Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Verjährungshemmung durch Ermittlungsverfahren der Steuerfahndung gegenüber Handlungsunfähigem - Handlungsfähigkeit als Voraussetzung von Verfahrenshandlungen - Wirksamkeit einer Verjährungsunterbrechung nur bei Wirksamkeit des zugrundeliegenden Steuerbescheids - Verjährungshemmung nach Betriebsprüfung bzw. Maßnahmen der Steuerfahndung
Leitsatz (amtlich)
Ermittlungsmaßnahmen der Steuerfahndung gegenüber einem Handlungsunfähigen hemmen nicht den Ablauf der Festsetzungsfrist.
Orientierungssatz
1. Nach § 79 Abs. 1 AO 1977 ist Handlungsfähigkeit die Fähigkeit zur Vornahme von Verfahrenshandlungen. Unter Verfahrenshandlungen sind sowohl Willenserklärungen als auch Wissenserklärungen und tatsächliche Handlungen, an die steuerrechtliche Konsequenzen anknüpfen, zu verstehen. Vornahme von Verfahrenshandlungen bedeutet nicht nur das aktive Tun, sondern auch das passive Verhalten eines Steuerpflichtigen, wie z.B. die Entgegennahme von Verwaltungsakten oder auch die Duldung von Maßnahmen des FA. Verfahrenshandlungen gegenüber einem Handlungsunfähigen sind in der Regel unwirksam. Der Steuerpflichtige trägt die objektive Beweislast (Feststellungslast) für das Vorliegen einer Handlungsunfähigkeit.
2. Die durch eine schriftliche Zahlungsaufforderung bewirkte Verjährungsunterbrechung nach § 147 Abs.2 AO 1977 bleibt auch bei einer späteren Aufhebung des Bescheids bestehen. Die Verjährung wird allerdings nur bei Wirksamkeit der Steuerbescheide unterbrochen.
3. Hemmung der Verjährung nach § 146a Abs.3 AO: Unter Betriebsprüfung im Sinne dieser Vorschrift sind besonders qualifizierte Maßnahmen des FA zu verstehen, die darauf gerichtet sind, den für die richtige Anwendung der Steuergesetze wesentlichen Sachverhalt zu prüfen und ggf. die sich aus dem Sachverhalt ergebenden Steueransprüche zu ermitteln. Diese Voraussetzungen kann auch eine Steuerfahndungsprüfung erfüllen. Voraussetzung ist, daß die den Ablauf der Fristen hemmenden Ereignisse als solche für den Steuerpflichtigen erkennbar sind. Erkennbarkeit in diesem Sinne bedeutet allerdings nicht nur, daß die Maßnahmen objektiv die Voraussetzungen einer qualifizierten Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen erfüllen; der Steuerpflichtige muß vielmehr auch subjektiv in der Lage sein, die Maßnahmen als solche zu erfassen.
4. Hemmung der Verjährung aufgrund von Maßnahmen der Steuerfahndung: Zwar reicht nach dem Wortlaut des § 171 Abs. 5 AO 1977 für die verjährungshemmende Wirkung der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen der bloße tatsächliche Vorgang dieser Maßnahmen aus. Der Steuerpflichtige muß aber auch insoweit erkennen können, daß in seinen Steuerangelegenheiten ermittelt wird. Unwirksame Verfahrenshandlungen jedoch können den Ablauf der Verjährungsfrist bzw. Festsetzungsfrist nicht hemmen.
Normenkette
AO 1977 § 146a Abs. 3, § 171 Abs. 5, § 79 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Die Mutter des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) war Konzessionsträgerin einer Nachtbar. Aufgrund einer gegen sie ergangenen Prüfungsanordnung begann am 3. Oktober 1979 eine Außenprüfung in dem Lokal. Da sich während der Prüfung der Verdacht ergab, daß nicht die Mutter des Klägers, sondern der Kläger das Lokal betrieb und, daß die tatsächlich erzielten Umsätze erheblich über den erklärten lagen, ersuchte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) die Steuerfahndungsstelle A, die steuerlichen Verhältnisse des Klägers aufzudecken. Die Steuerfahndungsstelle leitete am 16. November 1979 das Strafverfahren gegen den Kläger ein und erwirkte beim Amtsgericht B einen Durchsuchungsbeschluß gegen ihn. Aufgrund dieses Beschlusses vom 20. November 1979 wurden am 27. November 1979 in Abwesenheit des Klägers die Geschäftsräume der Bar durchsucht. Dabei wurde u.a. ein von der damaligen Ehefrau des Klägers geführtes Einnahmenbuch, in dem die Tageseinnahmen für die Zeit vom 3. Juli 1975 bis 31. Mai 1977 festgehalten waren, gefunden und beschlagnahmt. Aufgrund dieses Einnahmenbuchs und sonstiger Geschäftsunterlagen ermittelte die Steuerfahndungsstelle im Zusammenwirken mit den Prüfungsdiensten des FA im Schätzungswege die Besteuerungsgrundlagen für die Umsatzsteuer, Einkommensteuer und Gewerbesteuer der Streitjahre 1975 bis 1977.
Im September 1980 erließ das FA erstmalige Steuerbescheide gegen den Kläger. Diese hob es mit Verfügung vom 22. Dezember 1982 wieder auf, nachdem sich herausgestellt hatte, daß der Kläger in der Zeit vom 8. April bis 30. Juni 1980 in stationärer psychiatrischer Behandlung und auch in der Folgezeit wegen seiner psychischen Erkrankung nicht verhandlungsfähig war. Im Rahmen des gegen den Kläger geführten Strafverfahrens kam der Sachverständige in seinem Gutachten vom 11. September 1984 zu dem Ergebnis, daß der Kläger nunmehr verhandlungsfähig sei. Das Gutachten kam dem FA am 31. Januar 1985 zur Kenntnis. Daraufhin erließ es in den Monaten September bis November 1985 die angefochtenen Bescheide über Umsatzsteuer und Einkommensteuer; am 15. April 1986 ergingen die Gewerbesteuermeßbescheide für 1975 bis 1977.
Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage machte der Kläger geltend, er sei in den Jahren 1975 bis 1980 wegen Geisteskrankheit zivilrechtlich geschäftsunfähig und steuerrechtlich handlungsunfähig (§ 79 der Abgabenordnung --AO 1977--) gewesen.
Das Finanzgericht (FG) hat die Klage, die sich gegen die Einkommensteuerfestsetzungen 1975 bis 1977 und 1979, Umsatzsteuerfestsetzungen 1975 bis 1979 und Gewerbesteuermeßbescheide 1975 bis 1977 und 1979 richtete, abgewiesen.
Es führt im wesentlichen aus, die regulären Verjährungsfristen für die Streitjahre seien bei Erlaß der angefochtenen Bescheide abgelaufen gewesen. Ob wegen Steuerhinterziehung die Verjährungsfristen 10 Jahre betrügen oder mangels Schuldfähigkeit des Klägers in den Streitjahren keine schuldhafte Steuerhinterziehung vorliege, könne offenbleiben, da jedenfalls durch die Steuerfahndungsprüfung der Ablauf der Verjährungsfristen nach § 146a Abs. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) bzw. § 171 Abs. 4 AO 1977 gehemmt worden sei.
Der verjährungshemmenden Wirkung der Steuerfahndungsprüfung, die als umfassende Ermittlung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Klägers eine Betriebsprüfung i.S. des § 146a Abs. 3 AO gewesen sei, stehe § 79 AO 1977 nicht entgegen, unabhängig davon, ob der Kläger bei der Durchführung der Fahndungsprüfung handlungsfähig im Sinne der Vorschrift gewesen sei oder nicht. Zwar regle § 79 AO 1977 nicht nur die aktive, sondern auch die passive Handlungsfähigkeit und stelle eine Schutzvorschrift zugunsten des Handlungsunfähigen dar. Dieser solle aber dadurch nicht besser gestellt werden als ein voll Handlungsfähiger. Die Fahndungsprüfung habe mit der beim Kläger in dessen Abwesenheit vorgenommenen Durchsuchung begonnen. Bereits hierdurch sei die verjährungshemmende Wirkung eingetreten, die auch ein Handlungsfähiger nicht hätte verhindern können. Ob durch eine spätere Anfechtung des Durchsuchungsbeschlusses die verjährungshemmende Wirkung der Durchsuchung wieder hätte beseitigt werden können, könne offenbleiben. Der Beschluß sei auch vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers, der sich bereits am 15. Januar 1980 als sein Vertreter bestellt habe, nicht angefochten worden. Die von der Steuerfahndung ermittelten Besteuerungsgrundlagen seien trotz einer während des Prüfungsverfahrens möglicherweise bestehenden Handlungsunfähigkeit des Klägers verwertbar.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision (vgl. auch den Aussetzungsbeschluß vom 27. Juli 1994 XI S 1/94, BFHE 174, 494, BStBl II 1994, 787) rügt der Kläger Verletzung der §§ 146a AO, 171 AO 1977, 79 AO 1977, außerdem Verfahrensfehler durch Verletzung des § 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Er verweist zur Begründung zunächst im wesentlichen auf den Beschluß des Senats in BFHE 174, 494, BStBl II 1994, 787 und trägt ergänzend vor, das FG habe § 146a Abs. 3 AO sowie § 171 Abs. 5 AO 1977 auch deshalb fehlerhaft angewendet, weil es nicht geprüft habe, ob für die Fahndungsprüfung eine Anordnung vorgelegen habe. Eine solche Anordnung sei für die Annahme einer Quasi-Betriebsprüfung erforderlich. Das FG habe außerdem den Schutzcharakter des § 79 AO 1977 verkannt. Dieser Schutz gebiete es, daß eine Steuerfahndungsprüfung gegenüber Handlungsunfähigen unwirksam sei, mithin auch nicht zur Ablaufhemmung führen könne. Außerdem habe das FG entscheidungserhebliche Beweisanträge des Klägers übergangen. Dieser habe unter Beweis gestellt, daß er für 1975 bis 1980 handlungsunfähig i.S. des § 79 AO 1977 gewesen sei. Das FG habe diese Frage offengelassen, obgleich sie entscheidungserheblich sei; denn das FG halte dem Kläger entgegen, daß er trotz seiner behaupteten Geisteskrankheit in der Lage gewesen sei, die verjährungshemmende Wirkung der im Rahmen der Fahndungsprüfung erfolgten Durchsuchung durch seinen Anwalt zu beseitigen. Eine Anwaltsbestellung durch den geisteskranken Kläger wäre aber unwirksam gewesen. Schließlich habe das FG insoweit aufgrund eines unvollständig ermittelten Sachverhalts entschieden, als das Urteil keine nachvollziehbaren Feststellungen zu der Tätigkeit der Steuerfahndung enthalte. Hätte das FG festgestellt, daß die Steuerfahndungsstelle gemäß § 208 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 eine Außenprüfung bei dem Kläger durchgeführt hat, so wären die Vorschriften der Außenprüfung anwendbar. Mangels Prüfungsanordnung gegenüber dem Kläger wären sämtliche Feststellungen der Steuerfahndung für sämtliche Steuerbescheide nicht verwertbar. Hätte das FG festgestellt, daß die Fahndungsstelle allein Hilfsfunktionen erfüllt habe, so wäre keine Ablaufhemmung nach § 146a Abs. 3 AO für die Steuerbescheide hinsichtlich der Jahre 1975 und 1976 eingetreten. Die Fahndungsstelle wäre nicht wie eine Betriebsprüfung tätig gewesen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des FG Köln bezüglich der Streitjahre 1975 bis 1977 sowie die mit jener Klage angegriffenen Bescheide betreffend Einkommensteuer 1975 bis 1977, Umsatzsteuer 1975 bis 1977 und Gewerbesteuermeßbetrag 1975 bis 1977 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Es macht im wesentlichen geltend, nach den Grundsätzen der zu § 146a Abs. 3 AO entwickelten Rechtsprechung, ob eine Zoll- oder Steuerfahndungsprüfung als Betriebsprüfung im Sinne der Vorschrift anzusehen sei, komme es darauf an, ob die Maßnahmen als besonders qualifizierte Handlungen zur Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen erkennbar seien. Erkennbarkeit bedeute die Möglichkeit der Kenntnis für einen objektiven Dritten, nicht aber eine tatsächlich vorhandene subjektive Kenntnis des betroffenen Steuerpflichtigen. Objektiv erkennbar sei der umfassende Prüfungsauftrag der Steuerfahndung insbesondere aufgrund des Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts B gewesen. Eine darüber hinausgehende subjektive Erkennbarkeit für den Kläger sei nicht erforderlich gewesen, so daß es für die Frage der Verjährung auf eine passive Handlungsfähigkeit des Klägers nicht ankomme. Selbst wenn der Kläger handlungsunfähig gewesen sein sollte, so wäre dieser Mangel aber geheilt, da er später die Geschäfts- und damit die Handlungsfähigkeit wiedererlangt habe. Eine rückwirkende Heilung der Unwirksamkeit einer Verfahrenshandlung trete ein, wenn der gesetzliche Vertreter oder der nachträglich handlungsfähig gewordene Beteiligte diese genehmige oder die Genehmigung unter Verstoß gegen Treu und Glauben verweigere. Für die Genehmigung sei keine bestimmte Form vorgeschrieben. Der Kläger habe auch nach Wiedererlangung der Handlungsfähigkeit den Durchsuchungsbeschluß nicht angefochten. Dadurch habe er konkludent die verjährungshemmende Wirkung der Steuerfahndungsprüfung genehmigt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils hinsichtlich der Streitjahre 1975 bis 1977 und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Zu Unrecht hat das FG angenommen, daß die Handlungsunfähigkeit eines Steuerpflichtigen der verjährungshemmenden Wirkung von Steuerfahndungsermittlungen nicht entgegensteht.
1. Nach § 79 Abs. 1 AO 1977 ist Handlungsfähigkeit die Fähigkeit zur Vornahme von Verfahrenshandlungen. Unter Verfahrenshandlungen sind sowohl Willenserklärungen als auch Wissenserklärungen und tatsächliche Handlungen, an die steuerrechtliche Konsequenzen anknüpfen, zu verstehen (vgl. u.a. Kühn/Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 17. Aufl., § 79 AO 1977 Nr. 7, und Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 79 AO 1977 Rdnr. 2). Vornahme von Verfahrenshandlungen bedeutet nicht nur das aktive Tun, sondern auch das passive Verhalten eines Steuerpflichtigen, wie z.B. die Entgegennahme von Verwaltungsakten oder auch die Duldung von Maßnahmen des FA (allgemeine Meinung, vgl. z.B. Tipke/Kruse, a.a.O., § 79 AO 1977 Rdnr. 2; Helsper in Koch/Scholz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 79 Rdnr. 2, und Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 79 AO 1977 Rdnr. 6). Die vorliegend vom Kläger bestrittene Handlungsfähigkeit setzt die Geschäftsfähigkeit nach bürgerlichem Recht voraus (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977). Geschäftsunfähig ist nach § 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.
Verfahrenshandlungen gegenüber einem Handlungsunfähigen sind in der Regel unwirksam (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 79 AO 1977 Rdnr. 3; Helsper in Koch/Scholz, a.a.O., § 79 Rdnr. 11; Söhn in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 79 AO 1977 Rdnr. 48; vgl. auch Bonk in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 4. Aufl., § 12 Rdnr. 5 zu dem mit § 79 AO 1977 übereinstimmenden § 12 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, und Laubinger, Verwaltung im Rechtsstaat, Festschrift für Ule, 1987, S.161, 176 f.).
Im Streitfall hängt von der Handlungsfähigkeit des Klägers nicht nur die Wirksamkeit der Steuerfahndungsmaßnahmen ab, sondern für die Streitjahre 1975 und 1976 die Entscheidung über eine Unterbrechung der Verjährung durch die im September 1980 erlassenen Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide. Im Falle der Wirksamkeit der Steuerfahndungsmaßnahmen ist die Handlungsfähigkeit schließlich für die Entscheidung über die Frage von Bedeutung, ob nicht bereits die Bescheide vom September 1980 als aufgrund der Ermittlungen der Steuerfahndung zu erlassende bzw. ergangene Bescheide mit ihrer Aufhebung unanfechtbar geworden sind.
2. Für die Streitjahre 1975 und 1976 sind gemäß Art. 97 § 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO 1977) die Vorschriften der AO über die Verjährung anzuwenden. Nach § 144 Abs. 1 AO beträgt die Verjährungsfrist bei der Umsatzsteuer, Einkommensteuer und Gewerbesteuer 5 Jahre. Sie begann im Streitfall gemäß § 145 Abs. 2 Nr. 1 AO für 1975 mit Ablauf des Jahres 1978 und für 1976 mit Ablauf des Jahres 1979, da der Kläger als Unternehmer und Gewerbetreibender zur Abgabe der entsprechenden Steuererklärungen gesetzlich verpflichtet war (§ 18 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes --UStG-- 1973; § 56 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung --EStDV--, und § 25 der Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung --GewStDV--). Zutreffend hat das FG entschieden, daß es unerheblich ist, ob sich der Kläger seiner Erklärungspflicht bewußt war.
a) Das FG ist davon ausgegangen, daß die Verjährungsfristen für die streitigen Steueransprüche der Jahre 1975 und 1976 am 31. Dezember 1983 und 31. Dezember 1984, vor Erlaß der angefochtenen Steuerbescheide, abgelaufen waren. Diese Beurteilung setzt allerdings voraus, daß die Verjährung nicht nach § 147 Abs. 1 AO unterbrochen war.
Nach dieser Vorschrift wird die Verjährung u.a. durch schriftliche Zahlungsaufforderung unterbrochen. Mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Unterbrechung endet, beginnt eine neue Verjährung (§ 147 Abs. 2 AO). Die im September 1980 erlassenen Einkommensteuer- und Umsatzsteuerbescheide 1975 und 1976 enthielten die Aufforderung zur Zahlung. Die durch schriftliche Zahlungsaufforderung bewirkte Unterbrechung bleibt auch bei einer späteren Aufhebung des Bescheids bestehen (vgl. BFH-Urteil vom 26. November 1974 VII R 45/72, BFHE 114, 522, BStBl II 1975, 460). Die Verjährung wird allerdings nur bei Wirksamkeit der Steuerbescheide unterbrochen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 27. November 1981 II R 18/80, BFHE 134, 519, BStBl II 1982, 276). Im Streitfall besteht --auch nach Auffassung des FA-- die Möglichkeit, daß die Bescheide wegen Handlungsunfähigkeit des Klägers im Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe unwirksam waren. Ob dies zutrifft, läßt sich aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des FG nicht beurteilen.
b) Sollte die Verjährung nicht unterbrochen worden sein, so kann ihr Ablauf nach § 146a Abs. 3 AO gehemmt gewesen sein.
Wird vor Ablauf der Verjährungsfrist mit einer Betriebsprüfung begonnen, so verjähren nach § 146a Abs. 3 AO Ansprüche, auf die sich die Betriebsprüfung erstreckt nicht, bevor die aufgrund der Betriebsprüfung ergangenen Bescheide unanfechtbar geworden sind. Unter Betriebsprüfung im Sinne dieser Vorschrift sind besonders qualifizierte Maßnahmen des FA zu verstehen, die darauf gerichtet sind, den für die richtige Anwendung der Steuergesetze wesentlichen Sachverhalt zu prüfen und ggf. die sich aus dem Sachverhalt ergebenden Steueransprüche zu ermitteln. Diese Voraussetzungen kann auch eine Steuerfahndungsprüfung erfüllen; denn die den Fahndungsstellen obliegende Erforschung von Steuerstraftaten und Ordnungswidrigkeiten ist in der Regel mit steuerlichen Ermittlungen verbunden (vgl. BFH-Urteile vom 16. Januar 1979 VIII R 149/77, BFHE 127, 128, BStBl II 1979, 453, und vom 7. November 1990 X R 143/88, BFHE 163, 329, BStBl II 1991, 325).
Die Maßnahmen der Steuerfahndungsstelle im Jahre 1979 waren grundsätzlich geeignet, den Ablauf der Verjährungsfristen für die Steueransprüche der Streitjahre 1975 und 1976 zu hemmen. Nach § 208 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AO 1977 ist Aufgabe der Steuerfahndung u.a. die Erforschung von Steuerstraftaten und die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen in diesen Fällen. Die Steuerfahndung kann sich dazu sowohl der den Finanzbehörden im Besteuerungsverfahren zustehenden Ermittlungsbefugnisse (§ 85 f. AO 1977) als auch der besonderen Befugnisse bedienen, die ihren Beamten als Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft im Steuerstrafverfahren eingeräumt sind (§ 404 AO 1977). Die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und der Finanzbehörde im Besteuerungsverfahren und im Strafverfahren richten sich nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften (§ 393 Abs. 1 Satz 1 AO 1977; vgl. BFH-Beschluß vom 29. Oktober 1986 I B 28/86, BFHE 147, 492, BStBl II 1987, 440). Im Streitfall ist die Steuerfahndung im Steuerstrafverfahren tätig geworden; denn sie hat eine richterliche Anordnung auf Durchsuchung der Geschäftsräume und der Wohnung des Klägers (§§ 102 f. der Strafprozeßordnung --StPO--) erwirkt. Für die verjährungshemmende Wirkung der Maßnahmen der Steuerfahndung reicht es aus, daß diese auch die Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen umfaßt.
§ 146a Abs. 3 AO setzt voraus, daß die den Ablauf der Fristen hemmenden Ereignisse als solche für den Steuerpflichtigen erkennbar sind. Für die Anwendung des § 146a Abs. 3 AO hat dies der BFH mehrfach entschieden (vgl. außer dem Urteil in BFHE 127, 128, BStBl II 1979, 453, Urteile vom 3. Juni 1975 VII R 46/72, BFHE 116, 95, BStBl II 1975, 786; vom 21. Februar 1978 VII R 117/74, BFHE 124, 416, BStBl II 1978, 360, und vom 19. Juni 1979 VII R 27/77, BFHE 128, 153, BStBl II 1980, 31). Erkennbarkeit in diesem Sinne bedeutet allerdings nicht nur, daß die Maßnahmen objektiv die Voraussetzungen einer qualifizierten Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen erfüllen; der Steuerpflichtige muß vielmehr auch subjektiv in der Lage sein, die Maßnahmen als solche zu erfassen. Diese Auslegung des § 146a Abs. 3 AO entspricht dem mit der Einfügung der Vorschrift durch das AO-Änderungsgesetz vom 15. September 1965 (BGBl I, 1356, BStBl, I 643) verfolgten Ziel, Rechtssicherheit auf dem Gebiet der Verjährung von Abgabenforderungen dadurch zu gewährleisten, daß über die Abgrenzung des Begriffs Betriebsprüfung zu sonstigen Ermittlungshandlungen der Verwaltung keine Unklarheit besteht (vgl. BFH-Urteil in BFHE 116, 95, BStBl II 1975, 786).
Dem steht nicht entgegen, daß der BFH im Urteil vom 7. Februar 1980 II R 119/77 (BFHE 131, 437, BStBl II 1981, 409) ausgeführt hat, daß die Handlungen des Prüfers zur Ermittlung des Steuerfalls dem Betroffenen gegenüber nicht stets sofort evident zu werden bräuchten. Für den Beginn der Prüfung genüge es vielmehr, daß der Prüfer mit dem Studium der den Steuerfall betreffenden Akten beginne (vgl. auch BFH-Urteil vom 11. Oktober 1983 VIII R 11/82, BFHE 139, 496, BStBl II 1984, 125). In dem entschiedenen Fall war der Zeitpunkt des Beginns der Prüfung streitig. Die verjährungshemmende Wirkung der Prüfungsmaßnahmen stand im Hinblick auf die Übergabe einer Prüfungsanordnung außer Zweifel.
3. Für das Streitjahr 1977 begann die vierjährige Festsetzungsfrist für Umsatzsteuer, Einkommensteuer und Gewerbesteuer (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977 gemäß § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977) mit Ablauf des Jahres 1980 und endete mit Ablauf des Jahres 1984, also vor Erlaß der angefochtenen Bescheide. Wird vor Ablauf der Festsetzungsfrist durch die mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen der Landesfinanzbehörden beim Steuerpflichtigen mit Ermittlungen der Besteuerungsgrundlagen begonnen, so läuft gemäß § 171 Abs. 5 AO 1977 die Festsetzungsfrist insoweit nicht ab, bevor die aufgrund der Ermittlungen zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind. Das gleiche gilt, wenn dem Steuerpflichtigen vor Ablauf der Festsetzungsfrist die Einleitung des Steuerstrafverfahrens oder des Bußgeldverfahrens wegen einer Steuerordnungswidrigkeit bekanntgegeben worden ist. § 171 Abs. 5 AO 1977 enthält zwei verschiedene Tatbestände der Verjährungshemmung: Die Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen, die entweder im Steuerstrafverfahren oder im Besteuerungsverfahren durchgeführt werden kann (vgl. BFH-Beschluß in BFHE 147, 492, BStBl II 1987, 440) und die Bekanntgabe der Einleitung des Steuerstrafverfahrens. Wird die Steuerfahndung im Rahmen des Steuerstrafverfahrens tätig, so werden --möglicherweise zu unterschiedlichen Zeitpunkten-- beide Tatbestände erfüllt.
Zwar reicht nach dem Wortlaut des § 171 Abs. 5 AO 1977 für die verjährungshemmende Wirkung der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen der bloße tatsächliche Vorgang dieser Maßnahmen aus. Der Steuerpflichtige muß aber auch insoweit erkennen können, daß in seinen Steuerangelegenheiten ermittelt wird (allgemeine Meinung, vgl. u.a. Tipke/Kruse, a.a.O., § 171 AO 1977 Rdnr. 20; Baum in Koch/Scholz, a.a.O., § 171 Rdnr. 26/1; Ruban in Hübschmann/Hepp/Spitaler, a.a.O., § 171 AO 1977 Rdnr. 71, und Schwarz, Abgabenordnung, § 171 Rdnr. 49). Für diese Auslegung spricht insbesondere die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Der Finanzausschuß begründete seinen Vorschlag, die Vorschrift in die AO 1977 einzufügen, wie folgt: "Der neu eingefügte Abs. 5 stellt hinsichtlich der Ablaufhemmung Maßnahmen der Zoll- bzw. Steuerfahndung dem Beginn einer Außenprüfung gleich. Die Wirkung der Ablaufhemmung tritt nur ein, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit Ermittlungen beim Steuerpflichtigen begonnen wird, oder wenn dem Steuerpflichtigen die Einleitung des Steuerstraf- oder Bußgeldverfahrens bekanntgegeben wird. Damit wird sichergestellt, daß der Steuerpflichtige vom Eintritt der Ablaufhemmung Kenntnis erhält."
4. Unabhängig von der Frage, inwieweit bereits das Erkennenkönnen der steuerrechtlichen Bedeutsamkeit von Ermittlungen der Steuerfahndung die Handlungsfähigkeit des Steuerpflichtigen voraussetzt, sind solche Maßnahmen gegenüber einem Handlungsunfähigen gemäß § 79 Abs. 1 AO 1977 unwirksam.
Unwirksame Verfahrenshandlungen vermögen den Ablauf der Verjährungs- bzw. Festsetzungsfrist nicht zu hemmen. So erfordert die Ablaufhemmung aufgrund einer Außenprüfung gemäß § 171 Abs. 4 AO 1977, daß die Prüfungsanordnung wirksam ist (vgl. BFH-Urteil vom 21. April 1993 X R 112/91, BFHE 171, 15, BStBl II 1993, 649, m.w.N.). Anders als die Außenprüfung setzt die Ermittlung von Besteuerungsgrundlagen durch die Steuerfahndung zwar keine der Prüfungsanordnung entsprechende, dem Steuerpflichtigen schriftlich zu erteilende Anordnung voraus (vgl. BFH-Beschluß vom 8. November 1993 VI B 99/93, BFH/NV 1994, 258). In diesem Fall wirkt das tatsächliche Vorgehen der Steuerfahndung gegenüber einem Steuerpflichtigen --ebenso wie die Bekanntgabe der Einleitung des Strafverfahrens-- aber auch nur dann verjährungshemmend, wenn der Steuerpflichtige handlungsfähig ist. Andernfalls würde der Zweck des § 79 AO 1977, den Handlungsunfähigen zu schützen, vereitelt. Dieser wird kraft Gesetzes als außerstande angesehen, seine Interessen im Verwaltungsverfahren in der gebotenen Weise wahrzunehmen. Darauf, ob der Handlungsfähige die verjährungshemmende Wirkung einer in seiner Abwesenheit durchgeführten Durchsuchung durch die Steuerfahndung beseitigen könnte, kommt es --entgegen der Auffassung des FG-- nicht an. Der Handlungsfähige ist in der Lage, sich gegen die Maßnahmen zur Wehr zu setzen, sobald er davon erfährt; dem Handlungsunfähigen fehlt hierzu die Einsicht.
5. Die Sache ist nicht entscheidungsreif.
Das FG hat bisher keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Behauptung des Klägers, er sei im Zeitpunkt der Eröffnung des Strafverfahrens und des Beginns der Ermittlungshandlungen durch die Steuerfahndungsbehörde handlungsunfähig gewesen, zutrifft. Den Kläger trifft insoweit die objektive Beweislast (Feststellungslast; vgl. Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Februar 1994 2 B 173/93, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 2633).
Von der Handlungsfähigkeit des Klägers hängt nicht nur die Wirksamkeit der Ermittlungen durch die Steuerfahndung ab; sie ist auch für die Frage der Unterbrechung der Verjährung der Steueransprüche für 1975 und 1976 --hinsichtlich der Gewerbesteuer kommt es insoweit auf den Erlaß der die Zahlungsaufforderung enthaltenden Gewerbesteuerbescheide für diese Jahre an-- von Bedeutung. Für den Fall, daß der Kläger seinem Vortrag entsprechend bereits im November 1979 handlungsunfähig gewesen sein sollte, wird das FG zu prüfen haben, ob die damals unwirksamen Verfahrenshandlungen von seinem Anwalt oder von ihm selbst nach Wiedererlangung seiner Handlungsfähigkeit genehmigt worden sind. Für den Fall, daß die Ermittlungsmaßnahmen der Steuerfahndung wirksam waren, wird das FG zu beurteilen haben, ob der Ablauf der Verjährungs- bzw. Festsetzungsfristen beim Erlaß der angefochtenen Bescheide noch gehemmt war. Sollten die im September 1980 erlassenen Bescheide wirksam gewesen sein, so wären die Steuerfestsetzungen mit der (wirksamen) Aufhebung der Bescheide im Jahre 1982 unanfechtbar geworden (vgl. BFH-Urteil vom 6. Mai 1994 VI R 47/93, BFHE 174, 363, BStBl II 1994, 715). Für den Fall, daß die regulären Verjährungs- und Festsetzungsfristen im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Bescheide abgelaufen gewesen sein sollten, wird das FG schließlich Feststellungen dazu zu treffen haben, ob die streitigen Steuern hinterzogen worden sind.
Der Senat weist zu der Frage eines Verwertungsverbots für die von der Steuerfahndung getroffenen Feststellungen darauf hin, daß dieses die Rechtswidrigkeit des Durchsuchungsbeschlusses zur Voraussetzung hätte (vgl. BFH-Urteil vom 24. November 1988 IV R 150/86, BFH/NV 1989, 416, 418 letzter Abs., m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 66304 |
BFH/NV 1997, 405 |
BStBl II 1997, 595 |
BFHE 183, 13 |
BFHE 1998, 13 |
BB 1997, 1834 (Leitsatz) |
DB 1997, 1802-1804 (Leitsatz und Gründe) |
DStR 1997, 1402-1405 (Leitsatz und Gründe) |
DStRE 1997, 781 (Leitsatz) |
DStZ 1997, 869 (Leitsatz) |
HFR 1997, 891-892 (Leitsatz und Gründe) |