Entscheidungsstichwort (Thema)
Fünf-Monate-Frist für Übergabe des vollständig abgefaßten Urteils an die Geschäftsstelle
Leitsatz (NV)
Ein bei seiner Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil i. S. von §105 Abs. 4 Satz 3 FGO ist als nicht mit Gründen versehen anzusehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach seiner Verkündung niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben werden (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 GemS-OGB 1/92, HFR 1993, 674; NJW 1993, 2603). Dies gilt entsprechend auch für den Fall der Zustellung des Urteils anstelle der Verkündung i. S. von §104 Abs. 2 FGO. Die Frist von fünf Monaten beginnt in diesem Fall mit dem Ablauf des Tages, an dem das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung (§105 Abs. 4 Satz 2 FGO) der Geschäftsstelle übergeben wurde, spätestens mit dem Ablauf desjenigen Tages, an dem das Urteil der Geschäftsstelle nach §104 Abs. 2 FGO zu übergeben gewesen wäre (BFH-Urteil vom 10. 11. 1993 II R 39/91, BFHE 172, 404, BStBl II 1994, 187).
Normenkette
FGO § 104 Abs. 1-2, § 105 Abs. 4 S. 3, § 116 Nr. 5, § 119 Nr. 6
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) erhob gegen den Umsatzsteuerbescheid 1990 des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt -- FA --) Klage vor dem Finanzgericht (FG). In dieser Sache fand am 5. September 1995 vor dem FG eine mündliche Verhandlung statt. Das vollständig abgefaßte Urteil, mit dem der Klage zum Teil stattgegeben wurde, ist den Beteiligten am 14. Februar 1997 zugestellt worden.
Mit der Revision rügt das FA, das erstinstanzliche Urteil sei i. S. von §116 Abs. 1 Nr. 5 und §119 Nr. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht mit Gründen versehen.
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist gemäß §116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ohne Zulassung zulässig, da das FA als wesentlichen Mangel des Verfahrens schlüssig rügt, die Entscheidung des FG sei nicht mit Gründen versehen, weil das vollständig abgefaßte Urteil nicht binnen fünf Monaten, d. h. nicht alsbald i. S. des §105 Abs. 4 Satz 3 FGO, der Geschäftsstelle übergeben worden sei. Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO); denn der geltend gemachte absolute Revisionsgrund des Fehlens von rechtlich beachtlichen Gründen (§119 Nr. 6 FGO) liegt vor. Eine Sachentscheidung, wie sie das FA mit seinem dem Wortlaut nach weitergehenden Revisionsantrag erstrebt, kann nicht getroffen werden.
1. Gemäß §104 Abs. 1 FGO wird das Urteil, wenn eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat, in der Regel in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, verkündet, in besonderen Fällen in einem sofort anzuberaumenden Termin, der nicht über zwei Wochen hinaus angesetzt werden soll. Ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefaßt war, ist gemäß §105 Abs. 4 FGO vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tage der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle zu übergeben. Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil mit Rubrum und Tenor der Geschäftsstelle zu übergeben. Das vollständig abgefaßte Urteil ist alsbald nachträglich niederzulegen und der Geschäftsstelle zu übergeben.
Wird das Urteil nicht verkündet, sondern soll es anstelle der Verkündung zugestellt werden, muß es binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle übergeben werden (§104 Abs. 2 FGO). Entsprechend §105 Abs. 4 Satz 2 FGO genügt die Niederlegung der von den Berufsrichtern unterschriebenen Urteilsformel (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 10. November 1987 VII R 47/87, BFHE 151, 328, BStBl II 1988, 283, 284, m. w. N.). Für diesen Fall sind jedoch entsprechend §105 Abs. 4 Satz 3 FGO Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung alsbald niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben.
2. Der BFH hat im Anschluß an den Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) vom 27. April 1993 GmS-OGB 1/92 (BVerwGE 92, 367, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1993, 2603, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1993, 674) entschieden, daß im Falle der Verkündung ein nach Ablauf von fünf Monaten nach Verkündung der Geschäftsstelle übergebenes (vollständig abgefaßtes) Urteil nicht alsbald nachträglich niedergelegt, unterschrieben sowie übergeben worden und demnach nicht mit Gründen versehen ist (Urteil vom 18. April 1996 V R 25/95, BFHE 180, 512, BStBl II 1996, 578). Desgleichen ist für den Fall der Zustellung des Urteils anstelle der Verkündung entschieden worden, daß innerhalb der Frist von fünf Monaten das Urteil der Geschäftsstelle übergeben werden muß. Die Frist von fünf Monaten beginnt in diesem Fall mit dem Ablauf des Tages, an dem das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung (vgl. §105 Abs. 4 Satz 2 FGO) tatsächlich der Geschäftsstelle übergeben wurde, spätestens mit dem Ablauf desjenigen Tages, an dem das Urteil der Geschäftsstelle nach §104 Abs. 2 FGO zu übergeben gewesen wäre, d. h. nach Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des §104 Abs. 2 FGO (BFH-Urteil vom 10. November 1993 II R 39/91, BFHE 172, 404, BStBl II 1994, 187).
3. Die mündliche Verhandlung fand am 5. September 1995 statt. Die Streitakte des FG ist anschließend in Verlust geraten. In der wiederhergestellten Ersatzakte befindet sich kein Protokoll der mündlichen Verhandlung oder eines eventuellen Verkündungstermins. Es kann demnach nicht anhand der Akten festgestellt werden, ob das Urteil verkündet worden ist oder nicht. Hierzu bedarf es jedoch keiner weiteren Ermittlungen durch den erkennenden Senat, weil sich sowohl für den Fall der Verkündung als auch für den Fall der Zustellung anstelle der Verkündung ergibt, daß das Urteil i. S. des §119 Nr. 6 FGO als nicht mit Gründen versehen zu beurteilen ist.
a) Ist das Urteil verkündet worden, hätte dies spätestens in einem Termin, der nicht über zwei Wochen hinaus hätte angesetzt werden sollen, geschehen müssen. Es ist von keinem Beteiligten vorgetragen worden und es besteht auch sonstwie kein Anhaltspunkt dafür, daß der Verkündungstermin unter Verstoß gegen §104 Abs. 1 Satz 1 FGO nach Ablauf dieser Zwei-Wochen- Frist stattgefunden haben könnte. Zur Einhaltung der Fünf-Monate-Frist wäre das Urteil demnach spätestens zwei Wochen und fünf Monate nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übergeben gewesen. Dies ist nicht geschehen.
Auf Seite 1 des Urteils (Bl. 45 der Akten des FG) befinden sich oben der Datumsstempel vom 21. Januar 1997 und eine Unterschrift. An dieser Stelle beurkundet der Geschäftsstellenbeamte üblicherweise den Eingang des Urteils. Da das genannte Datum mit dem Eingangsvermerk (22. Januar 1997) der Kanzlei (Bl. 52 der FG-Akten) sowie dem Zustellungsdatum vom 14. Februar 1997 korreliert, hat der Senat keinen Zweifel daran, daß das vollständig abgefaßte Urteil am 21. Januar 1997 und somit mehr als 16 Monate nadch Verkündung bei der Geschäftsstelle eingegangen ist.
b) Ist das Urteil anstelle der Verkündung zugestellt worden, hätte die Fünf-Monate- Frist spätestens mit Ablauf der Zwei-Wochen-Frist des §104 Abs. 2 FGO begonnen. Ebenso wie im Falle der Verkündung ist im Falle der Zustellung anstelle der Verkündung infolge des Eingangs des Urteils bei der Geschäftsstelle am 21. Januar 1997 die Fünf-Monate-Frist überschritten.
Fundstellen
BFH/NV 1998, 589 |
JurBüro 1999, 334 |