Entscheidungsstichwort (Thema)
Obhutsprinzip beim Kindergeld verfassungs- und gemeinschaftsrechtskonform; Finanzgerichte gesetzlicher Richter für Kindergeld als Sozialleistung
Leitsatz (NV)
- Die Regelung, dass bei mehreren Berechtigten das Kindergeld an denjenigen zu zahlen ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Obhutsprinzip), verstößt weder gegen Verfassungsrecht noch gegen europäisches Gemeinschaftsrecht.
- Es verstößt nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, dass das Kindergeld, auch soweit es eine Sozialleistung ist, als Steuervergütung gezahlt wird und deshalb für Streitigkeiten darüber der Finanzrechtsweg eröffnet ist.
Normenkette
EStG §§ 31, 64 Abs. 2 S. 1; AO 1977 § 6 Abs. 2 Nr. 6, § 37 Abs. 1 S. 1; FGO § 33 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 S. 2; EWGV 1408/71 Art. 4 Abs. 1 Buchst. h, Art. 75 Abs. 1 Buchst. b, c, Abs. 2; EGVtr Art. 6 (jetzt Art. 12 EG), Art. 48; EG Art. 234 Abs. 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Vater von zwei 1982 und 1986 geborenen Kindern, die zunächst im Haushalt seiner von ihm geschiedenen früheren Ehefrau, der Beigeladenen, lebten. Seit Oktober 1996 leben die Kinder im Haushalt des Klägers, der österreichischer Staatsbürger ist und im Inland seinen Wohnsitz hat. In einem gerichtlichen Vergleich verpflichtete sich der Kläger, für die beiden Kinder Unterhalt in Höhe von monatlich 700 DM an die Beigeladene zu zahlen. In dem Vergleich ist protokolliert, dass die Beteiligten davon ausgehen, dass das gesamte staatliche Kindergeld dem Kläger zusteht.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) lehnte den Antrag des Klägers, ihm ab März 1996 Kindergeld zu gewähren, mit Bescheid vom 10. Juni 1996 mit der Begründung ab, dass die Kinder im Haushalt der Beigeladenen lebten und diese vorrangig Anspruch auf Zahlung des Kindergelds habe; in der Einspruchsentscheidung vom 5. Februar 1997 wurde ausgeführt, dem Kläger stehe das Kindergeld erst ab November 1996 zu.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es verwies darauf, dass bei mehreren Berechtigten das Kindergeld gemäß § 64 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Jahressteuergesetzes (JStG) 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) ―im Folgenden: EStG― an denjenigen gezahlt werde, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe. Das sei im Streitfall bis zum Oktober 1996 die Beigeladene gewesen. Das Obhutsprinzip des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG sei nicht verfassungswidrig. Es verstoße nicht gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG), sondern entspreche in besonderem Maße dem mit der Gewährung des Kindergeldes verfolgten Zweck, weil das Kindergeld an den Berechtigten gezahlt werde, der am meisten mit dem Kindesunterhalt belastet sei. Die Vorschrift verstoße entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht gegen europäisches Gemeinschaftsrecht. Art. 75 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern ―im Folgenden: VO Nr. 1408/71― (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― 1971 Nr. L 149/2) betreffe nur solche Personen, die nicht für die Familienangehörigen sorgten. Es liege auch kein Verstoß gegen den in Art. 48 ff. des Vertrages über die Europäische Union (EG-Vertrag) i.d.F. vom 7. Februar 1992 (ABlEG 1992 Nr. C 191/1) normierten Grundsatz der Freizügigkeit vor. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1999, 479 veröffentlicht.
Der Kläger rügt mit seiner Revision einen Verstoß der sog. Obhutsregelung gegen Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 GG, gegen Art. 75 Abs. 2 VO Nr. 1408/71, gegen Art. 48 und Art. 177 des EG-Vertrages und gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Er beantragt, die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung vom 5. Februar 1997 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm Kindergeld für die Monate März bis Oktober 1996 in Höhe von 3 200 DM für seine beiden Kinder zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Die Vorinstanz hat rechtsfehlerfrei entschieden, dass § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, wonach das Kindergeld an den Berechtigten zu zahlen ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (sog. Obhutsprinzip), von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist und auch nicht gegen europäisches Gemeinschaftsrecht verstößt.
1. Der VI. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat bereits in dem Verfahren über den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers mit Beschluss vom 10. November 1998 VI B 125/98 (BFHE 187, 477, BStBl II 1999, 137) und in einem weiteren Beschluss vom 18. Dezember 1998 VI B 215/98 (BFHE 187, 559, BStBl II 1999, 231) entschieden, dass § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt und nicht durch zivilrechtliche Vereinbarungen außer Kraft gesetzt werden kann (vgl. zu Letzterem auch BFH-Beschluss vom 30. Juni 2000 VI B 93/99, BFH/NV 2001, 33). Der erkennende Senat hat sich dieser Auffassung mit Urteil vom 14. Mai 2002 VIII R 64/00 (BFH/NV 2002, 1425) angeschlossen und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die genannten Entscheidungen. Das Obhutsprinzip ist sachgerecht, weil es der Lebenserfahrung Rechnung trägt, dass derjenige am meisten mit dem Kindesunterhalt belastet ist, der das Kind in seiner Obhut hat, es also betreut, erzieht und versorgt (vgl. BTDrucks 13/1558, S. 165, zu § 3 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes ―BKGG―).
Wenn kindergeldberechtigte Eltern sich wegen der Berücksichtigung des Kindergeldes auf Regelungen einigen, die von der Gesetzeslage abweichen, dann können die mit diesen privatrechtlichen Vereinbarungen zusammenhängenden Risiken und Nachteile nicht dem Gesetzgeber angelastet werden, sondern sind von ihnen selbst zu vertreten. Deshalb ist entgegen der Rüge des Klägers auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen das gesetzlich verankerte Obhutsprinzip gegen Art. 6 Abs. 1 und 2 GG verstoßen könnte.
Auch war im Streitjahr 1996 die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Entlastung des zur Zahlung verpflichteten Elternteils dadurch sichergestellt, dass er den von ihm zu leistenden Unterhalt gemäß § 1615g Abs. 1 des Bürgerliches Gesetzbuchs (BGB) in Höhe des halben Kindergeldes kürzen konnte.
2. Es verstößt entgegen der Auffassung der Revision auch nicht gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, dass der Gesetzgeber das bisherige duale System von Kindergeld und Kinderfreibetrag mit Wirkung ab dem 1. Januar 1996 dahin geändert hat, dass nach § 31 Satz 1 EStG die steuerliche Freistellung des Einkommensbetrages der Eltern in Höhe des Existenzminimums eines Kindes durch den Kinderfreibetrag korrespondierend mit der laufenden Steuervergütung Kindergeld (§ 66 i.V.m. § 31 Satz 3 EStG) bewirkt wird.
Der Gesetzgeber ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) von Verfassungs wegen lediglich verpflichtet, das nach sozialhilferechtlichen Kriterien zu ermittelnde Existenzminimum des Steuerpflichtigen und seiner Familie im wirtschaftlichen Ergebnis von der Einkommensteuer freizustellen; dafür, wie er dies erreichen will ―ob ausschließlich durch Kindergeld, ausschließlich durch einen Kinderfreibetrag oder durch eine Kombination von beidem― steht ihm ein weiter Gestaltungsraum zu (vgl. Beschlüsse vom 29. Mai 1990 1 BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, BStBl II 1990, 653, 655 ff., unter C.II.1. und 2. der Gründe; vom 10. November 1998 2 BvL 42/93, BVerfGE 99, 246, BStBl II 1999, 174, 181, unter C.I.5.c cc der Gründe).
Es ist nicht ersichtlich, weshalb durch die danach verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des Kindergeldes als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG i.V.m. § 37 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung ―AO 1977―) und die Eröffnung des Finanzrechtswegs gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO 1977 und § 33 Abs. 1 Nr. 1 FGO der Kindergeldberechtigte seinem gesetzlichen Richter i.S. des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG entzogen werden könnte. Diese Vorschrift gibt dem Bürger keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass bestimmte staatliche Leistungen nur durch bestimmte Behörden verwaltet und damit einer bestimmten Gerichtsbarkeit unterstellt werden.
3. Die sog. Obhutsregelung des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG verstößt auch nicht gegen europäisches Gemeinschaftsrecht.
a) Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des FG beruht die Kindergeldberechtigung des Klägers ausschließlich auf deutschem Recht (§§ 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG) ohne Berücksichtigung von Vorschriften des europäischen Gemeinschaftsrechts. Die tatsächlichen Feststellungen des FG lassen nicht den Schluss zu, dass der Kläger, der die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt, im streitigen Zeitraum hinsichtlich des Kindergeldes vom persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst worden ist. Für das deutsche Kindergeld als einer Familienleistung i.S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h VO Nr. 1408/71 wäre dafür nach Anhang I Teil I Buchst. C dieser Verordnung u.a. erforderlich, dass der Kläger im Inland erwerbstätig gewesen ist (vgl. dazu Senatsurteil vom 13. August 2002 VIII R 54/00, BFH/NV 2002, 1581; Leitsätze in BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869). Eine derartige Feststellung hat das FG jedoch nicht getroffen.
Die Frage, ob der Kläger in Bezug auf das deutsche Kindergeld unter den persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 fällt, kann jedoch letztlich offen bleiben. Denn selbst wenn die Anwendbarkeit dieser Verordnung unterstellt wird, ließe sich daraus ein Anspruch des Klägers auf Auszahlung des Kindergeldes an ihn anstatt an die Beigeladene nicht ableiten. Art. 75 Abs. 1 Buchst. b VO Nr. 1408/71 begründet einen solchen Anspruch nicht, weil dafür Voraussetzung wäre, dass die anspruchsberechtigte Beigeladene das ihr gewährte Kindergeld tatsächlich nicht für den Unterhalt der Kinder verwendet hat. Einen derartigen Sachverhalt hat das FG nicht festgestellt.
Im Übrigen verdeutlicht Art. 75 Abs. 1 Buchst. c VO Nr. 1408/71, dass auch aus der Sicht des europäischen Gemeinschaftsrechts das Obhutsprinzip als sachdienlich angesehen wird. Denn nach dieser Vorschrift können zwei oder mehr Mitgliedstaaten vereinbaren, dass die geschuldeten Familienleistungen von den zuständigen Trägern unmittelbar an die natürliche oder juristische Person gezahlt wird, die tatsächlich für die Familienangehörigen sorgt.
b) § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG verstößt auch nicht gegen Art. 48 des EG-Vertrages, der die Freizügigkeit von Arbeitnehmern betrifft. Denn der Kläger wird durch diese Vorschrift in Deutschland wegen seiner österreichischen Staatsangehörigkeit selbst dann nicht benachteiligt, wenn er Arbeitnehmer wäre. Er wird vielmehr genauso behandelt wie jeder deutsche Kindergeldberechtigte, der seinen Wohnsitz im Inland hat und dessen Familienangehörige ebenfalls im Inland wohnen. Aus diesem Grund liegt auch kein Verstoß gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 6 des EG-Vertrages (jetzt: Art. 12 EG) vor.
4. Der Senat hält es nicht für erforderlich, in dieser Sache eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) nach Art. 234 Abs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft i.d.F. des Vertrages von Nizza vom 26. Februar 2001 (ABlEG 2001 Nr. C 80/1, konsolidierte Fassung ABlEG 2002 Nr. C 325/1) einzuholen, weil sich keine vernünftigen Zweifelsfragen hinsichtlich der Auslegung von Gemeinschaftsvorschriften in dem Sinne ergeben, dass mehrere Auslegungsmöglichkeiten denkbar wären (EuGH-Urteil vom 6. Oktober 1982 Rs. 283/81, EuGHE 1982, 3415 bis 3442; BFH-Urteil vom 23. Oktober 1985 VII R 107/81, BFHE 145, 266).
Fundstellen
Haufe-Index 1092935 |
BFH/NV 2004, 320 |