Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Unterschrift unter die Revisionsbegründung; zur Billigkeits-Erstattung von Währungsausgleichsbeträgen (WAB) nach der Verordnung (EWG) Nr. 1608/74
Leitsatz (NV)
1. Eine Revisionsbegründung ist auch dann ordnungsmäßig, wenn zwar nicht das Schriftstück selbst, wohl aber das Anschreiben von einem dazu Berechtigten handschriftlich unterzeichnet worden ist.
2. Die Ermächtigung der VO Nr. 1608/74, eine Billigkeits-Erstattung von WAB vorzusehen, kann auch durch eine Bekanntmachung des BMF ausgenutzt werden.
3. Das HZA hat bei seiner Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme nach der VO Nr. 1608/74 keinen Ermessenspielraum.
4. Die Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe unterliegt im Regelfall uneingeschränkter richterlicher Nachprüfung.
5. Das Finanzgericht kann das HZA zur Erstattung von WAB verpflichten, auch wenn das Unterrichtungsverfahren nach Art. 4 VO Nr. 1608/74 nicht in Gang gesetzt worden ist.
6. Eine zusätzliche Belastung nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 kann auch dann vorliegen, wenn dem Antragsteller Vorteile zugutegekommen sind, die nicht unmittelbar die bei der Einfuhr zu zahlenden WAB betreffen.
7. Falls der Antragsteller die Belastung durch die höheren WAB auf seine Abnehmer abwälzen konnte, sind die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 nicht erfüllt. Die Abwälzung kann durch eine Erhöhung der Weiterverkaufspreise oder eine Nichtweitergabe gesunkener Kosten geschehen sein.
8. Die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 können auch dann vorliegen, wenn der Antragsteller die Möglichkeit hatte, die höheren WAB durch rechtzeitige Auslagerung aus seinem offenen Zollager zu vermeiden. Diese Voraussetzungen sind dagegen nicht erfüllt, wenn bei längerfristigen Verträgen der Antragsteller Anlaß gehabt hätte, sich gegen das Risiko höherer WAB abzusichern.
Normenkette
FGO §§ 102, 120 Abs. 1; EWGV 1608/74 Art. 1-2, 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) entnahm in der Zeit vom 19. Juli bis 15. August 1973 aus ihrem offenen Zollager Weizen in den freien Verkehr und entrichtete die ab 3. Juli 1973 wegen der DM-Aufwertung vom 29. Juni 1973 erhöhten Währungsausgleichsbeträge (WAB). Mit mehreren Schreiben vom 12. Juli 1974 beantragte die Klägerin mit Bezug auf bestimmte Zoll- bzw. Zahlungsanmeldungen die Erstattung des Teils der WAB, der auf die DM-Aufwertung zurückzuführen ist, aus Billigkeitsgründen nach der Verordnung (EWG) Nr. 1608/74 (VO Nr. 1608/74) der Kommission vom 26. Juni 1974 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 170/38, Bundeszollblatt - BZBl - 1974, 786). Der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt - HZA -) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 6. Juli 1977 mit dem Hinweis ab, die Klägerin hätte die zusätzliche Belastung bei Aufwendung der erforderlichen und üblichen Umsicht vermeiden können.
Die nach erfolgloser Beschwerde erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete unter Aufhebung des Bescheids vom 6. Juli 1977 und der Beschwerdeentscheidung vom 27. Januar 1978 das HZA, den Erstattungsanträgen stattzugeben (Urteil vom 8. September 1982 IV 67/78 Z, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1983, 359).
Mit seiner Revision macht das HZA im wesentlichen folgendes geltend:
Die VO Nr. 1608/74 sei eine Ermessensvorschrift, die die Mitgliedstaaten lediglich ermächtige und nicht verpflichte. Der Rahmen des Art. 2 VO Nr. 1608/74 dürfe von den Mitgliedstaaten keinesfalls überschritten, aber unterschritten werden. Die in Art. 5 VO Nr. 1608/74 genannten Kriterien seien für die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) in der Dienstanweisung vom Juli 1973 festgelegt worden (Vorschriftensammlung der Bundesfinanzverwaltung - VSF - M 0965 alt). Das FG habe die VO Nr. 1608/74 dadurch verletzt, daß es den durch diese Verordnung und die genannte Dienstanweisung gezogenen Rahmen überschritten habe, indem es die Senkung der Abschöpfungssätze, die erhöhten Erstattungen von WAB bei der Ausfuhr der Verarbeitungserzeugnisse und die durch die höhere Bewertung der DM entstandenen Kursgewinne als nicht im adäquaten Zusammenhang mit der erhöhten Belastung durch die WAB stehend außer Betracht gelassen habe. Diese die Belastung mindernden Umstände seien nach Art. 2 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 und nach der Dienstanweisung zu berücksichtigen.
Die Klägerin habe den ihr nach Art. 2 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 obliegenden Nachweis nicht erbracht. Das FG gehe hierbei von der falschen Voraussetzung aus, daß der Weichweizen, auf den nur ca. 7 750 DM des strittigen Betrages entfielen, in DM kontrahiert worden sei. Der Weichweizen sei aber wie der Hartweizen zu einem Preis in US-Dollar je 1 000 kg gekauft worden. Der tatsächliche Nachweis der zusätzlichen Belastung hätte von der Klägerin auch durch Vorlage ihrer Kalkulationen geführt werden müssen. Diese Kalkulationen würden zeigen, daß das wirtschaftliche Ergebnis bei der Abwicklung der in Rede stehenden Einfuhrverträge gegenüber dem bei Abschluß der Verträge kalkulierten Ergebnis für die Klägerin trotz Erhebung des Differenzbetrages tatsächlich günstiger ausgefallen sei.
Das FG irre, wenn es unterstelle, daß die Klägerin die zusätzliche Belastung bei aller erforderlichen und üblichen Umsicht nicht habe vermeiden können. Die Klägerin habe die langfristigen Verträge vor dem 4. Juni 1973 abgeschlossen. Nach dem Urteil des FG Hamburg vom 7. April 1981 IV 96/79 H (vgl. das Urteil des FG in einer Parallelsache vom 7. April 1981 IV 37/79 H, EFG 1981, 578) scheide somit eine Erstattung grundsätzlich aus, weil die Klägerin im Zeitpunkt der Vertragsabschlüsse mit ständig schwankenden WAB habe rechnen und danach ihre Kalkulationen aufbauen müssen. Die Klägerin hätte einen der in Abschn. C Abs. 7 der Dienstanweisung vom Juli 1973 geforderten Nachweise erbringen müssen.
Nach Art. 4 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 könne ein Mitgliedstaat von der Ermächtigung nur dann Gebrauch machen, wenn die Kommission innerhalb eines Zeitraums von sechs Wochen der geplanten Maßnahme nicht widersprochen habe. Gegen diese Vorschrift habe das FG verstoßen. Es hätte seine, des HZA, neuerliche Entscheidung unter Beachtung der rechtlichen Beurteilung des Gerichts veranlassen müssen.
Das HZA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie macht u. a. geltend:
Die Bundesrepublik sei nicht befugt gewesen, strengere Kriterien anzulegen als durch die VO Nr. 1608/74 zugelassen worden sei. Ein Ermessen im Einzelfall habe den Zollstellen nicht zugestanden. Die Dienstanweisung könne also nur insoweit herangezogen werden, als sie mit der VO Nr. 1608/74 vereinbar sei. Die VO Nr. 1608/74 sehe die Berücksichtigung angeblicher Umrechnungsvorteile nicht vor. Diese Verordnung beruhe auf der Annahme, daß die tatsächlichen Umrechnungskurse für die Festlegung der deutschen WAB keine Rolle gespielt und deshalb bei der Entlastung von den erhöhten WAB nicht berücksichtigt werden könnten.
Entscheidungsgründe
I. Die Revision des HZA ist trotz des Umstandes zulässig, daß auf der Revisionsschrift die Unterschrift des Vorstehers des HZA nur durch einen Vermerk, handschriftlich unterschrieben von einem Zollhauptwachtmeister, beglaubigt worden ist.
Nach § 120 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Revision ,,schriftlich" einzulegen. Das erfordert, daß die Revision grundsätzlich von einem dazu Berechtigten handschriftlich unterschrieben ist. In Anwendung des Grundsatzes, daß Verfahrensvorschriften, wenn irgend vertretbar, im Zweifel so auszulegen sind, daß sie eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglichen, hat jedoch der Große Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) mit Beschluß vom 5. November 1973 GrS 2/72 (BFHE 111, 278, 285, BStBl II 1974, 242) zum parallelen Problem der Unterschrift unter der Revisionsbegründung entschieden, daß eine Revision auch dann i. S. des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO schriftlich begründet ist, wenn zwar nicht die Revisionsbegründungsschrift, wohl aber das Anschreiben zu diesem Schriftstück von einem dazu Berechtigten handschriftlich unterzeichnet ist. Gleiches muß auch für die Anforderungen gelten, die an die Unterschrift unter eine Revisionsschrift zu stellen sind. Die genannten Voraussetzungen sind hier erfüllt. Das Anschreiben des HZA, mit dem die Revisionsschrift übersandt worden ist, trägt die handschriftliche Unterschrift des Vorstehers des HZA.II. Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Der Senat folgt allerdings in den folgenden Punkten der Rechtsauffassung der Vorinstanz.
a) Als Rechtsgrundlage für die begehrte Erstattung kommt, wie das FG zu Recht entschieden hat, allein die Billigkeitsregelung der VO Nr. 1608/74 in Betracht. Diese ist anzuwenden, da die Bundesrepublik durch die Bekanntmachung des Bundesministers der Finanzen (BMF) über die Anwendung dieser Verordnung vom 3. Juli 1974 (Bundesanzeiger - BAnz - Nr. 122 vom 6. Juli 1974, BZBl 1974, 788) von der durch Art. 1 VO Nr. 1608/74 gegebenen Ermächtigung zur Anwendung dieser Verordnung Gebrauch gemacht und dabei ausdrücklich entschieden hat (vgl. Nr. 3 der Bekanntmachung), daß die - hier allein maßgebende - Änderung des Leitkurses der DM vom 29. Juni 1973 eine Währungsmaßnahme i. S. des Art. 1 VO Nr. 1608/74 ist. Daran ändert der Umstand nichts, daß sich die Bundesrepublik für die Ausnutzung der Ermächtigung der Gemeinschaft keines Gesetzes und keiner Rechtsverordnung bediente (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 12. August 1986 VII R 45/84, Nr. 1 der Gründe, BFHE 147, 290).
b) Das FG ist auch ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß die Entscheidung des HZA im angefochtenen Bescheid in vollem Umfang gerichtlich nachprüfbar ist.
aa) Die VO Nr. 1608/74 ermächtigte das HZA nicht, i. S. des § 102 FGO nach seinem Ermessen zu entscheiden (vgl. Urteile des FG Düsseldorf vom 6. Februar 1985 IV 175/81 SZ, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1985, 399, und des FG Hamburg vom 7. April 1981 IV 99/79 H, EFG 1981, 576). Das Wesen einer Ermessensentscheidung besteht darin, daß der Verwaltung innerhalb abgesteckter Grenzen ein Spielraum eingeräumt ist, innerhalb dessen sie unter einer Mehrzahl zulässiger Verhaltensweisen wählen kann (Urteile des BFH vom 28. Oktober 1981 I R 156/78, BFHE 134, 335, BStBl II 1982, 88, mit Hinweisen, und vom 6. Juli 1983 I R 252/82, BFHE 139, 113, BStBl II 1983, 699). Zwar enthält Art. 1 VO Nr. 1608/74 nur eine Ermächtigung für die Mitgliedstaaten, die Billigkeitsregelung jeweils aus Anlaß einer bestimmten Währungsmaßnahme für anwendbar zu erklären. Insoweit steht den zuständigen Organen eines jeden Mitgliedstaates eine Dispositionsfreiheit zu. Aus dem Wortlaut der VO Nr. 1608/74 ergibt sich aber deutlich, daß - falls ein Mitgliedstaat die Anwendung der Regelung vorgesehen hat - den zuständigen Behörden bei ihrer Entscheidung kein Spielraum mehr offensteht. Die Gewährung des Verzichts auf die WAB hängt nämlich von der Erfüllung einer Reihe rechtlicher Voraussetzungen ab, die insbesondere in Art. 2 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 aufgeführt sind. Diese enthalten unbestimmte Rechtsbegriffe (z. B. ,,erforderliche und übliche Umsicht"), aber keinen Hinweis auf die Einräumung eines Ermessenspielraums. Falls also die Tatbestandsmerkmale, an deren Vorliegen die VO Nr. 1608/74 die Gewährung des Billigkeitserweises knüpft, erfüllt sind, können die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nur noch positiv über den Antrag entscheiden, besitzen also keinen Ermessenspielraum.
Etwas anderes ist auch nicht aus den Worten in Art. 2 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 zu entnehmen: ,,Von der . . . Ermächtigung kann nur dann Gebrauch gemacht werden, wenn . . .". Das Wort ,,kann" weist hier - anders als in § 131 der Reichsabgabenordnung (AO); vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, 106, BStBl II 1972, 603 - auch im Zusammenhang mit den zum Teil unbestimmten Rechtsbegriffen dieser Regelung nicht auf die Einräumung eines Ermessenspielraums hin. Der Zusammenhang macht deutlich, daß das ,,kann nur" als ein ,,darf nur" zu verstehen ist. Die Regelung des Art. 2 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 ist ähnlich zu werten wie z. B. § 17 Abs. 2 Satz 2 des Steuerberatungsgesetzes (StBerG) a. F. (= § 50 Abs. 3 Satz 2 StBerG n. F.); zu dieser Vorschrift hat der Senat entschieden, daß die Worte ,,die Genehmigung darf nur versagt werden . . ." der Verwaltung keinen Ermessensspielraum einräumen (Urteil vom 3. August 1976 VII R 103/75, BFHE 120, 97, 100, BStBl II 1976, 800).
Diese Auffassung bestätigt das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 10. Oktober 1985 Rs. 183/84 (Zeitschrift für Zölle + Verbrauchsteuern - ZfZ - 1985, 362). Der EuGH hat in dieser Entscheidung die ausdrückliche Frage des vorlegenden Hessischen FG, ob die VO Nr. 1608/74 zu einer Ermessensentscheidung ermächtige, mittelbar verneint (zur Frage des Bestehens eines Beurteilungsspielraums vgl. die Ausführungen unter bb).
bb) Die Regelung des Art. 2 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 enthält, wie ausgeführt, eine Reihe von unbestimmten Rechtsbegriffen. Das bedeutet jedoch keine Einschränkung der gerichtlichen Nachprüfbarkeit. Nicht nur die Bestimmung des Sinngehalts eines unbestimmten Rechtsbegriffs, sondern auch die Feststellung der Tatsachengrundlage und die Anwendung des Begriffs auf die im Einzelfall festgestellten Tatsachen unterliegen uneingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung (Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 28. Juni 1983 2 BvR 539, 612/80, BVerfG 64, 261, 279; BFHE 120, 97, 101, BStBl II 1976, 800; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - vom 9. Juni 1978 4 C 54.75, BVerwGE 56, 71, 75, und vom 21. Mai 1974 I C 37.72, BVerwGE 45, 162, 164; Beschluß des Bundesarbeitsgerichts - BAG - vom 5. Dezember 1979 4 AZN 41/79, Monatsschrift für Deutsches Recht - MDR - 1980, 437; vgl. z. B. auch Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., S. 111). Es mag zwar unbestimmte Rechtsbegriffe geben, die es im Einzelfall rechtfertigen, der Behörde bei ihrer Anwendung einen eigenen, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zugänglichen Beurteilungsspielraum einzuräumen (vgl. BVerfGE 64, 261, 279; Urteil des BFH vom 21. Februar 1969 VI R 113/66, BFHE 95, 104, 108, BStBl II 1969, 316; die Rechtsprechung des Senats zur gerichtlichen Überprüfbarkeit von Prüfungsentscheidungen, z. B. Urteil vom 3. Juli 1980 VII R 84/79, BFHE 131, 173, 175, BStBl II 1980, 610, Spanner in Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 5 AO 1977 Anm. 39). Es kann sich dabei aber allenfalls um solche unbestimmte Rechtsbegriffe handeln, die z. B. eine prognostische Entscheidung ermöglichen (vgl. Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 5 AO 1977 Anm. 7) oder einer unmittelbaren stringenten Auslegung völlig unzugänglich sind (vgl. z. B. BVerwG-Urteil vom 29. September 1972 VII C 77.70, BVerwGE 40, 353, 356; auch Maurer, a. a. O., insbesondere S. 103 bis 105). Zu solchen unbestimmten Rechtsbegriffen zählen die in der VO Nr. 1608/74 verwendeten nicht (vgl. auch Ule in Nr.4 der Besprechung des EuGH-Urteils vom 10. Oktober 1985 Rs. 183/84, Deutsches Verwaltungsblatt - DVBl - 1986, 92, 93).
Die Entscheidung des EuGH, die Behörden verfügten über einen ,,gewissen Beurteilungsspielraum", steht nicht in Widerspruch zur Auffassung des Senats. Es spricht nichts dafür, daß der EuGH diesen Begriff in dem Sinne verstanden habe, in dem ihn Rechtsprechung und Schrifttum in der Bundesrepublik bei der Behandlung der Frage gebrauchen, ob den Behörden bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen ein eigener, gerichtlicher Kontrolle nicht mehr zugänglicher Beurteilungsspielraum eingeräumt worden ist. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß der EuGH den genannten Ausdruck im selben Sinne gebraucht hat, wie z. B. der Senat im Urteil in BFHE 120, 97, 101, BStBl II 1976, 800, 801 und das FG Hamburg in EFG 1981, 576, 577. Damit, daß unbestimmte Rechtsbegriffe dem Rechtsanwender einen Beurteilungsspielraum (im weiteren Sinne) - bezogen insbesondere auf den Sachverhalt - einräumen, ist nichts darüber ausgesagt, ob die Gerichte diese Beurteilung der Behörden nachprüfen (nachvollziehen) dürfen. Der EuGH hat in dem zitierten Urteil darüber offensichtlich nicht entschieden. Dafür spricht auch, daß der EuGH ausdrücklich vom Beurteilungsspielraum der ,,zuständigen nationalen Stellen" (also auch der Gerichte) gesprochen hat. Zu einer anderen Entscheidung wäre der EuGH auch nicht befugt gewesen; denn die Frage, in welchem Umfang die nationalen Gerichte Verwaltungsentscheidungen zu überprüfen berechtigt sind, ist keine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Der Senat folgt nicht der Auffassung von Ule (a. a. O., DVBl 1986, 92, 93), daß der EuGH sich in diesem Urteil in Widerspruch zur herrschenden Lehre und Rechtsprechung in der Bundesrepublik in bezug auf den Beurteilungsspielraum bei unbestimmten Rechtsbegriffen gesetzt habe.
c) Entgegen der Auffassung der Verwaltung hat das FG auch nicht Art. 4 VO Nr. 1608/74 verletzt. Danach ist ein Mitgliedstaat, der für einen Vertrag mit einer Laufzeit von mehr als drei Monaten (wie hier) eine Billigkeitsmaßnahme beabsichtigt, zuvor die Kommission zu unterrichten verpflichtet; der Mitgliedstaat kann die Maßnahme erst treffen, wenn die Kommission innerhalb von sechs Wochen nicht widersprochen hat. Diese Regelung hindert aber die Gerichte nicht, auch in Fällen, in denen die Voraussetzungen des Art. 4 VO Nr. 1608/74 vorliegen, die Behörde aber einen Billigkeitserweis abgelehnt hat, diese Entscheidung aufzuheben und die Behörde zur Erstattung der WAB zu verpflichten, auch wenn das Unterrichtungsverfahren nach Art. 4 VO Nr. 1608/74 nicht in Gang gesetzt worden ist.
Die Regelung des Art. 4 hat den Sinn, die Verwirklichung des Zieles der VO Nr. 1608/74 und die Gleichmäßigkeit ihrer Anwendung sicherzustellen (vgl. Urteil des EuGH vom 2. März 1978 Rs. 12, 18 und 21/77, EuGE 1978, 553, 568, und insbesondere die Schlußanträge des Generalanwalts in diesen Rechtssachen, EuGHE 1978, 570, 573, worin es heißt, mit den Art. 4 und 5 VO Nr. 1608/74 beabsichtige die Kommission, die Aufsicht darüber zu behalten, welchen Gebrauch ,,die innerstaatlichen Behörden" von den Möglichkeiten der Verordnung machen). Dazu sieht die VO Nr. 1608/74 bei Vorliegen langfristiger Verträge, wo die Entscheidung über einen Billigkeitserweis besonders schwierig ist, ein bestimmtes Verwaltungsverfahren vor, das der Kommission ein Widerspruchsrecht gegen beabsichtigte Erstattungen einräumt. Diese Regelung betrifft aber allein die Beziehungen der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten zur Kommission, also die Verwaltungsseite (so wohl auch Urteil des FG Hamburg in EFG 1981, 576, 577). Dagegen ist es nicht Sinn des Art. 4 VO Nr. 1608/74, bestimmte Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten an die vorherige Genehmigung der Kommission zu binden (so daß es keines Eingehens auf die Frage bedarf, ob eine solche Bindung rechtlich zulässig und wirksam wäre). Denn die gleichmäßige Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Gerichte stellt bereits die Regelung des Art. 177 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) sicher.
d) Zu Unrecht beruft sich das HZA auf das Urteil des FG Hamburg in EFG 1981, 578. Der EuGH hat inzwischen klargestellt (Urteil in ZfZ 1985, 362), daß die Auffassung des FG Hamburg nicht in Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht steht.
e) Der Verzicht auf den der Erhöhung entsprechenden Teil der WAB setzt voraus, daß die Merkmale des Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und b VO Nr. 1608/74 erfüllt sind. Das FG hat - nach seinen Feststellungen in Übereinstimmung mit den Beteiligten - entschieden, daß die Voraussetzungen des Buchst. a gegeben sind, da die Klägerin den ihrem offenen Zollager entnommenen Weizen in DM kontrahiert und nicht etwa aus Anlaß der DM-Aufwertung die kontrahierten DM-Preise gekürzt habe. Das ist rechtlich nicht zu beanstanden. Mit seiner Rüge, im Gegensatz zur Auffassung des FG sei ein Teil der eingeführten Waren in US-Dollar gekauft worden, kann das HZA im Revisionsverfahren nicht gehört werden, da in bezug auf die entgegengesetzte Feststellung des FG das HZA keine Revisionsgründe vorgebracht hat (vgl. § 118 Abs. 2 FGO).
f) Zu Recht hat das FG auch entschieden, daß die Vorteile, die der Klägerin bei der Auslagerung der Waren aufgrund der gesunkenen Abschöpfungssätze, bei der Abwicklung der Verträge infolge der gesunkenen Kurse des US-Dollars und bei der Ausfuhr eines Teils der Waren durch die Gewährung der aufgrund der DM-Aufwertung erhöhten WAB zugute gekommen sind, nichts daran ändern, daß die grundsätzliche Pflicht der Klägerin, die erhöhten WAB für die betreffenden Waren zu zahlen, eine Belastung i. S. des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO 1608/74 darstellen kann. Weder aus dem Wortlaut dieser Bestimmung noch aus ihrem Sinn und Zweck ergibt sich, daß eine aufgrund der Erhöhung der WAB bestehende zusätzliche Belastung als nicht existent zu betrachten ist, wenn dem Antragsteller Vorteile zugute gekommen sind, die nicht unmittelbar die bei der Einfuhr zu zahlenden WAB betreffen (vgl. auch Urteil des Senats vom 5. Juni 1985 VII R 159-160/82, BFHE 144, 294).
Die VO Nr. 1608/74 sieht einen Billigkeitserweis im wesentlichen aus einem sachlichen Billigkeitsgrund vor. Dieser liegt darin, daß in Fällen, in denen die - hier gegebenen - Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 2 Buchst. a VO Nr. 1608/74 erfüllt sind, keine sachliche Notwendigkeit für die Erhebung des der Erhöhung entsprechenden Teils der WAB vorliegt. Dennoch ist allerdings nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 ein Billigkeitserweis ausgeschlossen, wenn die Erhebung der erhöhten WAB zu keiner zusätzlichen Belastung des Antragstellers geführt hat (oder bei sorgfältigem Verhalten des Antragstellers dazu nicht hätte führen können), der Antragsteller demnach als von der Erhöhung der WAB wirtschaftlich nicht betroffen anzusehen ist. Diese Regelung macht deutlich, daß der Billigkeitserweis nicht davon abhängig gemacht werden kann, daß dem Antragsteller im Zusammenhang mit den fraglichen Einfuhrgeschäften keine anderen (d. h. nicht mit der Erhöhung der WAB zusammenhängenden) Vorteile zugute gekommen sind. Solche Vorteile ändern nichts daran, daß jedenfalls die Belastung durch die Erhebung der erhöhten WAB bestehen bleibt. Eine notwendige Verrechnung mit Vorteilen sieht die VO Nr. 1608/74 nicht vor. Eine andere Auffassung würde auch zu der schwer erträglichen Folge führen, daß mehrere Antragsteller, die hinsichtlich der Erhebung der erhöhten WAB die völlig gleichen Voraussetzungen erfüllen, bei der Anwendung der Billigkeitsregelung der VO Nr. 1608/74 nach der Art der von ihnen betriebenen Geschäfte unterschiedlich behandelt würden.
2. Die Vorentscheidung ist aber rechtsfehlerhaft, weil sich das FG nicht mit der Frage befaßt hat, ob die Klägerin deswegen durch die erhöhten WAB im Ergebnis nicht belastet ist, weil sie die Belastung auf ihre Abnehmer abgewälzt hat. Falls ihr diese Abwälzung gelungen sein sollte, sind die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 nicht erfüllt (vgl. Urteil des Senats vom 12. August 1986 VII R 45/84, zur Veröffentlichung bestimmt). Diese Frage ist also entscheidungserheblich. Das FG hat sie nicht etwa dadurch entschieden, daß es auf das Fehlen von Abwälzklauseln (in den Weiterverkaufsverträgen) hingewiesen und die Nichtvereinbarung solcher Klauseln für nicht vorwerfbar, weil nicht durchsetzbar, gehalten hat. Die Abwälzung kann - auch ohne besondere Klauseln, die ohnehin nur für vor der Erhöhung der WAB abgeschlossene Weiterverkaufsverträge praktisch von Bedeutung wären (vgl. Urteil des Senats vom 12. August 1986 VII R 45/84) - durch eine schlichte Erhöhung der Weiterverkaufspreise (oder eine Nichtweitergabe gesunkener Kosten) geschehen sein.
Das FG ist auf die Frage, ob die Klägerin die erhöhten WAB abgewälzt hat, offenbar deswegen nicht eingegangen, weil, wie es auf der letzten Seite der Vorentscheidung heißt, das HZA in seinem Schriftsatz vom 20. September 1979 ausdrücklich die Behauptung habe fallen lassen, die Klägerin habe die erhöhten WAB auf ihre Abnehmer abwälzen können. Das HZA hat diese Behauptung aber, wie sich aus seinem Schreiben vom 20. September 1979 ergibt, nur zurückgezogen, ,,um den Abschluß des Verfahrens zu fördern", also offensichtlich in der Meinung, schon aus anderen Gründen könne die Klage keinen Erfolg haben. Überdies vermag dieser Hinweis des FG die mangelnde Feststellung, eine Abwälzung sei nicht erfolgt, nicht zu heilen. Nur wenn das Fehlen einer Abwälzung feststeht, können die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 als erfüllt angesehen und kann der Klage stattgegeben werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß nach Art. 2 Abs. 2 VO Nr. 1608/74 die Klägerin den entsprechenden Nachweis zu erbringen, also z. B. unter Vorlage entsprechender Unterlagen darzulegen hat, daß die Marktlage bei den betreffenden Waren im maßgebenden Zeitraum eine Abwälzung nicht ermöglichte und auch nicht durch die Nichtweitergabe von Kostenminderungen (z. B. infolge der erheblichen Senkungen der Abschöpfungssätze) erfolgen konnte.
3. Trotz dieses Rechtsfehlers der Vorinstanz bedürfte es freilich einer Zurückverweisung der Sache an das FG nicht, wenn die Vorentscheidung aus anderen Gründen aufgehoben werden müßte und die Feststellungen des FG ausreichten zur Entscheidung, daß die Klage unbegründet ist. So liegt der Fall jedoch nicht.
Unterstellt man, daß die Klägerin die Belastung nicht abgewälzt hat, so kann ihrem Erstattungsantrag nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 dennoch nicht stattgegeben werden, wenn sie die Belastung bei Anwendung der erforderlichen und üblichen Umsicht hätte vermeiden können. Die fraglichen Waren lagerten offenbar (genaue Feststellungen des FG fehlen) bereits im Zeitpunkt der DM-Aufwertung am 29. Juni 1973 im offenen Zollager der Klägerin. Die Klägerin hätte also die erst zum 3. Juli 1973 vorgenommenen Erhöhungen der WAB vermeiden können, indem sie die Waren vor diesem Stichtag aus ihrem offenen Zollager entnahm (vgl. § 46 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 45 Abs. 6 letzter Satz des Zollgesetzes - ZG -). Es kann der Klägerin jedoch nicht angelastet werden, daß sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat. Denn bei einer Auslagerung der Waren zwischen 29. Juni und 3. Juli 1973 nur zur Vermeidung der erhöhten WAB ohne sonstigen zwingenden Anlaß zur Auslagerung (z. B. Verarbeitung, Weiterverkauf) hätte die Klägerin die unter Umständen erheblich größeren Vorteile der fortdauernden Zollagerung (z. B. Zahlung aller Eingangsabgaben erst nach der Auslagerung, Wahrnehmung der Chance fallender Abschöpfungssätze) verloren. So zu verfahren, war ihr daher nicht zumutbar. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, sie hätte wegen der genannten Auslagerungsmöglichkeit die zusätzliche Belastung bei Anwendung der erforderlichen und üblichen Umsicht i. S. des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b VO Nr. 1608/74 vermeiden können.
4. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Bei seiner neuerlichen Entscheidung wird das FG folgendes zu beachten haben:
Falls das FG nach neuerlicher Prüfung zum Ergebnis gelangen sollte, daß die Klägerin die zusätzliche Belastung nicht abgewälzt hat, wird es nicht wie in der Vorentscheidung die Nichtvermeidbarkeit der Belastung mit der Begründung für gegeben erachten können, etwas anderes sei nicht erkennbar und außerdem könne davon ausgegangen werden, daß der gewinn- und kostenbewußte Kaufmann regelmäßig bei Vertragsabschlüssen und den diesen vorausgehenden Verhandlungen das für ihn Günstigste herauszuholen versuche. Der gleiche Grundsatz, daß ein Kaufmann gewinn- und kostenbewußt zu handeln pflegt, spricht dafür, daß sich ein Kaufmann im Regelfall Gedanken darüber machen wird, wie er sich gegen voraussehbare künftige Kostenrisiken absichern kann. Das gilt in erhöhtem Maße (vgl. auch Art. 4 Abs. 1 VO Nr. 1608/74) beim Abschluß längerfristiger Verträge, wie sie offenbar hier vorliegen. Es stellt sich also die Frage, ob die Klägerin beim Abschluß dieser Verträge nicht Anlaß gehabt hätte, sich gegen das Risiko, je nach Währungslage höhere WAB tragen zu müssen, abzusichern. Eine solche Absicherung hätte theoretisch dadurch geschehen können, daß das Risiko vertraglich ganz oder teilweise auf die Verkäufer verlagert wurde (die bei einer DM-Aufwertung ja entsprechende Vorteile hatten, da sie den Kaufpreis jeweils in aufgewerteter DM erhielten), daß die Weiterverkaufspreise erhöht wurden oder in die Verkaufsverträge entsprechende Abwälzungsklauseln aufgenommen wurden, wie sie offenbar im Getreidehandel nicht unüblich sind (vgl. Urteil des Senats vom 12. August 1986 VII R 45/84). Der Auffassung des FG, allein aus dem Fehlen entsprechender Maßnahmen der Klägerin könne geschlossen werden, sie seien nicht durchsetzbar gewesen, vermag der Senat nicht zu folgen; ein solcher allgemeiner Erfahrungssatz besteht nicht.
Fundstellen
Haufe-Index 414808 |
BFH/NV 1987, 540 |