Entscheidungsstichwort (Thema)
Verursachung des nachträglichen Bekanntwerdens durch grobes Verschulden
Leitsatz (NV)
Das grobe Verschulden muß in bezug auf das Ereignis gegeben sein, das das nachträgliche Bekanntwerden verursacht hat. Ohne Bedeutung ist, ob ein Vorläufigkeitsvermerk mißverständlich formuliert war.
Normenkette
AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger), die als Ehegatten gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt werden, bezogen im Streitjahr unter anderem Einkünfte aus Gewerbebetrieb und aus Kapitalvermögen.
Nachdem trotz mehrfacher Fristverlängerung eine Einkommensteuererklärung nicht abgegeben worden war, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) die Besteuerungsgrundlagen (Bescheid vom 14. November 1991). Der Festsetzungsteil enthält die Formulierung: "Der Bescheid ist nach §165 Abs. 1 AO vorläufig." In den Erläuterungen zu dem Bescheid heißt es: "Der Bescheid ist im Hinblick auf die Anhängigkeit von Verfassungsbeschwerden zum Grundfreibetrag hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags (§32 a Abs. 1 Nr. 1 EStG) vorläufig."
Die Einkommensteuererklärung der Kläger ging am 18. Januar 1993 beim FA ein. Das FA lehnte den Antrag der Kläger, die Erklärung zu bearbeiten und die Einkommensteuer neu festzusetzen, mit Bescheid vom 17. September 1993 ab, da die Kläger an dem verspäteten Eingang der Steuererklärung ein grobes Verschulden treffe. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus: Das FA habe eine Änderung des bestandskräftigen Bescheides gemäß §173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu Recht abgelehnt, da die Kläger das nachträgliche Bekanntwerden der in der Steuererklärung enthaltenen Tatsachen grob fahrlässig verursacht hätten; sie hätten die ihnen nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt. Die Kläger hätten erkennen können, daß sich die Vorläufigkeit nicht auf den gesamten Umfang der Steuerfestsetzung bezogen habe; der Umfang der Vorläufigkeit ergebe sich aus den Erläuterungen. Die Kläger könnten sich nicht auf einen Rechtsirrtum hinsichtlich der Tragweite des Vorläufigkeitsvermerks berufen. Hätten die Kläger insoweit Bedenken gehabt, hätten sie fachkundigen Rat einholen müssen. Auch das Vorbringen der Kläger, daß Schätzungsbescheide nach Verwaltungsanweisung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung zu erlassen seien, könne der Klage nicht zum Erfolg verhelfen; die Behörden seien vielmehr auch berechtigt, von einer Veranlagung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung abzusehen.
Eine Änderungsmöglichkeit ergebe sich auch nicht aus §173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977; ein Zusammenhang mit Tatsachen, die zu einer höheren Steuer führten, bestehe nicht.
Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts.
1. Das FG habe rechtsfehlerhaft ein grobes Verschulden der Kläger i. S. des §173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 am nachträglichen Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen angenommen. Das FG habe den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit nicht richtig erkannt und zu hohe Anforderungen an die zu beachtenden Sorgfaltspflichten gestellt. Das FG habe nicht hinreichend gewürdigt, daß die Kläger aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks rechtsirrig von einer umfassenden Änderungsmöglichkeit des Einkommensteuerbescheides ausgegangen seien. Der Rechtsirrtum der Kläger sei darauf zurückzuführen, daß der den Festsetzungsteil überschreibende Vorläufigkeitsvermerk keinen einschränkenden Zusatz ("teilweise") enthalten habe und es sich nicht aufgedrängt habe, in den umseitigen Erläuterungen des Bescheides nach einer etwaigen Einschränkung der Vorläufigkeit zu suchen.
2. Das FG habe nicht hinreichend gewürdigt, daß das Fehlen des Zusatzes "teilweise" ursächlich dafür war, daß die Kläger den Vorläufigkeitsvermerk wie einen Nachprüfungsvorbehalt verstanden hätten.
Das FG habe nicht berücksichtigt, daß die Erläuterungen zum Umfang der Vorläufigkeit mißverständlich formuliert seien. Die Formulierung, der Bescheid sei vorläufig im Hinblick auf die Anhängigkeit von Verfassungsbeschwerden zum Grundfreibetrag hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags, lasse auch die Deutung zu, daß der Einkommensteuerbescheid in vollem Umfang vorläufig sei, zumal sie in Übereinstimmung mit der Überschreibung des Bescheides als vorläufig (ohne einschränkenden Zusatz) stehe. Der Zusatz "hinsichtlich der Höhe des Grundfreibetrags (§32 a Abs. 1 Nr. 1 EStG)" könne auch als eine nähere Konkretisierung der anhängigen Verfassungsbeschwerde zum Grundfreibetrag aufgefaßt werden. Hätte das FA den Eindruck der Vorläufigkeit in vollem Umfang vermeiden wollen, hätte es die Erläuterungen unmißverständlich formulieren müssen. Die Kläger beriefen sich daher zu Recht auf einen Rechtsirrtum hinsichtlich des Umfangs der Vorläufigkeit.
3. Das FG habe keine Feststellungen getroffen, die die Annahme rechtfertigen könnten, daß den Klägern bereits durch die Vernachlässigung ihrer Erklärungspflichten ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen anzulasten sei.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Vorentscheidungen aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für 1989 vom 14. November 1991 unter Berücksichtigung der eingereichten Einkommensteuererklärung zu ändern.
Das FA beantragt, die Revision zurückzu weisen.
Das Verhalten der Kläger im Zusammenhang mit dem nachträglichen Bekanntwerden von steuermindernden Tatsachen sei grob fahrlässig gewesen. Ursächlich hierfür sei allerdings gerade in Schätzungsfällen bereits die Verletzung der Mitwirkungs- und Erklärungspflicht durch Nichtabgabe der Steuererklärung. Dieses grobe Verschulden werde durch eine etwaige vorbehaltlose Schätzung des FA weder gemindert noch aufgehoben.
Bei der Frage nach dem Umfang der Vorläufigkeit der Steuerfestsetzung könnten sich die Kläger nicht auf einen Rechtsirrtum berufen. Der einschränkende Hinweis in den Erläuterungen zum angefochtenen Bescheid sei nach allen Lesarten eindeutig.
Das FA sei nicht verpflichtet gewesen, den Bescheid unter den Vorbehalt der Nachprüfung zu stellen. Im Streitfall hätten die entsprechenden Voraussetzungen nicht vorgelegen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist gemäß §126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) begründet. Das angefochtene Urteil verletzt §173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977; das FG hat das grobe Verschulden zu Unrecht auf die Auslegung des Vorläufigkeitsvermerks bezogen.
1. Gemäß §173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.
Das grobe Verschulden muß in bezug auf das Ereignis gegeben sein, das das nachträgliche Bekanntwerden verursacht hat. Bereits existierende Tatsachen werden von dem Zeitpunkt an nachträglich bekannt, in dem die Steuerfestsetzung abschließend unterzeichnet wird (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., Stand April 1994, §173 AO 1977 Tz. 24). Der Grund für das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen (im Streitfall also das Bekanntwerden nach dem 1. Oktober 1991) bestand darin, daß die Kläger trotz mehrfacher Fristverlängerung die Einkommensteuererklärung nicht eingereicht hatten. Ob dieses Versäumnis grob schuldhaft verursacht worden ist, kann nicht beurteilt werden, wenn auch die Nichtabgabe der Steuererklärung trotz mehrfacher Fristverlängerung darauf hindeutet; das FG hat zu dieser Frage keine ausreichenden Feststellungen getroffen.
Demgegenüber ist der vom FG herangezogene Umstand, daß die Kläger aufgrund der Vorstellung über die unbegrenzte Vorläufigkeit davon ausgingen, ihren Tatsachenvortrag noch unbegrenzt ergänzen zu können, für die Frage einer grob schuldhaften Verursachung des nachträglichen Bekanntwerdens ohne Bedeutung. Das nachträgliche Bekanntwerden ist nicht durch die Vorstellung über den unbegrenzten Vorläufigkeitsvermerk verursacht worden, sondern durch die nicht erfolgte Abgabe der Steuerklärung vor dem 1. Oktober 1991; auch ein Vorbehalt der Nachprüfung hätte das nachträg liche Bekanntwerden nicht verhindern können. Daß die Kläger in diesem Fall ihren Vortrag noch hätten ergänzen können, hat für die Beurteilung des nachträglichen Bekanntwerdens keine Bedeutung.
2. Ein grobes Verschulden wäre nicht gemäß §173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO 1977 unbeachtlich. Bei einer vorausgegangenen Schätzung kommt es allein darauf an, ob die Einkünfte einer Einkunftsart insgesamt zu einer niedrigeren Steuer führen (BFH-Urteil vom 24. April 1991 XI R 28/89, BFHE 164, 192, BStBl II 1991, 606).
Fundstellen
Haufe-Index 66615 |
BFH/NV 1998, 1 |