Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Der Senat hält an den Grundsätzen seiner Entscheidung VI 162/60 S vom 25. Mai 1962 (BStBl 1962 III S. 286, Slg. Bd. 75 S. 48) zur Behandlung von Fehlgeldentschädigungen fest.
Es widerspricht den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit, der Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen und des Vertrauensschutzes für die Steuerpflichtigen, eine höchstrichterliche grundsätzliche Rechtsprechung, die zur Grundlage der allgemeinen Verwaltungspraxis geworden ist, ohne schwerwiegenden Grund nach kurzer Zeit wieder zu ändern.
GG Art. 2 Abs. 1, 20 Abs. 3; EStG 1958 § 2 Abs. 3 Ziff. 4, § 8, § 19; LStDV 1957 § 2; LStR 1957 und
Normenkette
EStG § 2 Abs. 3 Ziff. 4, § 19; LStDV § 2; LStR Abschn. 2 Abs. 2 Ziff. 2
Tatbestand
Die Bgin., eine Großhandelsfirma, zahlte in den Jahren 1958 bis 1960 ihren Verkaufsfahrern "Fehlgeldentschädigungen" von monatlich 20 DM und im Jahre 1961 solche von monatlich 30 DM, ohne Lohnsteuer einzubehalten. Das Finanzamt forderte von ihr als Arbeitgeberin die Lohnsteuer mit 585 DM nach.
Im Rechtsmittelverfahren befürwortete der Vorsteher des Finanzamts, Fehlgeldentschädigungen von 10 DM je Monat und Arbeitnehmer steuerfrei zu belassen. Die Bgin. hält dagegen die Beträge für voll steuerfrei; sie beruft sich auf Abschn. 2 Abs. 2 Ziff. 2 LStR.
Das Finanzgericht gab der Berufung statt und führte aus, Abschn. 2 Abs. 2 Ziff. 2 LStR sei von den Finanzgerichten anzuwenden und auszulegen. Nach dem Wortlaut der Vorschrift seien Fehlgeldentschädigungen unter bestimmten Voraussetzungen kein steuerpflichtiger Arbeitslohn, soweit sie 30 DM im Monat nicht überstiegen. Diese Formulierung sei zweifelsfrei. Die Kammer folge der Entscheidung des Bundesfinanzhofs im Urteil VI 162/60 S vom 25. Mai 1962 (BStBl 1962 III S. 286, Slg. Bd. 75 S. 48) nicht, die die Vorschrift für auslegungsbedürftig gehalten habe. Da hier der Satz von 30 DM monatlich nicht überschritten werde, sei die Bgin. insoweit von der Lohnsteuerhaftung freizustellen gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts hat Erfolg.
Abschn. 2 Abs. 2 Ziff. 2 LStR betreffend die Steuerfreiheit von Fehlgeldentschädigung ist eine rechtsnormähnliche unverändert fortgeltende Verwaltungsanweisung aus der autoritären Zeit, die auf Grund von § 12 AO alter Fassung damals wirksam erlassen werden konnte und nach Art. 123 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) als Bundesrecht fortbesteht. Sie ist, wie das Finanzgericht zutreffend angenommen hat, von den Steuergerichten anzuwenden und auszulegen (vgl. Urteil des Senats VI 165/57 U vom 21. März 1958, BStBl 1958 III S. 265, Slg. Bd. 66 S. 692). Fehlgeldentschädigungen an Arbeitnehmer im Kassen- und Zähldienst bleiben danach unter bestimmten Voraussetzungen lohnsteuerfrei.
Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs legte zunächst den Begriff "Kassen- oder Zähldienst" eng aus und rechnete dazu nur eine Tätigkeit, die wegen ihres Umfangs und der Art des Zahlungsverkehrs (Bargeldverkehr) sowie der äußeren Form, in der die Publikumsabfertigung vor sich geht, die Gefahr von Fehlbeträgen mit sich bringt, auch wenn die übliche Sorgfalt beachtet wird. Diese Voraussetzungen wurden im allgemeinen nur bei hauptberuflichen Kassierern als erfüllt betrachtet. Daher galt die Kassenführung von Angestellten einer Anwaltskanzlei nicht als Kassen- oder Zähldienst; ebenso nicht die eines Verkaufsfahrers; desgleichen nicht die von Lohnbuchhaltern im Ruhrbergbau oder von Kassierern in Filmtheatern (Der Betrieb 1959 S. 1069) oder von Personen, die jeweils nur kurze Zeit ohne besonderes Risiko Kassengeschäfte erledigten.
Der Senat änderte dann in dem Urteil VI 162/60 S (a. a. O.) seine Rechtsprechung und lehnte die Steuerfreiheit von Fehlgeldentschädigungen im Privatdienst an die für den öffentlichen Dienst der Finanzverwaltung geltenden Grundsätze an. Danach genügt es, wenn der Arbeitnehmer mit der Annahme von Einzahlungen und mit der Leistung von Auszahlungen im baren Zahlungsverkehr oder mit der Beitreibung oder mit der Abholung und Ablieferung von Zahlungsmitteln beauftragt ist. Der Arbeitnehmer braucht nicht hauptamtlich oder ausschließlich im Kassen- und Zähldienst tätig zu sein. Die Fehlgeldentschädigung muß jedoch auf Grund einer gesetzlichen oder arbeitsrechtlichen Verpflichtung neben dem laufenden Arbeitslohn gezahlt werden und dazu bestimmt sein, die Geldverluste auszugleichen, die der Arbeitnehmer trägt.
Das Finanzgericht hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß sich die Bgin. zur Zahlung von Fehlgeldentschädigungen verpflichtet hatte. Ihre Besteuerung richtet sich sonach nach Abschn. 2 Abs. 2 Ziff. 2 LStR. Entschädigungen sind dann steuerfrei zu belassen, wenn ein Arbeitnehmer im Kassen- oder Zähldienst beschäftigt ist und die Entschädigung für jeden Kalendermonat 30 DM nicht übersteigt. Der Senat hat in der Entscheidung VI 162/60 S, a. a. O., darauf hingewiesen, daß sich die Höhe der Kassenverlustentschädigung nach der Verlustgefahr richtet, die ihrerseits nach der Höhe des baren Zahlungsverkehrs zu bemessen ist. Er hat dargelegt, daß Abschn. 2 Abs. 2 Ziff. 2 LStR auf den Gemeinsamen Erlaß des Reichsministers der Finanzen und des Reichsarbeitsministers vom 20. September 1941 (RStBl 1941 S. 697) zurückgeht, der zur Vereinfachung die gleichmäßige Behandlung bestimmter Lohnbezüge beim Steuerabzug vom Arbeitslohn und bei der Sozialversicherung herbeiführen sollte. Es entsprach dem Willen der damals beteiligten Ministerien, die erprobten und bewährten Grundsätze des öffentlichen Dienstrechtes auf private Dienstverhältnisse zu übertragen.
Fehlgeldentschädigungen, die im Kassendienst der öffentlichen Verwaltungen beschäftigte Beamte erhalten, sind nach Gefahrenklassen abgestuft. Diese Abstufung ist sachgerecht und beruht auf vieljähriger Erfahrung. Es ist sinnvoll, auch Entschädigungszahlungen, die auf Grund privater Dienstverhältnisse gewährt werden, in Anlehnung an die Grundsätze der öffentlichen Verwaltung abzustufen. Der Senat hat die Höhe der Fehlgeldentschädigungen - wie dargelegt - nach den Barumsätzen im Kalenderjahr orientiert. Im Streitfall betragen sie mehr als 600.000 DM, sie übersteigen indessen nicht die Grenze von 1.800.000 DM. Es kommt danach die Gefahrenklasse III zur Anwendung, nach der die Höhe der Fehlgeldentschädigung im Kalenderjahr mit 120 DM zu bemessen ist.
Die Rechtsprechung des Senats ist seit der Grundsatzentscheidung VI 162/60 S, a. a. O., zur allgemeinen Grundlage der Verwaltungspraxis geworden, wie sich aus Abschn. 2 Abs. 2 Ziff. 2 LStR 1960 ergibt. Das Finanzgericht trägt für seine von der Rechtsprechung des Senats und der Verwaltungspraxis abweichende Auffassung keine Gesichtspunkte vor, die der Senat nicht bereits in seiner Grundsatzentscheidung gewürdigt hätte. Der Senat verzichtet darum darauf, auf die Ausführungen des Finanzgerichts im einzelnen einzugehen. Es würde im übrigen den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und der Gleichbehandlung der Steuerpflichtigen offensichtlich widersprechen, wenn ein Senat des Bundesfinanzhofs ohne schwerwiegenden Grund eine aus wohlerwogenen Gründen geschaffene Rechtsprechung, die auch zur Grundlage der Verwaltungspraxis geworden ist, nach kurzer Zeit wieder umstoßen wollte. Es würde mit dem verfassungsmäßigen Auftrag der Gerichte unvereinbar sein, ohne schwerwiegende sachliche Gründe die im Steuerrecht ohnehin bestehende Rechtsunsicherheit noch durch eine sprunghaft wechselnde Rechtsprechung zu vergrößern. Eine derart labile Rechtsprechung müßte vor allem auch die Steuerpflichtigen enttäuschen, die im Vertrauen auf die Stetigkeit der Rechtsprechung wirtschaftliche Maßnahmen getroffen oder der bisherigen Rechtsprechung entsprechende Verwaltungsakte des Finanzamts nicht angefochten haben.
Die Vorentscheidung war wegen unrichtiger Anwendung von §§ 9 und 19 EStG aufzuheben. Die nicht spruchreife Sache wird - auch unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung - an das Finanzamt zurückverwiesen, das den Haftungsbescheid nach den Grundsätzen dieser Entscheidung zu ändern hat.
Fundstellen
Haufe-Index 411328 |
BStBl III 1964, 558 |
BFHE 1965, 232 |
BFHE 80, 232 |