Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld: Keine Korrektur eines während des Kalenderjahres ergangenen bestandskräftigen Kindergeldbescheides aufgrund geänderter Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG
Leitsatz (NV)
§ 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der maßgebliche Jahresgrenzbetrag allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat.
Normenkette
EStG § 32 Abs. 4, § 70 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog für seinen im Jahr 1984 geborenen Sohn, der sich in Ausbildung befand, Kindergeld.
Mit Bescheid vom 9. Dezember 2002 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes für den Sohn ab Januar 2003 auf, da dessen Einkünfte und Bezüge voraussichtlich den Jahresgrenzbetrag im Jahr 2003 von 7 188 € (§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- in der für das Jahr 2003 geltenden Fassung) überschritten. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Unter dem 18. Dezember 2003 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Kindergeld für das Jahr 2003. Mit Bescheid vom 18. Dezember 2003 lehnte die Familienkasse diesen Antrag ab, weil die voraussichtlichen Einkünfte und Bezüge des Sohnes weiterhin den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Der Kläger focht den Bescheid nicht an.
Am 25. Juli 2005 beantragte der Kläger unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) die Änderung bzw. Aufhebung des Ablehnungsbescheids. Das BVerfG hatte dort entschieden, die Einbeziehung von Sozialversicherungsbeiträgen des Kindes in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Die Familienkasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10. November 2005 ab, da sie, die Familienkasse, über den Kindergeldantrag mit Bescheid vom 18. Dezember 2003 abschließend entschieden habe. Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheids vom 10. November 2005, dem Kläger für das Kalenderjahr 2003 Kindergeld zu gewähren. Es führte im Wesentlichen aus, der bestandskräftige Ablehnungsbescheid vom 18. Dezember 2003 stehe einer Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2003 nicht entgegen, da der Bescheid nach § 70 Abs. 4 EStG zu korrigieren sei.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 70 Abs. 4 EStG.
Die Familienkasse beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Entgegen der Auffassung des FG kann für das Jahr 2003 kein Kindergeld gewährt werden, da der Bescheid, mit welchem die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für diesen Zeitraum abgelehnt hat, bestandskräftig geworden ist und die Voraussetzungen für eine Änderung dieses Bescheids nach § 70 Abs. 4 EStG nicht vorliegen.
1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind kein Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von mehr als 7 188 € im Kalenderjahr (2003) hat.
2. Die Familienkasse hat mit dem Bescheid vom 18. Dezember 2003 die Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2003 abgelehnt, weil nach ihrer Berechnung die Einkünfte und Bezüge des Kindes im Kalenderjahr 2003 den Jahresgrenzbetrag überstiegen. Da der Kläger nicht innerhalb der Monatsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) Einspruch eingelegt hat, ist der Bescheid bestandskräftig geworden. Die darin getroffene Regelung über den Kindergeldanspruch ist bindend bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe dieses Bescheids, also bis Ende Dezember 2003 (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 25. Juli 2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88).
Die Bestandskraft des Ablehnungsbescheids vom 18. Dezember 2003 wird durch den Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 nicht berührt. Nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG) bleiben nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer gemäß § 78 BVerfGG für nichtig erklärten Norm beruhen, grundsätzlich unberührt. Dies gilt analog, wenn das BVerfG --wie im Streitfall-- lediglich die Auslegung einer Norm für unvereinbar mit dem GG erklärt hat (Senatsurteil vom 28. Juni 2006 III R 13/06, BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
Der Bescheid ist auch wirksam. Denn ein Bescheid, der auf einer von einer Entscheidung des BVerfG abweichenden Auslegung einer Rechtsnorm beruht, ist zwar rechtswidrig, aber nicht nichtig (Senatsurteil in BFH/NV 2006, 2204, m.w.N.).
3. Der Bescheid vom 18. Dezember 2003 ist entgegen der Auffassung des FG nicht nach § 70 Abs. 4 EStG zu ändern. § 70 Abs. 4 EStG ist nicht anwendbar, wenn der Jahresgrenzbetrag --wie im Streitfall-- allein deshalb unterschritten wird, weil sich hinsichtlich der gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge des Kindes die Rechtsauffassung zur Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG geändert hat. § 70 Abs. 4 EStG ermöglicht nur dann die Aufhebung oder Änderung eines Kindergeldbescheids, wenn sich nach Ablauf des Kalenderjahrs von der Prognose der Familienkasse abweichende tatsächliche Änderungen hinsichtlich des Betrags der Einkünfte und Bezüge ergeben haben (Senatsurteil vom 28. November 2006 III R 6/06, BFH/NV 2007, 338).
Entgegen der Auffassung des Klägers ist unerheblich, dass der Familienkasse zum Zeitpunkt des Erlasses des Ablehnungsbescheids vom 18. Dezember 2003 die genaue Höhe der vom Sohn des Klägers gezahlten Arbeitnehmerbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung nicht bekannt gewesen ist. Die Höhe der Sozialversicherungsbeiträge war nicht rechtserheblich (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, zu § 173 AO). Im Zeitpunkt des Bescheiderlasses minderten die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge sowohl nach der Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 21. Juli 2000 VI R 153/99, BFHE 192, 316, BStBl II 2000, 566, und vom 4. November 2003 VIII R 59/03, BFHE 204, 126, BStBl II 2004, 584) als auch nach Abschnitt 63.4.2.1 Abs. 2 Satz 6 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand Januar 2002 (BStBl I 2002, 369), nicht die Einkünfte des Kindes.
Fundstellen