Leitsatz (amtlich)
1. Zur Auslegung des Wortes "kann" in § 100 Abs. 2 Sätze 1 und 2 FGO. - Zur Bedeutung des Urteils des Senats VI R 215/66 vom 14. Juni 1967 (BFH 89, 253, BStBl III 1967, 610).
2. Hält das Finanzgericht die vom Finanzamt in einem Steuerbescheid festgesetzte Steuer für nicht gesetzmäßig, so darf es sich im allgemeinen nicht darauf beschränken, den Steuerbescheid aufzuheben und das Finanzamt anzuweisen, die Steuer nach bestimmten Gesichtspunkten festzusetzen. Es hat vielmehr, wenn nicht die Voraussetzungen des § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO erfüllt sind, die Steuer selbst festzustellen und festzusetzen (Urteil des Senats VI R 185/66 vom 13. Juli 1967, BFH 89, 464, BStBl III 1967, 674).
2. Nach denselben Grundsätzen hat das Finanzgericht im Verfahren des Lohnsteuer-Jahresausgleichs in der Regel selbst den Erstattungsbetrag festzusetzen.
Normenkette
FGO § 100 Abs. 2
Tatbestand
Der Steuerpflichtige ist Betriebsprüfer in der Finanzverwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen. Mit seinem VW 1200 legte er auf Dienstreisen in den Streitjahren 1962 und 1964 5 173 bzw. 11 960 km zurück. Die Behörde ersetzte ihm nur die Fahrtkosten öffentlicher Verkehrsmittel nach den Vorschriften des Reisekostenrechts. Die OFD hatte den Konzernprüfern allgemein die Benutzung ihrer Privatwagen auf Dienstreisen gestattet, aber darauf hingewiesen, daß ihnen die Mehrkosten nicht ersetzt würden.
Der Steuerpflichtige schätzte seine Kraftwagenkosten mit 0,25 DM je Kilometer und machte im Lohnsteuer-Jahresausgleich 1962 und 1964 den Unterschied zu der ihm gewährten Fahrtkostenerstattung als Werbungskosten geltend.
Das F A erkannte den Betrag nicht als Werbungskosten an.
Das FG gab den Klagen statt. Es betrachtete den dem Steuerpflichtigen gewährten Fahrtkostenersatz nach den Bestimmungen des Reisekostenrechts nur als Zuschuß zu den tatsächlich entstandenen Kosten.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revisionen, mit denen das FA unrichtige Anwendung von Bundesrecht rügt, sind begründet.
Der Senat hat in der zur amtlichen Veröffentlichung bestimmten Grundsatzentscheidung VI 33/65 vom 15. Dezember 1967 (BStBl II 1968, 150) die bisherige Rechtsprechung zur Behandlung von Fahrtkosten bei Angehörigen des öffentlichen Dienstes geändert. Er läßt in Fällen der vorliegenden Art nunmehr die Kraftwagenkosten abzüglich des von der Behörde gewährten Fahrtkostenersatzes als Werbungskosten zum Abzug zu. Die Entscheidung des FG stimmt in diesem Punkt mit der Rechtsprechung des Senats überein.
Die Vorentscheidung war trotzdem aufzuheben. Das FG muß noch prüfen, ob der Steuerpflichtige die Zahl der dienstlich gefahrenen Kilometer und die Höhe des von der Behörde gewährten Fahrtkostenersatzes ausreichend dargetan hat.
Der Tenor der angefochtenen Entscheidung des FG lautet: "Die Verfügung vom 13. Mai 1963 und die Einspruchsentscheidung vom 14. November 1966 werden aufgehoben. - Der Beklagte (FA) wird verurteilt, den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1962 in der Weise durchzuführen, daß neben anderen nachgewiesenen Werbungskosten 795 DM für die dienstliche Benutzung eines Kraftwagens berücksichtigt werden." Das FG hat sich also darauf beschränkt, die Entscheidung des FA aufzuheben. Es hat den Lohnsteuer-Erstattungsbetrag nicht selbst berechnet, sondern das FA angewiesen, diesen Betrag in bestimmter Weise zu berechnen. Dieses Verfahren entspricht nicht dem § 100 Abs. 2 FGO. In den Urteilen VI R 215/66 vom 14. Juni 1967 (BFH 89, 253, BStBl III 1967, 610) und VI R 185/66 vom 13. Juli 1967 (BFH 89, 464 BStBl III 1967, 674) hat der Senat ausgesprochen, daß die FGe, wenn sie die Steuerfestsetzung des FA nicht für richtig halten, sich nicht darauf beschränken dürfen, diese Steuerfestsetzung aufzuheben, sondern im allgemeinen die Steuer selbst festzusetzen haben. Wenn das für das Steuerveranlagungsverfahren gilt, so muß es auch für die Erstattungen im Lohnsteuer-Jahresausgleich gelten; denn Erstattungsbescheide sind nach § 229 Nr. 7 AO Verwaltungsakte im Sinne des § 100 Abs. 2 FGO (Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, 2. Aufl., § 229, Anm. 8a Abs. 2).
Auf Grund der von einigen FGen gegen die erwähnte Rechtsprechung erhobenen Bedenken hat der Senat die Auslegung des § 100 Abs. 2 FGO nochmals geprüft, ist aber zu dem Ergebnis gekommen, an seiner bisherigen Auslegung festzuhalten. Richtig ist zwar, daß nach der Wortfassung des § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO das FG, wenn es auf die Klage gegen einen Steuerbescheid einen anderen als den vom FA festgesetzten Betrag "feststellt", diesen Betrag selbst festsetzen "kann". Das bedeutet aber nicht, daß es im freien Ermessen des FG steht, ob es allgemein den angefochtenen Steuerbescheid nur aufheben und dann dem FA die Festsetzung der Steuer nach bestimmten Weisungen übertragen will. Das ergibt sich aus dem Vergleich des in § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO in gleicher Weise gebrauchten Wortes "kann". Nach Satz 2 "kann" nämlich das FG, wenn es wesentliche Verfahrensmängel feststellt und eine weitere, einen erheblichen Aufwand an Kosten und Zeit erfordernde Aufklärung für nötig hält, den Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung aufheben, ohne in der Sache selbst zu entscheiden. In diesem Zusammenhang ist das Wort "kann" einwandfrei in dem Sinne gebraucht, daß die Sachbehandlung unter den genannten Voraussetzungen im Ermessen des FG steht. Das FG kann auch in diesen Fällen selbst den Steuerbetrag ermitteln und festsetzen. Es ist aber nicht dazu verpflichtet, sondern es kann sich auf die Aufhebung der nicht dem Gesetz entsprechenden Steuerfestsetzung beschränken und dem FA die Weisung geben, unter Vermeidung der festgestellten Verfahrensmängel bzw. nach weiterer Aufklärung die Steuer anderweit festzusetzen. Dieses Verfahren, das offenbar der Arbeitsvereinfachung bei den Finanzgerichten dient, hat der Gesetzgeber aber an bestimmte Voraussetzungen geknüpft und betrachtet es offenbar als Ausnahme. Wollte man das Wort "kann" im Satz 1 auch so verstehen, daß der Gesetzgeber die Sachbehandlung in das "Ermessen" des FG stellen wollte, so verlöre Satz 2 seinen Sinn; denn wenn es dem FG schon allgemein und in allen Fällen freistünde, sich auf die Aufhebung des Steuerbescheides zu beschränken, so wäre es überflüssig und irreleitend, in Satz 2 dieses Verfahren auf Ausnahmefälle zu beschränken und an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen. Betrachtet man also Satz 1 und Satz 2 im Zusammenhang, so muß man dem Wort "kann" in beiden Sätzen einen verschiedenen Sinn beilegen. In Satz 2 bedeutet es, wie ausgeführt, daß die Sachbehandlung dem freien Ermessen des FG überlassen ist. In Satz 1 kann es dagegen nur im Sinn von "darf" verstanden werden. Dem FG soll offenbar die Ermächtigung gegeben werden, als Gericht die Steuer festzusetzen, d. h. also etwas zu tun, was an sich Aufgabe der Finanzverwaltungsbehörden ist. Versteht man die Vorschrift des Satzes 1 in diesem Sinne, so wird durch sie nur klargestellt, daß das FG, wenn es die Steuer selbst festsetzt, die Grenzen, die sich aus dem Grundsatz der Dreiteilung der Staatsgewalt ergeben, nicht verletzt und nicht unzulässig in die Kompetenz der Verwaltungsbehörden eingreift.
Für diese aus der Wortfassung und der Systematik abgeleitete Auslegung sprechen auch noch verschiedene andere Gründe.
Vor allem zunächst der Grundsatz der Rechtskontinuität. Die entsprechende Vorschrift des § 284 Abs. 1 AO a. F bestimmte: "Leidet das Verfahren des FA oder einer Hilfsstelle an wesentlichen Mängeln, so hat das Finanzgericht gleichwohl in der Sache zu entscheiden. Eine Zurückverweisung der Sache unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung ist nur aus besonderen Gründen, insbesondere zur Ersparnis von Kosten, Arbeit oder Zeit, zulässig. "Diese Vorschrift ist in der Rechtsprechung des RFH und des BFH so ausgelegt worden, daß im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens die Finanzgerichte selbst im allgemeinen die Steuer endgültig festsetzen mußten und nur unter besonderen Voraussetzungen, vor allem zur Ersparnis von Kosten, Arbeit und Zeit, unter Aufhebung des Steuerbescheids die Sache an das FA zurückgeben durften (vgl. Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 6. Aufl., Anm. 1 zu § 284 AO a. F.). Trotz etwas anderer Fassung besagen § 100 Abs. 2 Satz 1 und 2 FGO sowie § 284 Abs. 1 AO a. F. sachlich im wesentlichen das gleiche. Der Gesetzgeber der FGO hatte keinen Anlaß, das seit Jahrzehnten geübte Verfahren, das sich bewährt hatte, zu ändern, zumal es mit dem Aufbau der FGO und der jetzt klar durchgeführten Trennung von Steuerprozeß und Verwaltungsverfahren durchaus vereinbar ist.
Man könnte daran denken, § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO so auszulegen, daß das FG zwar sich nicht darauf beschränken darf, den angefochtenen Steuerbescheid zu "kassieren", daß es aber genüge, dem FA so eingehende Anweisungen für die richtige Berechnung der Steuer zu geben, daß die Berechnung selbst nur noch eine technische Aufgabe ist. Die Ausführungen des Senats im vorletzten Absatz des Urteils VI R 215/66 vom 14. Juni 1967 (a. a. O.) können dahin verstanden werden, daß ein solches Verfahren zulässig sei. Nach erneuter Prüfung hält der Senat an dieser Auslegung aus den folgenden Überlegungen nicht fest: Der Senat verkennt nicht, daß mit der Auslegung, die er dem § 100 Abs. 2 FGO gibt, eine erhebliche Mehrarbeit für die FGe verbunden sein kann. Auf der anderen Seite wird aber nur, wenn das FG die Steuer selbst festsetzt, mit der Entscheidung des FG der Steuerstreit endgültig aus der Welt geschafft. Weist das FG das FA nur an, in einem neuen Steuerbescheid die Steuer nach bestimmten Grundsätzen anderweit festzusetzen, so müßte der Steuerpflichtige, wenn das FA bewußt oder unbewußt nicht nach den Weisungen des FG verfährt, ein neues Klageverfahren einleiten. Es kann rechtlich zweifelhaft sein, ob in einem solchen neuen Verfahren nicht neue Tatsachen oder Beweismittel nachgeschoben werden könnten, das Verfahren also ganz von vorne beginnen müßte, oder ob in dem neuen Verfahren nur geprüft werden kann, ob das FA den Weisungen des FG entsprochen hat. Ferner ist zu bedenken, daß, wenn das FG nach der Aufhebung des angefochtenen Steuerbescheids nicht selbst und unmittelbar die Steuer festsetzt, die Rechtsgrundlage für etwa früher geleistete Zahlungen des Steuerpflichtigen und Sicherungen des Steueranspruchs wegfallen.
Schließlich würde die Aufhebung des Steuerbescheids ohne eigene Steuerfestsetzung dem Wesen des Steuerfestsetzungsverfahrens nicht gerecht. Dieses Verfahren ist auf die Festsetzung der gesetzlich geschuldeten Steuer gerichtet. Bei der Festsetzung der Ertragsteuern treffen oft zahlreiche Besteuerungsgrundlagen zusammen. Im Steuerprozeß sind gewöhnlich nur eine oder einige der genannten Besteuerungsgrundlagen streitig. Mit anderen Worten: Die Beteiligten stimmen gewöhnlich darin überein, daß zwar eine Steuer festzusetzen ist. Streitig ist nur, ob und wie dieser oder jener Umstand auf die Höhe der Steuer einwirkt. Hält man sich das vor Augen, so wäre es nicht sachgerecht, die Steuerfestsetzung des FA vollständig aufzuheben, wenn alle Beteiligten einig sind, daß mindestens eine bestimmte Steuer geschuldet wird.
Gegenüber dieser aus der Wortfassung des Gesetzes, der Rechtsentwicklung und der Natur der Sache abzuleitenden Auslegung kann das Bedenken, daß dabei für die FGe Mehrarbeit entsteht, nicht ausschlaggebend sein, zumal sich diese Mehrarbeit durch organisatorische und prozessuale Maßnahmen vermindern oder ausschließen läßt. So kann z. B. das FG bei entsprechendem Arbeitsanfall einen in der Veranlagung erfahrenen Beamten mit der Vorbereitung der Steuerberechnung beauftragen. Prozessual kann es, wenn z. B. nur ein Punkt streitig ist, zur Vorbereitung seiner Entscheidung das FA auffordern, zugleich mit dem Antrag im Steuerprozeß eine entsprechende Steuerberechnung vorzulegen. Erscheint dieser Weg unzweckmäßig, z. B. weil mehrere Punkte streitig sind oder weil das FG in dem einen Streitpunkt dem Steuerpflichtigen nur zum Teil folgen will, so kann das FG gemäß § 99 FGO vorab über den Grund entscheiden. Ist das Grundurteil - mit oder ohne Revisionsverfahren - rechtskräftig geworden, so kann es das FA auffordern, die Steuer auf der Grundlage dieses rechtskräftigen Urteils zu berechnen und kann dann in einem Endurteil verhältnismäßig einfach die Steuer endgültig festsetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 412907 |
BStBl II 1968, 205 |