Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei Versäumung der Ausschlußfrist zur Vorlage der Vollmacht
Leitsatz (NV)
Wird die Prozeßvollmacht nicht innerhalb der vom FG gesetzten Ausschlußfrist vorgelegt, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine sonst zuverlässige Kanzleiangestellte die Verfügung des FG mit der Fristsetzung, ohne sie dem Prozeßbevollmächtigten zu zeigen, versehentlich zusammen mit der Vollmacht in einer falschen Akte ablegt und daher versäumt, die Vollmacht dem FG zu übersenden. Ein die Wiedereinsetzung ausschließendes Verschulden des Prozeßbevollmächtigten kann nicht daraus hergeleitet werden, daß dieser in der Klageschrift die umgehende Vorlage der Prozeßvollmacht versprochen, sich aber bei Absendung eines späteren Schriftsatzes nicht vergewissert hat, ob die Kanzleiangestellte seine Anweisung, die Vollmacht einzuholen und abzuschicken, ausgeführt hat.
Normenkette
FGO § 56; VGFGEntlG Art. 3 § 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Am 10. Februar 1986 erhob der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) in deren Namen Klage gegen die Einkommensteuerbescheide 1976 bis 1978. Er versicherte anwaltlich seine Bevollmächtigung und versprach, eine schriftliche Prozeßvollmacht ,,umgehend" sowie die Begründung der Klage ,,kurzfristig" nachzureichen.
Einen Tag nach Eingang der Klage verfügte der Vorsitzende des zuständigen Senats eine Fristsetzung zur Vorlage der Vollmacht (Art. 3 § 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit - VGFGEntlG -) sowie zur Angabe der entscheidungserheblichen Tatsachen (Art. 3 § 3 VGFGEntlG). Mit jeweils gesonderten Schreiben vom 13. Februar 1986 - mit einer Postzustellungsurkunde zugestellt am 14. Februar 1986 - wurde der Prozeßbevollmächtigte aufgefordert, innerhalb eines Monats nach Zustellung die schriftliche (Original-)Vollmacht einzureichen und die Tatsachen anzugeben, die nach Auffassung der Klägerin bei der Entscheidung zu berücksichtigen seien.
Am 14. März 1986 ging beim Finanzgericht (FG) die Klagebegründung, nicht aber die Prozeßvollmacht ein. Der Schriftsatz wurde dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) zur Erwiderung zugestellt.
Am 10. Juli 1986 teilte der Berichterstatter dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin telefonisch mit, daß dieser trotz der Aufforderung und der im Schreiben vom 13. Februar 1986 gesetzten Ausschlußfrist bisher keine Prozeßvollmacht eingereicht habe. Die Klage müsse daher als unzulässig abgewiesen werden.
Daraufhin übersandte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin mit Schreiben vom 14. Juli 1986 - eingegangen am 15. Juli 1986 - eine schriftliche, von der Klägerin am 10. Februar 1986 unterschriebene Prozeßvollmacht und bat wegen der versäumten Ausschlußfrist um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Zur Begründung brachte er vor: Den Postverkehr, den Fristenkalender und die Fristenkontrolle erledige seine Anwaltsgehilfin Frau K, die in dieser Funktion schon seit 16 Jahren ohne Beanstandung für ihn gearbeitet habe. Auf Grund ihrer langjährigen Tätigkeit auf diesem Gebiet sei sie mit der Bedeutung der Fristenkontrolle und der ausschließenden Wirkung bestimmter Fristen bestens vertraut.
Frau K habe am 14. Februar 1986 den Briefumschlag mit den beiden Verfügungen des FG vom 13. Februar 1986 vom Postboten entgegengenommen und geöffnet. Das Schreiben mit der Aufforderung zur Angabe der entscheidungserheblichen Tatsachen habe sie mit dem Eingangsstempel vom 14. Februar 1986 sowie mit einem roten Vermerk der Vorfrist vom 7. März 1986 und der Ablauffrist vom 14. März 1986 versehen. Außerdem habe sie diese Fristen in den Terminkalender eingetragen. Diese Verfügung habe sie sodann in die Handakte zum vorliegenden Verfahren abgeheftet und ihm - dem Prozeßbevollmächtigten - zur Begründung der Klage vorgelegt.
Die Aufforderung des FG zur Vorlage der Vollmacht dagegen habe sie in der Absicht behalten, die Vollmacht dem FG sofort zu übersenden. Deshalb habe sie auch den Vermerk des Eingangs sowie des Fristablaufs auf dieser Verfügung für überflüssig gehalten. Aus Gründen, die sich heute nicht mehr nachvollziehen ließen, sei Frau K davon abgelenkt worden, die Verfügung sofort zu beantworten.
Nach dem Anruf des Berichterstatters vom 10. Juli 1986 habe er, der Prozeßbevollmächtigte, mit Frau K zusammen versucht, den Geschehensablauf zu rekonstruieren. Dabei hätten sie die Aufforderung des FG zur Vorlage der Vollmacht in der Ablagetasche einer anderen die Klägerin betreffenden Akte gefunden. Es seien insgesamt drei Parallelakten für die strafrechtlichen Verfahren gegen die Klägerin und ihren Sohn geführt worden. Zwei Parallelakten habe er zur Begründung der finanzgerichtlichen Klage benötigt. Diese sowie die finanzgerichtliche Akte habe ihm Frau K vorgelegt. Frau K habe anscheinend zur Entlastung der vorgelegten Parallelakten den Inhalt der dazu gehörenden Ablagetaschen in der Ablagetasche der dritten Parallelakte verwahrt. Dabei müsse die Verfügung aus Unachtsamkeit unter diese Unterlagen geraten sein.
Zur Glaubhaftmachung legte der Prozeßbevollmächtigte eine eidesstattliche Erklärung von Frau K vor, in der diese den vom Prozeßbevollmächtigten vorgetragenen Sachverhalt bestätigt.
Außerdem erklärte der Prozeßbevollmächtigte, er habe Frau K nach Fertigung der Klage vom 8. Februar 1986 beauftragt, die schriftliche Prozeßvollmacht umgehend einzuholen und für die Übersendung zu sorgen. Entsprechend seiner Anweisung habe Frau K die Prozeßvollmacht eingeholt, ihm jedoch nicht zur Übersendung vorgelegt.
Auf den Hinweis des FA, daß im Streitfall ein Organisationsmangel vorliegen könnte, weil der Prozeßbevollmächtigte seine Mitarbeiter möglicherweise nicht angewiesen habe, alle Posteingänge vorzulegen, antwortete der Prozeßbevollmächtigte, einer solchen Anweisung bedürfe es nicht. Dies sei eine Selbstverständlichkeit, die jeder Lehrling nach einer Woche Tätigkeit behalte.
Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Es führte aus: Die Prozeßvollmacht sei erst nach Ablauf der Ausschlußfrist eingegangen. Da die Frist schuldhaft versäumt worden sei, könne keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Dahinstehen könne, ob die Anwaltsgehilfin K schuldhaft gehandelt habe, denn ein etwaiges Verschulden ginge nicht zu Lasten der Klägerin. Schuldhaft habe aber der Prozeßbevollmächtigte gehandelt, weil er trotz anwaltlicher Zusage im Schriftsatz vom 8. Februar 1986 bei der noch innerhalb der Frist liegenden Abfassung des Schriftsatzes vom 13. März 1986 nicht geprüft habe, ob diese Zusage inzwischen erfüllt gewesen sei. Wer anwaltliche Zusagen mache, habe sich selbst darum zu kümmern, daß diese eingehalten werden. Hätte der Prozeßbevollmächtigte dies getan, wäre das Versehen der Anwaltsgehilfin rechtzeitig entdeckt worden. Der Prozeßbevollmächtigte könne sich auch nicht damit entschuldigen, daß er sich lediglich mit der Klagebegründung zu befassen gehabt hätte, denn die rechtzeitige Vorlage der Vollmacht sei als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Klage von erheblicher Bedeutung und ebenso wichtig wie die Klagebegründung. Unerheblich für die Zulässigkeit und Wirksamkeit der Fristsetzung nach Art. 3 § 1 VGFGEntlG sei, ob alsbald über den Rechtsstreit entschieden werden könne.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung rechtlichen Gehörs sowie einen Verstoß gegen die Denkgesetze. Sie trägt im wesentlichen vor:
Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung sei der Prozeßbevollmächtigte berechtigt, die Führung des Fristenkalenders, die Kontrolle der Fristen und andere büromäßige Aufgaben einer geschulten und zuverlässigen Mitarbeiterin zu übertragen. Auch im Hinblick auf sein schriftsätzliches Versprechen, die Vollmacht nachzureichen, sei er nicht verpflichtet gewesen, nachzuprüfen, ob die Vollmacht bei Gericht eingegangen sei. Er habe zulässigerweise das in Aussicht gestellte Übersenden der Vollmacht seiner Mitarbeiterin übertragen und sich darauf verlassen dürfen, daß sie diesen Auftrag ausführe. Da er von der Fristsetzung durch das FG nichts gewußt habe, habe er auch im übrigen keinen Anlaß gehabt, nach der Vollmacht zu forschen. Das FG hätte nur dann ein Verschulden annehmen dürfen, wenn es zunächst eine Verpflichtung zur Prüfung festgestellt und dargelegt hätte.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA stellt keinen Antrag.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Zu Unrecht hat das FG der Klägerin wegen der verspäteten Vorlage der Prozeßvollmacht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
1. Geht eine Prozeßvollmacht nicht innerhalb der vom Vorsitzenden nach Art. 3 § 1 Satz 1 VGFGEntlG gesetzten Ausschlußfrist beim FG ein, ist die Klage als unzulässig abzuweisen (ständige Rechtsprechung, z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. Juni 1984 I R 152/81, BFHE 141, 455, BStBl II 1984, 841). Nach Art. 3 § 1 Satz 2 VGFGEntlG i. V. m. § 56 FGO ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn der Kläger ohne Verschulden verhindert war, die Ausschlußfrist einzuhalten. Das Verschulden eines Prozeßbevollmächtigten steht dabei dem Verschulden des Klägers gleich (§ 155 FGO i. V. m. § 85 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -).
Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung darf ein Rechtsanwalt die Kontrolle der Fristen und die Führung eines Fristenkalenders oder Fristenkontrollbuchs gut ausgebildeten, erfahrenen und zuverlässigen Büroangestellten übertragen, sofern er durch klare Anweisungen, Organisation des Bürobetriebs und Überwachung der Angestellten sicherstellt, daß Fristversäumnisse vermieden werden. Wird auf Grund eines Fehlverhaltens von Angestellten gleichwohl eine Frist versäumt, hat der Rechtsanwalt dieses Fehlverhalten als sog. Büroversehen nicht zu vertreten, es sei denn, er hat die Mitarbeiter nicht sorgfältig ausgewählt und überwacht oder den Bürobetrieb nicht sachgerecht organisiert (z. B. BFH-Urteil vom 26. Mai 1977 V R 139/73, BFHE 122, 251, BStBl II 1977, 643; Beschluß des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 14. Januar 1987 VIII ZB 49/86, Versicherungsrecht - VersR - 1987, 760).
2. Zu Unrecht hat das FG ein eigenes Verschulden des Prozeßbevollmächtigten angenommen. Nach dem vom Prozeßbevollmächtigten vorgetragenen und glaubhaft gemachten Geschehensablauf beruht die Fristversäumnis weder darauf, daß der Prozeßbevollmächtigte die Büroangestellte nicht sorgfältig ausgewählt, mangelhaft belehrt oder unzureichend überwacht hat, noch darauf, daß die Fristenkontrolle nicht gut genug organisiert war. Die Frist wurde vielmehr deshalb versäumt, weil Frau K die Verfügung des FG mit der Ausschlußfrist für die Vorlage der Vollmacht dem Prozeßbevollmächtigten nicht vorgelegt und auch keine Frist notiert, sondern versehentlich in die Ablagetasche einer ein anderes Verfahren der Klägerin betreffenden Akte gesteckt hat.
Der Senat teilt nicht die Auffassung des FA, daß den Prozeßbevollmächtigten wegen unzureichender Anweisungen an seine Angestellte ein Verschulden trifft. Der Prozeßbevollmächtigte hat im vorinstanzlichen Verfahren erklärt, es sei eine Selbstverständlichkeit in seinem wie in jedem anderen Anwaltsbüro, daß die gesamte Post vorgelegt werden müsse; das lerne jeder Lehrling in der ersten Woche seiner Tätigkeit. Auch Frau K war danach also zur Vorlage sämtlicher Posteingänge angewiesen.
Ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten kann auch nicht daraus hergeleitet werden, daß er in der Klageschrift erklärt hat, er werde die Prozeßvollmacht umgehend nachreichen. Grundsätzlich ist die Vorlage der Prozeßvollmacht nicht fristgebunden. Die Vollmacht kann auch noch in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem FG vorgelegt werden. Daher hat die Nichtvorlage der Vollmacht innerhalb einer bestimmten Frist - auch wenn der Prozeßbevollmächtigte die Vorlage schriftsätzlich verspricht - keine prozessualen Folgen. Diese ergeben sich nur, wenn ausdrücklich eine Ausschlußfrist nach Art. 3 § 1 VGFGEntlG gesetzt wird. Von der Ausschlußfrist wußte der Prozeßbevollmächtigte jedoch nichts, da ihm Frau K die Verfügung des FG nicht vorgelegt hatte. Es kann ihm daher auch nicht vorgeworfen werden, er hätte sich selbst um die Übersendung der Vollmacht kümmern müssen.
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Da das FG die Klage als unzulässig abgewiesen hat, fehlen tatsächliche Feststellungen zur Entscheidung in der Sache.
Fundstellen
Haufe-Index 416131 |
BFH/NV 1990, 120 |