Leitsatz (amtlich)

Einer auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesenenen Berufstätigen, der der linke Unterarm seit Geburt fehlt (bei mit 50 v. H. anerkannter Minderung der Erwerbsfähigkeit) ist die Vergünstigung des § 3 Abs. 1 Nr. 2 Kraft-StG bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen zu gewähren.

 

Normenkette

KraftStG § 3 Abs. 1 Nr. 2

 

Tatbestand

Für die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), deren Erwerbsminderung wegen Fehlens des linken Unterarms 50 % beträgt, ist ein Personenkraftfahrzeug zugelassen. Ihren Antrag auf Erlaß der Kraftfahrzeugsteuer nach § 3 KraftStG 1961 vom 5. Februar 1965, in dem sie auf das Urteil des FG Düsseldorf vom 28. Juni 1963 VI 11/62 Verk. (EFG 1963, 574) Bezug nahm, lehnte das FA mit Hinweis auf den Erlaß des Finanzministers des Landes Nordrhein-Westfalen vom 16. April 1956 - S 6100 - 4148/V C 2 (abgedruckt in BB 1956, 523) mit der Begründung ab, daß die oben genannte Vorschrift eine erhebliche Gehbehinderung voraussetze, die im Falle der Klägerin nicht gegeben sei.

Die gegen den Bescheid eingelegte Beschwerde wies die Beklagte und Revisionsklägerin (Beklagte) - OFD - als unbegründet zurück. Die Behinderung der Klägerin bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel reiche für einen Erlaß der Kraftfahrzeugsteuer nicht aus, da die Klägerin in der Lage sei, alle privaten und beruflich bedingten Wege beschwerdefrei zurückzulegen, die ein Gesunder üblicherweise zu Fuß zurücklege.

Das FG hob die Beschwerdeentscheidung der OFD auf und verpflichtete das FA, der Klägerin die Kraftfahrzeugsteuer zu erlassen. Die Klägerin sei wegen ihrer Körperbehinderung auf die Benutzung eines PKW zum Erreichen ihrer Arbeitsstätte angewiesen, die Erschwerungen bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel seien ihr nicht zuzumuten, die wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin rechtfertigen einen Vollerlaß der Kraftfahrzeugsteuer.

Zur Begründung der Revision macht die OFD geltend, das FG gehe unzutreffend davon aus, daß jeder, der in gleicher Weise wie die Klägerin körperbehindert sei, beim Ein- und Aussteigen bei öffentlichen Verkehrsmitteln ständig gefährdet sei. Viele Einarmige benutzten täglich die Eisenbahn, ohne einen Schaden davonzutragen. Die Gebrauchsfähigkeit einer Hand reiche aus, um gefahrlos ein- und aussteigen zu können.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG 1961 kann Körperbehinderten, die infolge ihrer Körperbehinderung zur Fortbewegung auf die Benutzung eines Personenkraftfahrzeugs nicht nur vorübergehend angewiesen sind, die Steuer ganz oder teilweise erlassen werden; dabei sind Art und Schwere der Körperbehinderung sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Körperbehinderten zu berücksichtigen. Die Entscheidung der Frage, ob der Körperbehinderte infolge seiner Körperbehinderung zur Fortbewegung auf die Benutzung eines Personenkraftfahrzeugs nicht nur vorübergehend angewiesen ist, ist nicht in das Ermessen der Finanzverwaltungsbehörde gestellt; es handelt sich vielmehr um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Auslegung und Anwendung der vollen Nachprüfung durch die Steuergerichte unterliegt (Urteil des BFH vom 10. November 1965 II 9/63 U, BFHE 83, 602, 604, BStBl III 1965, 718). Das FG hat zutreffend erkannt, daß die Voraussetzungen für einen vollständigen Kraftfahrzeugsteuererlaß im vorliegenden Fall erfüllt sind. Aus dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG ergibt sich nicht, daß ein Körperbehinderter nur infolge mangelnder Gehfähigkeit auf die Benutzung eines Personenkraftfahrzeugs angewiesen sein muß. Im Einzelfall kann auch ein Körperbehinderter, dessen Gehfähigkeit nicht vermindert ist, in seiner Fortbewegung durch einen anderen Körperschaden behindert sein. Dabei sind u. a. die Art der Körperbehinderung, das Maß der Erwerbsminderung und die besonderen Umstände bei dem Weg vom Wohnort zur Arbeitsstätte bei Mitnahme von üblichen Gebrauchsgegenständen von Bedeutung. Es muß bei der Klägerin berücksichtigt werden, daß sie bei einem täglichen Weg von insgesamt 20 km öffentliche Verkehrsmittel benutzen müßte, wobei für sie wegen Fehlens des linken Unterarms erhebliche Schwierigkeiten beim Ein- und Aussteigen vor allem in der Zeit großen Andrangs im Berufsverkehr auftreten. Die Gefährdung erhöht sich, wenn die Klägerin eine Handtasche, einen Schirm, eine Einkaufstasche oder ähnliche notwendige Gegenstände mit sich führt. Berücksichtigt man dazu noch, daß die Körperbehinderung der Klägerin zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 % führte, war ihr der beantragte Steuererlaß zu gewähren. Ist ihr wegen dieser nicht unerheblichen Körperbehinderung die Benutzung eines öffentlichen Verkehrsmittels nur sehr erschwert möglich, dann ist sie zu ihrer Fortbewegung auf die Benutzung eines Personenkraftfahrzeugs angewiesen. Nach dem Zweck des § 3 Abs. 1 Nr. 2 KraftStG ist eine enge Auslegung der Worte "infolge ihrer Körperbehinderung" und "Des-auf-ein-Personenkraftfahrzeug-Angewiesenseins" nicht geboten. Demnach ist der Ansicht des FG zu folgen.

Die Klägerin war in Anbetracht der Tatsache, daß sie alle beruflich bedingten und viele private Wege nicht beschwerdefrei zurücklegen kann, und im Hinblick auf die Höhe ihres monatlichen Einkommens die ganze Kraftfahrzeugsteuer zu erlassen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70483

BStBl II 1973, 614

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