zu entscheiden. Dem FG ist darin zu folgen, daß die Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht erfüllt waren; die Vorinstanz hat festgestellt, daß die Tatsachen, die das FA veranlaßten, Gesellschaftsteuer nachzufordern, der Behörde vor Erlaß der ursprünglichen Gesellschaftsteuerbescheide bekannt waren. Eine Verfahrensrüge hat der Revisionskläger gegen diese Feststellung nicht erhoben.
II. § 222 AO ist anwendbar bei Steuern, bei denen die Verjährungsfrist mehr als ein Jahr beträgt, wenn das FA nach Prüfung des Sachverhalts einen besonderen, im Gesetz selber vorgesehenen schriftlichen Bescheid erteilt hat. Gesetz im Sinne der AO ist jede Rechtsnorm (§ 2 Abs. 1 AO), also auch eine Rechtsverordnung (Mattern-Meßmer, Reichsabgabenordnung, Tz. 1653; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 2. bis 3. Auflage, § 222 AO Rdnr. 6; anderer Meinung Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Auflage, § 222 Anm. 2b und Vogel, Die Berichtigungsveranlagung, Heft 41 der Schriftenreihe "Der Rechts- und Steuerdienst" S. 12). § 6 Abs. 2 Satz 2 KVStDV schreibt vor, daß die Steuerfestsetzung für die Gesellschaftsteuer schriftlich zu erteilen ist.
Der Wortlaut des § 222 Abs. 1 AO läßt nicht erkennen, daß der Ausdruck "Gesetz" dort in einem anderen Sinne zu verstehen ist, als er durch die Legaldefinition in § 2 Abs. 1 AO beschrieben wird. Wäre für den Begriff Gesetz in § 222 AO ein anderer Begriffsgehalt beabsichtigt gewesen, hätte dies der Gesetzgeber angesichts der Grundregel in § 2 Abs. 1 AO zum Ausdruck bringen müssen. Die Formel "im Gesetz selber", die sich schon in § 212 Abs. 2 AO 1919 findet, setzt die für den Bereich der AO geltende Definition des § 2 Abs. 1 AO für die Anwendung des § 222 AO nicht außer Kraft.
Für diese Auffassung spricht auch die Regelung des § 211 AO; danach müssen Steuerbescheide, die nach den Steuergesetzen schriftlich zu erteilen sind, die Höhe der Steuer enthalten. Diese Bescheide bezeichnet § 212 AO (ebenso § 220 Abs. 1 AO 1919) als förmliche Bescheide. Steuergesetze im Sinne der AO sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 AO in der Fassung vor Erlaß des § 162 Nr. 1 FGO (heute § 2 Abs. 2 Nr. 8) die Gesetze, die die einzelnen Steuern, für deren Verwaltung die AO gilt, regeln oder sichern. Gesetz im Sinne der Nr. 5a. a. O. ist jede Rechtsnorm, also auch eine Rechtsverordnung (Becker-Riewald-Koch, a. a. O., § 2 Anm. 9b; Tipke-Kruse, a. a. O., § 2 Rdnr. 2). Dem Gesetzgeber kann nicht unterstellt werden, er habe unter Steuergesetz im Sinne des § 211 AO jedes Gesetz im materiellen Sinne, unter Gesetz im Sinne des § 222 AO hingegen nur Gesetze im formellen und materiellen Sinne verstanden. Sonst wäre der Gesellschaftsteuerbescheid - von der noch zu untersuchenden Fiktion des § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV abgesehen - auf Grund des § 6 Abs. 2 Satz 2 KVStDV zwar ein Bescheid im Sinne des § 211 AO, jedoch kein schriftlich zu erteilender Bescheid im Sinne des § 222 AO.
III. Die Anwendbarkeit des § 222 AO auf Gesellschaftsteuerbescheide wird nicht durch § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist nichtig; gültig sind hingegen § 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 KVStDV.
1. § 6 Abs. 1 und 2 KVStDV lautet wie folgt:
"(1) Das Kapitalverkehrsteueramt gibt dem Steuerpflichtigen den festgesetzten Steuerbetrag unter Angabe der Zahlungsfrist bekannt. Die Zahlungsfrist soll zwei Wochen nicht übersteigen.
(2) Die Festsetzungsverfügung gilt als Steuerbescheid im Sinne des § 212 der Reichsabgabenordnung. Sie wird dem Steuerpflichtigen schriftlich mitgeteilt und soll auch die Steuerberechnung und ihre Grundlagen, eine Anweisung, wo und wie die Steuer zu entrichten ist, und eine Belehrung enthalten, welches Rechtsmittel zulässig ist und binnen welcher Frist und bei welcher Behörde es einzulegen ist."
Ermächtigungsgrundlage für diese Vorschrift ist § 12 Satz 1 AO in der Fassung des § 21 Nr. 3 StAnpG vom 16. Oktober 1934, (RGBl I 1934, 925, 929). Die im Vorspruch zu dem KVStDV vom 17. Dezember 1934 (Reichsministerialblatt S. 839, RStBl S. 1593) noch genannten §§ 13, 24 Abs. 2, 189a AO kommen als ermächtigende Normen nicht in Betracht.
§ 12 Satz 1 AO hat folgenden Wortlaut:
"Der Reichsminister der Finanzen kann zur Durchführung und Ergänzung der vom Reich erlassenen Steuergesetze, insbesondere auch zur Überleitung der Gesetzgebung und der Behördenorganisation Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen."
2. Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 des § 6 KVStDV, der bis heute unverändert gilt, sind durch die Ermächtigung des § 12 AO gedeckt. Die Festsetzung der Gesellschaftsteuer, die Erteilung eines Bescheides und dessen Form und Inhalt werden weder im KVStG noch in der AO ausdrücklich geregelt.
§ 36 KVStG 1934 und 1955 (§ 27 KVStG 1959) regelt die Erhebung der Gesellschaftsteuer nicht. Nach dieser Vorschrift, die für alle Kapitalverkehrsteuern gilt, wird die Steuer zwei Wochen nach Entstehung der Steuerschuld fällig. Für die Gesellschaftsteuer hat § 36 KVStG jedoch keine praktische Auswirkung. Es gab und gibt keine Vorschrift, die den Steuerpflichtigen verpflichtet hätte, die Steuerschuld zu erfüllen, bevor das FA diese Schuld durch eine Steuerfestsetzung (§ 210 Abs. 1 AO) konkretisiert und durch Leistungsgebot angefordert hat. Mangels einer entgegenstehenden gesetzlichen Regel bedarf es für die Gesellschaftsteuer eines Hoheitsaktes, der die Steuerschuld dem Grunde und der Höhe nach fixiert, sowie der Aufforderung, die Schuld zu erfüllen. Wesensmerkmale und Inhalt der Steuerfestsetzung im Sinne des § 210 Abs. 1 AO werden in der AO durch §§ 211, 212 geregelt. Fehlt es an einer Norm über die Form der Steuerfestsetzung, muß die Steuer durch (nicht förmlichen) Bescheid im Sinne des § 212 AO angefordert werden. Ein schriftlicher Bescheid ist nur dann ein förmlicher im Sinne des § 211 AO, wenn ein Steuergesetz vorschreibt, der Steuerbescheid sei schriftlich zu erteilen. Dies ist in der AO für bestimmte Steuern geschehen (§§ 210b Abs. 1, 212a, 213 Abs. 2 Satz 2 AO). Die Gesellschaftsteuer müßte ohne eine ausdrückliche Regel durch nichtförmlichen Bescheid im Sinne des § 212 AO angefordert werden.
a) Hieran hat § 6 Abs. 1 KVStDV nichts geändert. Diese Vorschrift dient der Durchführung des § 210 Abs. 1 AO für Zwecke der Gesellschaftsteuer; sie bestimmt nicht, daß der Steuerbescheid schriftlich zu erteilen sei. Dies sieht jedoch § 6 Abs. 2 Satz 2 KVStDV vor. Diese Vorschrift weist für die dem Steuerpflichtigen schriftlich mitzuteilende Steuerfestsetzung - von dem durch § 6 Abs. 1 angesprochenen Zeitpunkt der Steuerentrichtung abgesehen - alle Merkmale auf, die für § 211 AO 1919 und § 211 AO 1931 bis zur Fassung durch § 28 Nr. 40 des Einführungsgesetzes zu den Realsteuergesetzen (EG-RealStG) vom 1. Dezember 1936 (RGBl I, 961) durch Muß- und Sollvorschriften vorgesehen sind.
b) § 6 Abs. 2 Satz 2 KVStDV dient nicht der Durchführung, sondern der Ergänzung eines vom Reich erlassenen Steuergesetzes. Um Durchführung kann es sich nur handeln, wenn der Regelungsbereich des Gesetzes im formellen Sinne durch die Verordnung spezieller ausgeformt wird (vgl. BFH-Urteil IV 11/64 S vom 5. November 1964, BFH 80, 356, BStBl III 1964, 602, mit Nachweisen). Eine Ergänzung liegt hingegen vor, wenn die Rechtsverordnung einen Rechtssatz aufstellt, der die im Gesetz im formellen und materiellen Sinne geschaffene Regelung zwar erweitert, aber in Übereinstimmung mit den Grundprinzipien dieses Gesetzes, das die Materie nicht abschließend geregelt hat, einen Tatbestand ordnet, der sich auf den Regelungsbereich des zu ergänzenden Gesetzes bezieht (vgl. Klein, StuW 1941 Sp. 203, derselbe, Grenzen gesetzlicher Ermächtigungen zum Erlaß steuerlicher Rechtsverordnungen, Heft 10 der Schriftenreihe des Instituts "Finanzen und Steuern", S. 19; Roethe, Die Ausführungsverordnung im heutigen Staatsrecht, Archiv für öffentliches Recht, neue Folge, Bd. 20, S. 209; H. J. Wolff, Verwaltungsrecht, 7. Aufl., § 25 VII b Nr. 2). Diese Grenzen werden durch Abs. 2 Satz 2 des § 6 KVStDV nicht überschritten. Die Vorschrift ergänzte (für Zwecke der Gesellschaftsteuer) den § 210 Abs. 3 AO in der Fassung des § 21 Nr. 22 StAnpG - heute § 210b Abs. 1 AO -. Sie dehnt den Kreis der Steuern, für die der Steuerbescheid schriftlich zu erteilen ist, auf die Gesellschaftsteuer aus. Die Anordnung, der Steuerbescheid sei schriftlich zu erteilen, wird auf eine Steuer erweitert, auf die sich das Gesetz nicht bezieht. Dies bewirkt jedoch keine Änderung des § 210b Abs. 1 AO. Diese Norm enthält nur für die dort genannten Steuern die positive Aussage, ein schriftlicher Bescheid sei zu erteilen. Die Vorschrift besagt aber nicht, dies dürfe nur bei diesen Steuern geschehen und enthält keine abschließende Regelung. Dies erweisen die §§ 211 und 222 AO. Die Äußerung in § 211 AO:
"Steuerbescheide, die nach den Steuergesetzen schriftlich zu erteilen sind ..."
und in § 222 AO:
"hat ... das FA ... einen besonderen, im Gesetz selber vorgesehenen schriftlichen Bescheid ..."
können im Zusammenhang mit § 210b Abs. 1 AO nur in dem Sinne verstanden werden, daß die Schriftform auch durch eine andere Rechtsnorm als § 210b AO vorgesehen werden kann. Wenn diese Vorschrift eine abschließende Regelung enthalten sollte, hätte in den §§ 211, 222 AO ein Hinweis hierauf genügt.
3. § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV hat der BFH in seiner vom FG angegriffenen Rechtsprechung als gültig angesehen (vgl. Urteile II 97/55 U vom 18. Mai 1955, BFH 61, 27, BStBl III 1955, 208; II 160/57 U vom 16. Juli 1958, BFH 67, 398, BStBl III 1958, 426; III 260/58 U vom 19. Juli 1961, BFH 73, 471, BStBl III 1961, 438; II 265/59 U vom 14. November 1962, BFH 76, 172, BStBl III 1963, 62). Der Senat hält die bisher vertretene Rechtsauffassung nicht aufrecht. Er tritt dem FG darin bei, daß Satz 1 Abs. 2 des § 6 KVStDV ungültig ist; die Vorschrift ist durch die Ermächtigung des § 12 Satz 1 AO nicht gedeckt.
a) Nach dem systematischen Aufbau des § 6 KVStDV scheint sich dessen Absatz 2 Satz 1 auf Abs. 1 Satz 1 zu beziehen. In Wirklichkeit kann die Vorschrift nur mit § 6 Abs. 2 Satz 2 KVStDV in Zusammenhang stehen. Damit ist auch der mögliche Einwand erledigt, aus der Satzfolge des § 6 KVStDV ergebe sich, daß die Fiktion des Abs. 2 Satz 1 rangmäßig der Regel des Abs. 2 Satz 2 vorgehe, die vorschreibt, die Festsetzungsverfügung sei schriftlich zu erteilen.
Auf Abs. 1 Satz 1 des § 6 KVStDV kann sich Abs. 2 Satz 1 nicht beziehen, weil für diesen Fall die Anordnung einer Fiktion überflüssig und ohne Sinn wäre. Da Abs. 1 nicht anordnet, der Steuerbescheid sei schriftlich zu erteilen, kann die Steuerfestsetzung nicht ein auf Grund dieser Vorschrift schriftlich zu erteilender Bescheid sein; die Festsetzung könnte angesichts des § 212 AO nur ein nichtförmlicher Steuerbescheid sein. Wäre aber die Festsetzung im Sinne des Abs. 1 Satz 1 ein nichtförmlicher Bescheid, könnte Abs. 2 Satz 1 - bezöge er sich hierauf - keine Wirkung entfalten. Die Fiktion, die Steuerfestsetzung im Sinne des Abs. 1 gelte als Steuerbescheid im Sinne des § 212 AO, wäre ohne Sinn, weil eine solche Festsetzung ohnehin nicht mehr als ein Bescheid im Sinne des § 212 AO wäre.
b) § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV bezieht sich auf Satz 2 dieses Absatzes. Satz 2 schreibt vor, die Festsetzungsverfügung sei dem Steuerpflichtigen schriftlich mitzuteilen. Die durch eine Rechtsnorm vorgeschriebene schriftliche Mitteilung einer Steuerfestsetzung ist als Steuerbescheid im Sinne des § 211 AO zu qualifizieren. Auf Bescheide, die nach gesetzlicher Vorschrift schriftlich zu erteilen sind, findet § 222 AO Anwendung, der die Möglichkeit beschränkt, die Bestandskraft bindend gewordener Steuerbescheide zu durchbrechen. Diese Rechtsfolge soll durch § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV ausgeschlossen werden. Für die Nachforderung von Gesellschaftsteuer soll § 223 AO und für die Berichtigung von Bescheiden zugunsten des Steuerpflichtigen soll § 224 AO maßgebend sein.
Dies ergibt sich nicht aus dem Wortlaut des § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV. Nach dem eindeutigen Wortlaut soll der Gesellschaftsteuerbescheid so angesehen werden, als ob er ein Bescheid im Sinne des § 212 AO sei. Diese Aussage löst keine Rechtsfolgen aus, die über die Fiktion als solche hinausgehen. Die Qualifikation als Bescheid im Sinne des § 212 AO besagt an sich nichts darüber, ob hinsichtlich des Eingriffes in die Bestandskraft bindend gewordener Bescheide § 222 oder § 223 AO anzuwenden ist. Diese Vorschriften knüpfen ihrem Wortlaut nach nicht an die §§ 211, 212 AO an; die Voraussetzungen für Eingriffe in die Bestandskraft sind in den §§ 222, 223 AO selbst geregelt.
Jedoch ergibt die Auslegung nach dem mit der Vorschrift verfolgten Zweck, daß die Anwendung des § 222 AO für Gesellschaftsteuerbescheide ausgeschlossen werden sollte. Dieser Zweck ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV. Diese Vorschrift hätte bei reiner Wortinterpretation für das Problem der Bestandskraft keinen Sinn. Der Verordnungsgeber ist offensichtlich davon ausgegangen, daß der Gesellschaftsteuerbescheid ein schriftlich zu erteilender Bescheid im Sinne des § 211 AO sei. Hätte er dies nicht angenommen, hätte er keinen Anlaß gehabt, mittels einer Fiktion zu bestimmen, der Bescheid gelte als solcher im Sinne des § 212 AO. Der Zweck der Vorschrift wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß nach einem begrifflich unscharfen, jedoch im Ergebnis grundsätzlich zutreffenden Sprachgebrauch Bescheide im Sinne des § 211 AO auf Grund § 222 AO geändert werden können, während Steuern, für die ein förmlicher Bescheid nicht zu erteilen ist (§ 212 AO), auf Grund § 223 AO nachgefordert werden können. Geht man von diesem weitverbreiteten Sprachgebrauch aus, kann die Fiktion des § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV nur den Zweck haben, für die Nachforderung von Gesellschaftsteuer die Anwendung des § 222 AO auszuschließen.
c) Bei dieser mit der bisherigen Rechtsprechung des Senats im Ergebnis übereinstimmenden Auslegung des § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV wird der Widerspruch zum Gesetz offenbar; § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV läuft der eindeutigen Anordnung des § 222 AO zuwider. Der Verordnungsgeber hat durch die Vorschrift das Gesetz weder durchgeführt noch ergänzt, sondern geändert. Zu einer Änderung ermächtigte § 12 AO den RdF jedoch nicht (BFH-Urteile II 123/50 S vom 30. Januar 1951, BFH 55, 102, BStBl III 1951, 40; III 107/50 S vom 22. November 1951, BFH 56, 1, BStBl III 1952, 1; Gutachten IV D 1/51 S vom 22. November 1951, BFH 56, 14, BStBl III 1952, 6; Urteile I 200/55 S vom 17. Juli 1956, BFH 63, 306, BStBl III 1956, 316; VI 233/56 S vom 28. März 1958, BFH 66, 701, BStBl III 1958, 268; Klein, StuW 1941, Sp. 203, 223). Die Regelung in einer Rechtsverordnung, die durch die Ermächtigung nicht gedeckt ist, ist ungültig.
Die Nichtigkeit des § 6 Abs. 2 Satz 1 KVStDV wirkt sich nicht auf Abs. 2 Satz 2 aus. Die Vorschrift, die die Form des Steuerbescheides regelt, geht nach dem System der AO denknotwendig der Vorschrift vor, die sich auf den Bestandschutz dieses Bescheides bezieht. Die Regelung des Bestandschutzes durch § 222, 223 AO knüpft an die Form der Steuerbescheide an. § 6 Abs. 2 Satz 2 KVStDV bleibt sinnvoll, auch wenn Abs. 2 Satz 1 dieser Vorschrift nichtig ist.
IV. § 222 AO gilt auch für Gesellschaftsteuerbescheide. Er ist nicht deshalb unanwendbar, weil der gesetzlich vorgeschriebenen schriftlichen Erteilung eines Bescheides eine Prüfung des Sachverhaltes nicht vorhergehe, die Gesellschaftsteuer vielmehr auf Grund einer bloßen Anmeldung festzusetzen sei. Hierbei mag dahingestellt bleiben, ob die Worte "nach Prüfung des Sachverhalts" in § 222 AO eine selbständige und welche Bedeutung haben (vgl. Becker-Riewald-Koch, a. a. O., § 222 Anm. 2b Abs. 5; Mattern-Meßmer, a. a. O., Tz. 1657; Tipke-Kruse, a. a. O., § 222 Rdnr. 6). Nach dem Urteil des RFH I 308/37 vom 7. Dezember 1937 (RFH 42, 351, RStBl 1938, 20) bedeutet die erwähnte Formel, daß Steuern, die auf Grund einer bloßen Anmeldung festgesetzt werden, nicht unter § 222 AO fallen. Folgt man dieser Auffassung, ist § 222 AO auf Gesellschaftsteuerbescheide anwendbar.
Zwar schreibt § 4 KVStDV vor, daß Rechtsvorgänge der in den §§ 2 und 3 des Gesetzes bezeichneten Art dem FA anzumelden seien; § 5 KVStDV regelt den Inhalt dieser Anmeldung. Jedoch enthalten weder das KVStG noch die KVStDV eine Vorschrift, die zu der Annahme berechtigt, die Gesellschaftsteuerfestsetzung beruhe nur auf dem Inhalt einer Anmeldung (zur Bedeutung des § 36 KVStG 1934, 1955, § 27 KVStG 1959 vgl. oben III, 2). Mangels einer entgegenstehenden Regelung sind die §§ 204, 210 Abs. 1 AO auf die Gesellschaftsteuer anzuwenden. Die Erfassung der durch § 2 Nrn. 2 bis 5 KVStG 1934 und 1955 (§ 2 Nrn. 2 bis 6 KVStG 1959) und § 3 KVStG geregelten Tatbestände kann in einer Vielzahl von Fällen sowohl in tatsächlicher als auch in rechtlicher Hinsicht erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Die Gesellschaftsteuer ist nicht auf Grund einer Anmeldung und einer Selbsterrechnungserklärung an das FA abzuführen.
Fundstellen
Haufe-Index 68368 |
BStBl II 1969, 86 |
BFHE 1969, 79 |