Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablehnung des Antrags auf Aussetzung der Vollziehung bei behaupteter Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm kein Ermessensmissbrauch. § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO nicht verfassungswidrig
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Ablehnung einer Aussetzung der Vollziehung stellt keinen Ermessensmissbrauch dar, wenn der Steuerpflichtige zur Begründung des Antrags sich lediglich auf eine etwaige Verfassungswidrigkeit des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO beruft.
2. § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO ist nicht verfassungswidrig und verstößt nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.
3. Steuergerichte sind nicht zum Erlaß einer einstweiligen Anordnung auf Einstellung der Beitreibung berechtigt.
Normenkette
AO §§ 251, 222 Abs. 1 Ziff. 1; GG Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3
Nachgehend
Tatbestand
Gegen den Beschwerdeführer ergingen auf Grund einer Betriebsprüfung berichtigte Einkommensteuerbescheide für 1955 bis 1959. Die hierdurch sich ergebenden Einkommensteuererhöhungen betrugen 11 175 DM. Mit dem Einspruch gegen die Berichtigungsbescheide erhob der Beschwerdeführer sachlich keine Einwendungen gegen die Feststellungen der Betriebsprüfung. Er wandte sich ausschließlich gegen die Anwendung des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO, der nach seiner Auffassung aus rechtsstaatlichen Gründen mit dem Grundgesetz nicht im Einklang stehe.
Zugleich mit dem Einspruch beantragte der Beschwerdeführer gemäß § 251 AO die Aussetzung der Vollziehung der Berichtigungsbescheide. Das Finanzamt entsprach dem Antrag vorbehaltlich der Stellungnahme des Betriebsprüfers. Auf Grund der Mitteilung des Betriebsprüfers, der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers lege nach Betriebsprüfungen stets Einspruch ein, er, der Prüfer, könne deshalb die Aussetzung der Vollziehung nicht befürworten, hob das Finanzamt die bereits gewährte Aussetzung der Vollziehung auf. Die hiergegen eingelegte Beschwerde wies die OFD als unbegründet zurück.
Gegen diese Beschwerdeentscheidung der OFD legte der Beschwerdeführer Berufung ein, die der Bevollmächtigte des Beschwerdeführers als Anrufungsklage gemäß Art. 19 Abs. 4 GG bezeichnete. Der Beschwerdeführer beantragte:
- Die angefochtene Beschwerdeentscheidung aufzuheben,
- anzuordnen, daß die Beitreibung der streitbefangenen Steuer bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Aussetzungsantrag eingestellt werde.
Den Antrag zu 2. ergänzte der Bevollmächtigte durch weitere Schreiben dahin, die „einstweilige Verfügung bezüglich vorläufiger Aussetzung der Beitreibung” möge der Vorsitzende der Kammer des Finanzgerichts erlassen. Außerdem trug der Bevollmächtigte vor, es sei beim Bundesfinanzhof ein Verfahren mit Streit um die Verfassungswidrigkeit des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO anhängig. Die erkennende Kammer des Finanzgerichts möge das vorliegende Verfahren gemäß § 264 Abs. 1 AO aussetzen. Zur Begründung seiner Anträge führte der Beschwerdeführer im wesentlichen aus, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts habe der Grundsatz der Rechtssicherheit und damit des Vertrauensschutzes den Vorrang vor dem Grundsatz der Gerechtigkeit (im Sinne der Richtigkeit der Besteuerung).
Der Antrag auf einstweilige Verfügung rechtfertige sich aus der drohenden Zwangsvollstreckung.
Die Berufung hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht ließ sich von folgenden Erwägungen leiten: Die Überprüfung der Entscheidung der Verwaltungsbehörden beschränke sich darauf, ob ein Ermessensmißbrauch vorliege. Diese Frage sei zu verneinen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seien Zweifel an der Rechtsgültigkeit des § 222 AO nicht begründet. Der Antrag auf Erlaß der beantragten einstweiligen Anordnung sei unzulässig. Dem Finanzgericht fehle nach dem geltenden Recht die Zuständigkeit, der Verwaltung Anweisungen zu erteilen.
Mit der Rechtsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verfahrensmängel und unrichtige Rechtsanwendung. Zur Begründung wiederholt er im wesentlichen sein bisheriges Vorbringen.
Entscheidungsgründe
Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
Die Vollziehung eines angefochtenen Bescheids ist auszusetzen, wenn die Möglichkeit der Aufhebung des Bescheids auf Grund gewichtiger Darlegungen des Steuerpflichtigen, die nach ihrer Schlüssigkeit zu bewerten sind, besteht (vgl. u. a. Urteile des BFH III 187/52 S vom 10. September 1954, BStBl 1954 III S. 328, Slg. Bd. 59 S. 307, und III 230/60 vom 2. Dezember 1960, HFR 1961 Nr. 114 S. 111). Nach dem Wortlaut des § 251 AO ist die Aussetzung eines Bescheides (die Vollziehung „kann” ausgesetzt werden) in das Ermessen der Verwaltungsbehörden gestellt. Die Gerichte haben demgemäß nur das Recht und die Pflicht zu prüfen, ob die Verwaltungsbehörden die Grenzen des Ermessens eingehalten haben (vgl. Gutachten des BFH Gr. S. D 1/51 S vom 17. April 1951, BStBl 1951 III S. 107 ff., Slg. Bd. 55 S. 277 ff., sowie das Urteil des BFH II 37/53 U vom 10. Februar 1954, BStBl 1954 III S. 116, Slg. Bd. 58 S. 538).
Dem Finanzgericht ist beizupflichten, wenn es im Streitfall einen Ermessensmißbrauch der Verwaltungsbehörde verneint hat. Wie der Bundesfinanzhof wiederholt ausgesprochen hat, sind die Finanzverwaltungsbehörden nicht v e r p f l i c h t e t, die Vollziehung einer Steuer auszusetzen, wenn der Steuerpflichtige. sich auf Verfassungswidrigkeit eines Steuergesetzes oder einer steuerlichen Einzelbestimmung beruft (vgl. u. a. Urteile des BFH III 332/58 S vom 12. Dezember 1958, BStB1 1959 III S. 140, Slg. Bd. 68 S. 361; VI 147/58 U vom 20. Februar 1959, BStB1 1959 III S. 172, Slg. Bd. 68 S. 451). Das entspricht auch der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 21. Februar 1961 – 1 BvR 314/60 – (BStBI 1961 1 S. 63), wonach eine Aussetzung nicht allein deshalb gerechtfertigt sei, weil ein Steuerpflichtiger die Verfassungswidrigkeit einer Norm behaupte oder die Verfassungswidrigkeit vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht worden sei, möge das auch Anlaß sein, eine Aussetzung in Betracht zu ziehen. Doch könne von einem Ermessensmißbrauch nicht die Rede sein, wenn das zuständige obere Bundesgericht die Vereinbarkeit der umstrittenen Norm bejaht habe und die Verwaltungsbehörde sich bei der Ablehnung der Aussetzung dieser Ansicht anschließe. Es handelt sich bei § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO um eine gesetzliche Vorschrift, die der BFH laufend anwendet und gegen die er keine verfassungsrechtlichen Bedenken erhoben hat.
Darüber hinaus muß folgendes gelten: Der Senat vermag dem Beschwerdeführer im Rahmen der hier vorzunehmenden summarischen Nachprüfung nicht zuzustimmen, daß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße und deshalb verfassungswidrig sei. Auf die Bedeutung des Grundsatzes der Rechtssicherheit als rechtsstaatliches Prinzip hat der Bundesfinanzhof bereits in mehreren Entscheidungen hingewiesen (vgl. u. a. Urteil des BFH 1 39/57 U vom 14. August 1958, BStBl 1958 III S. 409 [412], Slg. Bd. 67 S. 354). Wie in der letztgenannten Entscheidung hervorgehoben wird, gehört zur Rechtsstaatlichkeit nicht nur die Rechtssicherheit, sondern auch die materielle Richtigkeit oder Gerechtigkeit. Das Urteil des BFH nimmt hierbei u. a. Bezug auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juli 1957 – 1 BvL 23/52 – (Entscheidungen des BVerfG Bd. 7 S. 89 [92]). Nach der letztgenannten Entscheidung handelt es sich um verschiedene Seiten des Rechtsstaatsprinzips, das keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote von Verfassungsrang enthält, sondern ein Verfassungsgrundsatz ist, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf. Hierbei müssen allerdings, wie auch das Bundesverfassungsgericht ausführt, fundamentale Elemente des Rechtsstaates und die Rechtsstaatlichkeit im ganzen gewahrt bleiben, weshalb auch nur die Prüfung des Einzelfalles ergeben kann, ob gesetzliche Regelungen rechtsstaatlich unbedenklich sind.
Auch der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 1960 – 1 BvL 17/57 – (Entscheidungen des BVerfG Bd. 11 S. 64) bringt zum Ausdruck, daß der Grundsatz der Rechtssicherheit jeweils der Konkretisierung bedarf und daß nur auf Grund einer Prüfung aller Auswirkungen im Einzelfall entschieden werden kann, ob eine gesetzliche Regelung unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit verfassungswidrig ist. Insoweit ist u. a., wie das Finanzgericht zutreffend hervorhebt, die rechtsstaatliche Auslegung des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO durch die Steuergerichte von Bedeutung. Durch sie ist sichergestellt, daß bei der Auslegung des § 222 AO, vor allem des Begriffs „neue Tatsachen”, die den berechtigten Belangen des Steuerpflichtigen entsprechenden Einschränkungen beachtet werden, so z. B., daß unerhebliche Tatsachen nicht zu einer Wiederaufrollung früherer Veranlagungen führen, oder daß bei mangelnder Aufklärung durch das Finanzamt vor Durchführung der Veranlagung eine spätere Feststellung nicht als neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO gewertet werden darf. Zu beachten ist weiter, daß die Anwendung der Vorschriften über die Berichtigung rechtskräftiger Steuerbescheide nach der Rechtsprechung im besonderen Maße unter dem Grundsatz von Treu und Glauben steht. Nicht außer acht gelassen werden darf schließlich die Möglichkeit der Berichtigung von Steuerbescheiden z u g u n s t e n des Steuerpflichtigen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO. Wenn somit auf der einen Seite der Gesetzgeber und die Rechtsprechung sich bemühen, bei der Durchführung von Berichtigungen den schutzwürdigen Interessen der Steuerpflichtigen in weitgehendem Maße Rechnung zu tragen, wird man andererseits im Interesse der Allgemeinheit auch die Berichtung von Veranlagungen auf Grund des § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO in den gegebenen Grenzen zulassen müssen.
Dem Finanzgericht ist auch zu folgen, wenn es den Erlaß einer einstweiligen Anordnung auf Einstellung der Beitreibung und den Antrag auf Aussetzung des Verfahrens gemäß § 264 AO abgelehnt hat. Zutreffend hat bereits das Finanzgericht hierzu ausgeführt, daß das Gesetz die Steuergerichte zur Aussetzung der Vollziehung nicht ermächtigt. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 264 AO konnte das Finanzgericht nach der gegebenen Sachlage verneinen.
Die verfassungsrechtlichen Rügen des Beschwerdeführer sind nicht begründet. Es ist nach der gesamten Rechtslage für die Entscheidung unerheblich, ob der zur Stellungnahme aufgeforderte Betriebsprüfer die oben erwähnte Äußerung getan hat. Es bestand deshalb auch kein Grund für das Finanzamt, dem Beschwerdeführer, diese Äußerung mitzuteilen.
Fundstellen