Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum fristgerechten Geltendmachen von Wiedereinsetzungsgründen
Leitsatz (NV)
Eine nicht fristgerecht beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann nicht deshalb von Amts wegen gewährt werden, weil sich der Wiedereinsetzungsgrund überlanger Postlaufzeit möglicherweise aus dem Poststempel ergeben hätte, wenn das FA den Briefumschlag zu den Akten genommen hätte.
Normenkette
AO 1977 § 110 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) kürzte bei der Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs 1978 für die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) die geltend gemachten Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und erkannte Anschaffungskosten einer Schreibmaschine und Kosten einer Studienreise nach . . . nicht als Werbungskosten an. Hierauf wies das FA in einer Anlage zum Bescheid vom 22. November 1979 hin.
Mit Schreiben vom 20. Dezember 1979, eingegangen beim FA am 28. Dezember 1979, legte die Klägerin Einspruch ein. Das FA teilte der Klägerin daraufhin mit Schriftsatz vom 11. Januar 1980 mit, der Einspruch sei verspätet erfolgt; gleichzeitig wies es auf die Möglichkeit hin, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen. Einen derartigen Antrag stellte die Klägerin am 21. März 1980 und trug zur Begründung vor, die Versäumung der Einspruchsfrist sei nicht verschuldet, weil das FA ohne die nach § 91 der Abgabenordnung (AO 1977) erforderliche Anhörung wesentlich vom Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich abgewichen sei (§ 126 Abs. 3 AO 1977).
Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig.
Mit der Klage machte die Klägerin zusätzlich geltend, das FA habe während des Rechtsbehelfsverfahrens das Programm der Reise angefordert und sei damit in die sachliche Prüfung des Einspruchs eingetreten. Hiervon könne das FA nicht mehr abweichen. Außerdem sei das Einspruchsschreiben am 20. Dezember 1979, also rechtzeitig, zur Post gegeben worden. Deshalb habe das FA durch Vorlage des Briefumschlags den Gegenbeweis erbringen müssen, daß der Rechtsbehelf auch bei normaler Postzustellung verspätet habe eingehen können.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus: Das FA habe den Bescheid am 22. November 1979 ordnungsgemäß zur Post gegeben, und es sei nichts dafür dargetan worden, daß er später als am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post (§ 122 Abs. 2 AO 1977), dem 25. November 1979, bei der Klägerin eingegangen sei. Somit sei die Einspruchsfrist am 27. Dezember 1979 abgelaufen und der am 28. Dezember 1979 eingegangene Einspruch verspätet gewesen. Es hätten aber Wiedereinsetzungsgründe vorgelegen. Allerdings berufe sich die Klägerin zu Unrecht auf § 126 Abs. 3 AO 1977. Denn die Versagung rechtlichen Gehörs sei für die Verspätung des Einspruchs nicht ursächlich gewesen, da das FA auf die Abweichung in der Anlage zum Bescheid hingewiesen habe. Dagegen sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 Abs. 1 AO 1977 zu gewähren.
Es sei glaubhaft, daß die Klägerin das Einspruchsschreiben am Donnerstag, dem 20. Dezember 1979, abends in den Briefkasten in der Nähe ihrer damaligen Wohnung in B eingeworfen habe. Diese Behauptung sei zwar nicht nachgewiesen. Der Nachweis des Zeitpunkts des Einwurfs sei in Fällen wie dem vorliegenden jedoch kaum möglich. Es könnten keine Beweisvorkehrungen für den Nachweis eines rechtzeitigen Einwurfs verlangt werden. Da Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Angaben der Klägerin nicht vorlägen und nach dem Gesetz Glaubhaftmachung genüge, bestehe kein Grund, an den Angaben der Klägerin derart zu zweifeln, daß der Einwurf des Briefes am 20. Dezember 1979 nicht unterstellt werden könnte. Auch wenn der Briefkasten erst am Vormittag des 21. Dezember 1979 geleert worden sein sollte, habe die Klägerin darauf vertrauen können, daß die Postbeförderung innerhalb B`s nicht über den 27. Dezember 1979 hinaus dauern werde.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung von § 110 Abs. 2 Satz 2 AO 1977. Die Klägerin habe weder innerhalb der Frist des § 110 Abs. 2 AO 1977 noch im gesamten Einspruchsverfahren vorgetragen, daß der verspätete Zugang auf eine von ihr nicht zu vertretende Postverzögerung zurückzuführen sei. Dies habe sie erstmals im Klageschriftsatz vom 4. Juni 1981 getan. Damit sei der zuvor vorgetragene, auf § 126 Abs. 3 AO 1977 gestützte Wiedereinsetzungsgrund nicht etwa erläutert oder ergänzt worden. Der jetzige Vortrag stehe vielmehr in Widerspruch hierzu. Die Berufung auf § 126 Abs. 3 AO 1977 setze nicht nur voraus, daß sich der Einspruchsführer der Verspätung bewußt sei, sondern auch, daß er die erkannte Verspätung nicht mit dem - naheliegenden - Argument der verzögerten Postbeförderung entschuldigen könne. Mangels diesbezüglicher Hinweise habe für das FA Veranlassung weder für die Annahme verzögerter Postbeförderung noch für Ermittlungen in dieser Richtung bestanden. Auch das Datum des Einspruchsschreibens vom 20. Dezember 1979 habe derartige Ermittlungen nicht nahegelegt, da es nichts darüber besage, wann dieses Schreiben zur Post gegeben worden sei. Der Umstand, daß die Fristversäumnis nicht auf einem verspäteten Posteinwurf, sondern atypisch auf einer verzögerten Postbeförderung beruhe, stelle keinen von vornherein für das FA offenkundigen Wiedereinsetzungsgrund dar, der deshalb als nicht verspätet vorgebracht angesehen werden könnte.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, da ihr Vortrag, das Einspruchsschreiben am 20. Dezember 1979 abends in den Briefkasten in der Nähe ihrer damaligen Wohnung geworfen zu haben, glaubhaft sei, gelte dieser Tag als Tag des Einwurfs. Diese Tatsache könne das FA durch Vorlage des Briefumschlags (Datum des Poststempels) widerlegen. Weil dem FA die Tatsache des rechtzeitigen Posteinwurfs mit Eingang des Einspruchsschreibens bekannt geworden sei, liege auch kein Nachschieben von Wiedereinsetzungsgründen vor. Das angefochtene Urteil verletze nicht § 110 Abs. 2 Satz 2 AO 1977, weil es auf § 110 Abs. 2 Satz 4 AO 1977 beruhe.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage.
1. Die Revision ist zulässig, da das FA berechtigt war, die Entscheidung des FG über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand anzufechten. Eine Bindung, wie sie gemäß § 56 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) eintritt, wenn das FG über einen bei ihm gestellten Antrag durch Gewährung von Wiedereinsetzung entscheidet, findet bei einer Entscheidung des FG darüber, daß das FA Wiedereinsetzung zu Unrecht versagt habe, nicht statt (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. September 1986 II R 175/84, BFHE 147, 303, BStBl II 1986, 908).
2. Die Revision ist auch begründet.
a) Wie das FG im einzelnen zutreffend dargelegt hat, ist das Schreiben der Klägerin vom 20. Dezember 1979 erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist, also verspätet, eingegangen. Dem FG ist auch darin zu folgen, daß mit der Aufforderung, Belege vorzulegen, die der Überprüfung geltend gemachter Werbungskosten dienen sollten, eine positive Entscheidung des FA über die Frage unverschuldeter Fristversäumnis nicht verbunden war (BFH-Urteil vom 26. Dezember 1989 IV R 82/88, BFHE 159, 103, BStBl II 1990, 277). Zutreffend hat das FG schließlich entschieden, daß die vor Erlaß des angefochtenen Bescheides ggf. erforderliche Anhörung für die Versagung der Rechtsbehelfsfrist nicht ursächlich war, da das FA in der Anlage zum Bescheid auf die Abweichung von den Angaben im Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich hinreichend hingewiesen hatte (BFH-Urteile vom 13. Dezember 1984 VIII R 19/81, BFHE 143, 106, BStBl II 1985, 601, und vom 6. Dezember 1988 IX R 158/85, BFH/NV 1989, 561).
b) Dagegen hat das FG die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht bejaht.
aa) War jemand ohne Verschulden verhindert, die Einspruchsfrist einzuhalten, so ist ihm gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 110 Abs. 2 Satz 1 AO 1977). Nach gefestigter BFH-Rechtsprechung muß der Antragsteller innerhalb der Antragsfrist diejenigen Umstände darlegen, aus denen sich ergibt, daß ihn hinsichtlich der Versäumung der Rechtsbehelfsfrist ein Verschulden nicht trifft (BFH-Urteil vom 17. September 1987 III R 159/84, StRK, Abgabenordnung, § 110 Rechtsspruch 15; sowie zu § 56 FGO BFH-Urteil vom 21. Juli 1988 V R 87/83, BFHE 155, 177, BStBl II 1989, 60). Nach Ablauf der Antragsfrist nachgeschobene selbständige Wiedereinsetzungsgründe sind unbeachtlich. Es ist lediglich zulässig, unvollständige Angaben zu erläutern oder zu ergänzen (BFH-Urteil vom 27. März 1985 II R 118/83, BFHE 144, 1, BStBl II 1985, 586). Ist die versäumte Rechtshandlung vorgenommen, bedarf es der Angabe von Gründen ausnahmsweise nicht, wenn die Tatsachen, aus denen sich das fehlende Verschulden des Säumigen ergibt, offenkundig oder gerichtsbekannt sind (BFH-Urteil vom 16. November 1984 VI R 176/82, BFHE 143, 27, BStBl II 1985, 266, 268 m. w. N.). Denn auch in diesem Fall ist gewährleistet, die Unsicherheit, ob es bei den Folgen der Fristversäumnis bleibt oder nicht, in engen Grenzen zu halten.
bb) Im Streitfall hat die Klägerin von der Fristversäumnis durch das Schreiben des FA vom 11. Januar 1980, auf das sie in ihrer Antwort vom 21. März 1980 Bezug genommen hat, Kenntnis erlangt. Damit ist das etwaige Hindernis - Unkenntnis der Fristversäumung - entfallen. Die Klägerin hat den hier einzig einschlägigen Wiedereinsetzungsgrund überlanger Postlaufzeit nicht innerhalb der Antragsfrist vorgebracht. Insbesondere ist der Tatsache, daß der Einspruchsschriftsatz das Datum des 20. Dezember 1979 trägt, nicht die konkludente Erklärung beizumessen, daß er auch an diesem oder dem Folgetag zur Post gegeben worden ist. Dem BFH-Beschluß vom 28. Februar 1985 VIII R 261/84 (BFH/NV 1986, 30) zufolge besagt die Eintragung im Portobuch nichts darüber, wann und von wem die Sendung zur Post gegeben worden ist. Entsprechendes muß erst recht von dem Datum gelten, das ein Schriftstück trägt.
cc) Der fristgerechte Vortrag von Tatsachen, die die Annahme unverschuldeter Versäumnis der Einspruchsfrist rechtfertigen, war auch nicht deshalb entbehrlich, weil derartige Tatsachen offenkundig oder amtsbekannt waren. Nach Lage der Akten stand nur fest, daß ein das Datum 20. Dezember 1979 tragendes Schreiben ausweislich des Eingangsstempels am 28. Dezember 1979 beim FA eingegangen ist. Mangels beiliegenden Umschlags konnte die zur Beurteilung der Rechtzeitigkeit des Einspruchs berufene Person nicht ersehen, wann und wie dieses Schreiben befördert worden ist. Es konnten daher auch nicht - etwa aus einem leserlichen Poststempel - Schlüsse gezogen werden, die ein der Klägerin nicht zurechenbares Botenverschulden wahrscheinlich machten.
Auf den rechtzeitigen Vortrag von Wiedereinsetzungsgründen konnte auch nicht deshalb verzichtet werden, weil sich diese, wenn der Umschlag zu den Akten genommen worden wäre, möglicherweise, ggf. mit nachträglichen Erläuterungen, aus dem Umschlag ergeben hätten. Die Ausnahme vom Erfordernis fristgerechten eigenen Tatsachenvortrags des Säumigen trägt dem Umstand Rechnung, daß reiner Formalismus betrieben würde, wenn der entscheidungsbefugten Person Tatsachen innerhalb bestimmter Frist unterbreitet werden müßten, die ihr ohnehin bekannt sind. Das Gleichstellen offenkundiger mit möglicherweise vorliegenden Wiedereinsetzungstatsachen in Fällen, wie dem vorliegenden, würde hingegen entweder zu einer Aushöhlung der Antragsfrist oder zum Erfordernis umfangreicher Beweissicherung durch das FA führen. Letztere ist bei dem massenhaften Posteingang eines FA und den im Verhältnis hierzu seltenen Fällen fristgebundener Schriftsätze mit aus dem Poststempel offenbar ersichtlicher überlanger Postlaufzeit nicht zumutbar. Insbesondere wird dem Steuerpflichtigen sein Recht auf materielle Überprüfung nicht dadurch unangemessen verkürzt, daß er bei erkannter Säumnis in aller Regel auf fristgerechten eigenen Vortrag von Wiedereinsetzungsgründen verwiesen wird (vgl. auch BFH-Beschluß vom 20. Februar 1990 VII R 125/89, BFHE 160, 573, BStBl II 1990, 546 unter II 3 a).
c) Der Senat kann in der Sache entscheiden. Da innerhalb der Frist des § 110 Abs. 2 AO 1977 durchgreifende Wiedereinsetzungsgründe nicht dargelegt worden sind, hat das FA den Einspruch zu Recht als unzulässig verworfen.
Fundstellen
Haufe-Index 422791 |
BFH/NV 1991, 140 |