Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht, Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Wird eine Steuerrechtsnorm wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärt, so ergibt sich daraus kein selbständiger Anlaß zu einer Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO. Diese Vorschrift stellt keine besondere gesetzliche Regelung im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG dar.
Die Entscheidung der Aufsichtsbehörde über einen Antrag auf Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO ist eine Ermessensentscheidung. Es widerspricht nicht Recht und Billigkeit, wenn sich die Aufsichtsbehörde bei der Ausübung ihres Ermessens entscheidend von dem allgemeinen Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG leiten läßt, daß bei Nichtigkeitserklärung einer Rechtsnorm der Grundsatz der Rechtssicherheit Vorrang vor der Richtigkeit eines Verwaltungsakts hat.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 4; BVerfGG § 79 Abs. 2 S. 1
Tatbestand
Das FA rechnete bei der Festsetzung der Gewerbesteuermeßbeträge der Revisionsklägerin (Stpfl.), einer GmbH, für die Streitjahre 1955, 1956, 1958 und 1959 Bezüge im Sinne des § 8 Nr. 6 GewStG 1955, 1957 dem Gewinn hinzu. Die Steuermeßbescheide waren bereits unanfechtbar, als das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) durch Urteil 1 BvR 845/58 vom 24. Januar 1962 (BStBl I 1962, 500) die genannte Vorschrift wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig erklärte. Im Jahre 1962 führte das FA bei der Stpfl. eine Betriebsprüfung durch, die jedoch für die Streitjahre mangels Feststellung neuer Tatsachen zugunsten der Stpfl. zu keiner änderung der Steuermeßbescheide führte. Die Stpfl. beantragte darauf bei der Oberfinanzdirektion (OFD), die Hinzurechnungen als Fehler im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO aufzudecken. Die OFD lehnte den Antrag ab. Die Beschwerde hiergegen wies der Revisionsbeklagte zurück. Auch die Berufung blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verneinte eine Ermessensverletzung unter Hinweis auf das Urteil des BFH V 22/62 U vom 23. April 1964 (BFH 79, 249, BStBl III 1964, 321), wonach die Verfassungswidrigkeit einer Steuerrechtsnorm kein selbständiger Anlaß zu einer Fehlerberichtigung sei. Die Durchführung der Betriebsprüfung ändere daran nichts.
Dagegen wendet sich die Stpfl. mit der Rb., die nach § 184 Abs. 2 FGO als Revision zu behandeln ist, und rügt unrichtige Rechtsanwendung. Die Finanzbehörde habe mit der Ablehnung der Fehleraufdeckung gegen Recht und Billigkeit verstoßen. Hilfsweise wird geltend gemacht, daß sie den Fehler bereits mit der zahlenmäßigen Wiedergabe der zu Unrecht hinzugerechneten Beträge in der Beschwerdeentscheidung aufgedeckt habe, so daß er berichtigt werden müsse.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Erklärt das BVerfG eine Rechtsnorm wegen Verfassungswidrigkeit für nichtig, so bleiben nach § 79 Abs. 2 Satz 1 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht (BVerfGG), vorbehaltlich einer besonderen gesetzlichen Regelung, die nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen, die auf der für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt. Diese Anordnung dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden und ist verfassungsgemäß (vgl. u. a. Beschluß des BVerfG 2 BvR 435, 440/60 vom 7. Juli 1960 BVerfGE Bd. 11 S. 263 (265), und Urteil des BFH I 143/64 S vom 28. Oktober 1964, BFH 81, 542, BStBl III 1965, 196). Entscheidungen im Sinne der Vorschrift sind auch Bescheide in Steuersachen (Beschluß des BVerfG 2 BvR 51/63 vom 28. Februar 1963, HFR 1963, 159). Deshalb kann ein Steuerpflichtiger grundsätzlich nicht die Berichtigung eines bestandskräftigen Steuerbescheids mit der Begründung verlangen, der Bescheid beruhe auf einer verfassungswidrigen Rechtsnorm. Die Verfassungswidrigkeit kann nur geltend gemacht werden, soweit Bestimmungen des Steuerrechts dies als besondere gesetzliche Regelungen im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zulassen. Als eine solche besondere gesetzliche Regelung hat der Senat die Vorschriften des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO bezeichnet (Urteil des BFH I 143/64 S, a. a. O.). Zu § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO hat der BFH im Urteil V 22/62 U (a. a. O.) indessen entschieden, daß die Verfassungswidrigkeit einer Steuerrechtsnorm keinen selbständigen Anlaß zu einer Fehlerberichtigung gibt, weil sonst § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG für das Steuerrecht seine Bedeutung verlieren würde. Der erkennende Senat tritt dieser Auffassung aus folgenden Gründen bei.
Die Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO betrifft Steuern, bei denen die Verjährungsfrist mehr als ein Jahr beträgt und bei denen das FA nach Prüfung des Sachverhalts einen besonderen, im Gesetz selber vorgesehenen schriftlichen Bescheid erteilt. Die Vorschrift bestimmt, daß, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, eine änderung des Bescheides (Berichtigungsveranlagung) nur stattfindet, wenn bei der Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde vor dem Ablauf der Verjährungsfrist Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine niedrigere Veranlagung rechtfertigt. Die Vorschrift enthält keine besondere Regelung, die gebietet, den Grundsatz des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG außer acht zu lassen. Sie gewährt dem Steuerpflichtigen nicht schlechthin einen Anspruch auf Aufdeckung von Fehlern mit der Folge der Berichtigung unanfechtbarer Veranlagungen, die auf andere Weise (z. B. nach § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO) nicht zu seinen Gunsten geändert werden können. Vielmehr ist bei der Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO davon auszugehen, daß an der Bestandskraft der Veranlagungen grundsätzlich festzuhalten ist (vgl. Urteil des BFH VI 137/57 U vom 8. August 1958, BFH 67, 353, BStBl III 1958, 409). Es handelt sich bei der Fehleraufdeckung um eine Ermessensentscheidung der Aufsichtsbehörde (vgl. Urteile des BFH III 241/59 U vom 17. November 1961, BFH 74, 190, BStBl III 1962, 72; V 22/62 U, a. a. O.). Diese hat nach Recht und Billigkeit darüber zu befinden, ob ein Fehler aufzudecken ist.
Die Vorinstanz hat zutreffend im Streitfall einen Ermessensfehler der Finanzbehörden verneint. Aus § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist der allgemeine Rechtsgedanke zu entnehmen, daß bei Nichtigkeitserklärung einer Rechtsnorm die unanfechtbar gewordenen fehlerhaften Akte der öffentlichen Gewalt nicht rückwirkend aufgehoben und die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangenen nachteiligen Wirkungen nicht beseitigt werden sollen (Beschluß des BVerfG 1 BvR 178, 164/64 vom 11. Oktober 1966, BStBl III 1966, 665). Die Aufsichtsbehörde hat sich hiervon bei der Ausübung ihres Ermessens entscheidend leiten lassen. Sie handelte damit nicht gegen Recht und Billigkeit. Da der Vorrang, der im Falle der Nichtigkeitserklärung einer Rechtsnorm der Rechtssicherheit vor der Richtigkeit eines Verwaltungsakts zugesprochen worden ist, grundsätzlich auch für die Vielzahl der bestandskräftigen Veranlagungsbescheide gilt (Beschluß des BVerfG 2 BvR 51/63, a. a. O.), ist die Berücksichtigung dieses Vorrangs eine durchaus sachgerechte Erwägung von erheblichem Gewicht bei der Ermessensentscheidung nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO. Die Richtigkeit dieser Beurteilung zeigt sich auch in der Einfügung des § 36 a in das GewStG 1962. Diese Bestimmung enthält eine begrenzte Einschränkung des Vorrangs der Rechtssicherheit zugunsten der Steuerpflichtigen - nicht umgekehrt - gerade im Hinblick auf die Nichtigkeit des § 8 Nr. 5 und 6 GewStG, wie im Urteil des BFH I 143/64 S (a. a. O.) - vgl. auch Urteil des BFH I 204/63 U vom 19. Oktober 1965, BFH 83, 471, BStBl III 1965, 669 - dargelegt worden ist. Sie wäre überflüssig gewesen, wenn der Gesetzgeber bereits nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO eine Berichtigung der Steuerbescheide für allgemein zulässig gehalten hätte. Andererseits folgt aus dem Hinweis im Beschluß des BVerfG 2 BvR 246/62 u. a. vom 3. November 1965 (BStBl I 1966, 181), daß der steuererhöhenden Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO die steuerermäßigende Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO gegenübersteht, nicht, daß diese Vorschrift ohne Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit Anwendung findet. Der Hinweis des BVerfG bezieht sich nur auf die Stellung der Vorschriften des § 222 Abs. 1 AO zueinander, läßt aber die einzelnen Voraussetzungen für die Anwendung der Vorschriften unberührt.
Zu Unrecht beruft sich die Stpfl. auf die Anerkennung der Vorschriften in § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO als besondere gesetzliche Regelung im Sinne des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Bei der Anwendung dieser Vorschriften wird die Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm im Zuge der Wiederaufrollung des Steuerfalles beachtet, wenn die Bescheide aus anderen Gründen zu berichtigen sind. Die Verfassungswidrigkeit allein führt aber auch hiernach zu keiner änderung von Bescheiden; denn sie ist keine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO, sondern eine rechtliche Beurteilung (vgl. Urteile des BFH V 166/59 U vom 6. September 1962, BFH 75, 623, BStBl III 1962, 494, und I 143/64 S, a. a. O.). Die Stpfl. verlangt dagegen lediglich wegen der festgestellten Verfassungswidrigkeit des § 8 Nr. 6 GewStG die Fehleraufdeckung und änderung der Steuermeßbescheide. Von einer Verletzung des Gleichheitssatzes des Artikel 3 GG kann nicht gesprochen werden, weil die Vorschriften des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO andere Sachverhalte betreffen als die Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO.
Der Stpfl. kann auch nicht gefolgt werden, wenn sie der Betriebsprüfung rechtliche Bedeutung für die Anwendung des § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO beimißt. Eine Betriebsprüfung kann zur Berichtigung rechtskräftiger Bescheide, z. B. nach den §§ 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO, 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG führen. Dadurch kann sich eine Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO erübrigen. Ist das nicht der Fall, bleibt über die Anwendung dieser Bestimmung durch die Aufsichtsbehörde außerhalb der Betriebsprüfung zu entscheiden. In dem Fall kann aber die Stpfl. nicht schon allein deshalb die Fehleraufdeckung verlangen, weil eine Betriebsprüfung bei ihr stattfindet oder stattgefunden hat. Eine Betriebsprüfung hat die steuerlichen Verhältnisse nicht nur einseitig zuungunsten, sondern auch zugunsten des Steuerpflichtigen nachzuprüfen. Sie rechtfertigt aber für sich allein keine Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO. Es würde dies zu einer Benachteiligung derjenigen Steuerpflichtigen führen, die keiner Betriebsprüfung unterliegen, und den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung verletzen. Eine Betriebsprüfung hindert die Aufsichtsbehörde insbesondere nicht, den Grundgedanken des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG in ihre Ermessenserwägungen einzubeziehen.
Es ist der Stpfl. zuzugeben, daß die Gemeinde - rückschauend betrachtet - zuviel Gewerbesteuer erhoben hat. Daß diesem Umstand für die Frage der Fehleraufdeckung keine Bedeutung zukommt, ist eine zwangsläufige Folge des Vorrangs des Grundsatzes der Rechtssicherheit. Ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip des Artikel 20 Abs. 3 GG ist damit nicht verbunden, da der Grundsatz der Rechtssicherheit Recht im Sinne dieser Vorschrift ist.
Die Auffassung der Stpfl., die Fehleraufdeckung sei bereits geschehen, hat die Vorinstanz mit Recht nicht gebilligt. Ein Fehler ist als aufgedeckt anzusehen, wenn die Aufsichtsbehörde zum Zweck der Berichtigung einer Veranlagung einen Fehler feststellt, d. h. die Fehlerberichtigung anordnet oder ihr zustimmt (Urteil des BFH I 227/60 vom 2. Oktober 1963, HFR 1964, 92). Die zahlenmäßige Angabe der Hinzurechnungen im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung der Beschwerdeentscheidung ist noch keine Feststellung eines Fehlers im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 4 AO. Das gilt um so mehr, als die Beschwerdeentscheidung ja gerade die Fehleraufdeckung abgelehnt hat.
Die Vorentscheidung enthält danach keine Verletzung des geltenden Rechts.
Fundstellen
Haufe-Index 412637 |
BStBl III 1967, 577 |
BFHE 1967, 174 |
BFHE 89, 174 |