Leitsatz (amtlich)
Hat das FA durch Übersendung der Anlage mit Erläuterungen zum Einkommensteuerbescheid 1972 den Anschein erweckt, als ob es den Einkommensteuerbescheid 1972 habe bekanntgeben wollen, so ist der dagegen erhobene Einspruch zulässig, auch wenn der restliche Teil des Bescheids erst später zugestellt wird.
Normenkette
AO 1977 §§ 118, 157 Abs. 1, §§ 347, 348 Abs. 1 Nr. 1; AO § 210b Abs. 1 S. 1, § 229 Nr. 1, § 236 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Am 27. September 1974 übersandte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) den Klägern und Revisionsklägern (Kläger), die zur Einkommensteuer zusammenveranlagt wurden, den Einkommensteuerbescheid 1973. Dem Bescheid war die "Anlage zum Einkommensteuerbescheid 1972" ("Erläuterungen zu den Steuerfestsetzungen") beigefügt.
Am 25. Oktober 1974 legten die Kläger -- vertreten durch ihren Prozeßbevollmächtigten -- Einspruch ein. Sie begründeten ihn wie folgt: "Von dem Einkommensteuerbescheid 1972 wurde nur die Anlage zugestellt, der Einkommensteuerbescheid 1973 erging ohne Erläuterungen. Nach Zugang der fehlenden Unterlagen werde ich meinen vorsorglich eingelegten Einspruch entweder zurückziehen oder näher begründen."
Am 15. Januar 1975 übersandte das FA den Klägern den Einkommensteuerbescheid 1972.
Mit Schriftsatz vom 4. März 1975 begründeten die Kläger die Einsprüche gegen die Einkommensteuerbescheide 1972 und 1973 in der Sache.
Mit Schreiben vom 28. November 1975 teilte das FA dem Steuerberater der Kläger mit, der Einspruch vom 25. Oktober 1974 gegen den Einkommensteuerbescheid 1972 vom 15. Januar 1975 stelle keine rechtswirksame Einlegung eines Rechtsbehelfs dar, da der Einkommensteuerbescheid zuvor noch nicht bekanntgegeben und die Rechtsbehelfsfrist nicht in Gang gesetzt gewesen sei (Urteil des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 13. Dezember 1973 I R 143/73, BFHE 112, 107, BStBl II 1974, 433).
Am 6. Januar 1976 erinnerte das FA an die Erledigung seines Schreibens vom 28. November 1975. Daraufhin beantragte der Prozeßbevollmächtigte der Kläger mit Schreiben vom 27. Januar 1976 die Gewährung von Nachsicht. Der Prozeßbevollmächtigte teilte mit, er habe angenommen, das Original des Steuerbescheids 1972 sei bei den Klägern verlorengegangen, da sie ihm nur die Anlage ausgehändigt hätten. Die bekanntgegebene Anlage stelle jedoch einen anfechtbaren Teil des Bescheids dar. Hilfsweise beantrage er Nachsicht wegen Versäumung der Rechtsbehelfsfrist, denn er habe nach den Umständen annehmen müssen, rechtswirksam Einspruch eingelegt zu haben.
Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig. Die Gewährung von Nachsicht lehnte es ab, weil es die Versäumung der Einspruchsfrist für nicht entschuldbar ansah. Darüber hinaus sei die Zweiwochenfrist für den Antrag auf Nachsichtgewährung gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 der Reichsabgabenordnung (AO) nicht gewahrt.
Mit der Klage trug der Prozeßbevollmächtigte der Kläger vor, er habe den im Anschluß an die Anlage übersandten Steuerbescheid als zweite Ausfertigung angesehen.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es hielt die Klage für unzulässig, da die Kläger gegen den streitigen Steuerbescheid nicht rechtswirksam Einspruch eingelegt hätten. Die vom FA bereits am 27. September 1974 übersandte Anlage zum Steuerbescheid 1972 sei keine Bekanntgabe eines Steuerverwaltungsaktes. Nachsicht sei nicht zu gewähren, denn der Prozeßbevollmächtigte habe die versäumte Rechtshandlung, nämlich Einspruch einzulegen -- selbst bei weitester Auslegung des Schreibens vom 4. März 1975 --, nicht nachgeholt. Vielmehr sei der Prozeßbevollmächtigte, wie auch der spätere Sachvortrag gezeigt habe, zunächst davon ausgegangen, er habe bereits rechtswirksam Einspruch eingelegt. Infolgedessen sei der am 27. Januar 1976 enthaltene Nachsichtantrag nicht innerhalb der Ausschlußfrist des § 86 Abs. 2 Satz 1 AO gestellt worden. Im Streitfall sei nicht ersichtlich, daß der Prozeßbevollmächtigte, dessen Verhalten sich die Kläger zurechnen lassen müßten (§ 86 Abs. 1 Satz 2 AO), ohne Verschulden an der Einhaltung der Antragsfrist gehindert gewesen sei.
Der erkennende Senat hat auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger die Revision zugelassen.
Mit ihrer Revision beantragen die Kläger sinngemäß die Herabsetzung der Einkommensteuer entsprechend ihrer Rechtsauffassung in den von ihnen aufgeworfenen materiell-rechtlichen Fragen.
Das FA beantragt die Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß in dem Zeitpunkt, in dem die Kläger Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 1972 eingelegt haben, ein Einkommensteuerbescheid 1972 nicht vorlag. Ein Einkommensteuerbescheid (§ 210 b Abs. 1 Satz 1 AO) war nach dem Recht der AO, das im vorliegenden Fall noch maßgebend ist, schriftlich zu erteilen. Steuerbescheide, die nach den Steuergesetzen schriftlich zu erteilen waren, mußten die Höhe der Steuer enthalten (§ 211 AO). Zur wirksamen Erteilung war die Bezeichnung des Steuerschuldners, die betragliche Festsetzung der Steuer und die Bekanntgabe des Steuerbescheids erforderlich. Nach dem Recht der Abgabenordnung (AO 1977) wird ein Einkommensteuerbescheid dadurch erteilt, daß das FA die Einkommensteuer betraglich festsetzt -- die Steuer also nach Art und Betrag bezeichnet --, angibt, wer die Einkommensteuer schuldet, und den so erlassenen Verwaltungsakt bekanntgibt (§ 157 Abs. 1 AO; vgl. dazu Koch, Abgabenordnung -- AO 1977, 2. Aufl., 1979, § 157 Rz. 13). In diesem Kernbereich der Einkommensteuerfestsetzung ist das Verfahrensrecht unverändert geblieben. Gegen den Einkommensteuerbescheid war und ist als Rechtsbehelf der Einspruch gegeben (§ 229 Nr. 1 AO, jetzt §§ 347, 348 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977). Auch insoweit ist keine Änderung der Rechtslage eingetreten.
Die den Klägern am 27. September 1974 übersandte Anlage zum Einkommensteuerbescheid 1972 war keine Bekanntgabe eines Einkommensteuerbescheids 1972. Das FA hat jedoch durch die Übersendung der Anlage zum Einkommensteuerbescheid 1972 den Anschein erweckt, als ob es den Einkommensteuerbescheid 1972 -- wenn auch verunglückt -- habe bekanntgeben wollen. Für die Kläger konnte unklar sein, ob ein oder zwei Einkommensteuerbescheide vorlagen. Sie konnten davon ausgehen, daß das FA die Einkommensteuerfestsetzung 1972 durchgeführt und dabei für die Kläger nachteilige Entscheidungen getroffen hatte, wie das in den Erläuterungen dargelegt worden war, und daß das FA diese für die Steuerfestsetzung bedeutsamen Tatsachen hatte bekanntgeben wollen. Bei dieser Sachlage hatten die Kläger -- anders als in dem Falle des Urteils in BFHE 112, 107, BStBl II 1974, 433 -- ein Schriftstück in Händen, das als Teil des Einkommensteuerbescheids 1972 angesehen werden konnte. Geht einem Steuerpflichtigen ein Teil eines Einkommensteuerbescheids zu, ist der gegen den Einkommensteuerbescheid eingelegte Einspruch wirksam. Der Senat teilt die Auffassung des FG Berlin im Urteil vom 24. Januar 1978 V 297/77 (rechtskräftig, nicht revisibel; Entscheidungen der Finanzgerichte -- EFG -- 1978, 470 Nr. 499), daß der Steuerpflichtige nicht darauf verwiesen werden kann, den Zugang des restlichen Teils des Einkommensteuerbescheids abzuwarten, bevor er wirksam Einspruch einlegen kann, und daß es nicht zumutbar ist, ihm das Verfahrensrisiko aufzubürden, ob ein ihm zugegangenes Schriftstück, das die Einkommensteuerfestsetzung eines bestimmten Veranlagungszeitraums betrifft, bereits ein anfechtbarer Einkommensteuerbescheid ist oder infolge seiner Mangelhaftigkeit keiner Beseitigung bedarf. Lag ein Einspruch vor, wurde das durch ihn ausgelöste Rechtsbehelfsverfahren nicht dadurch beendigt, daß das FA den Klägern vor einer Entscheidung über den Rechtsbehelf den vollständigen Einkommensteuerbescheid 1972 zusandte. Die Kläger brauchten in diesem Fall ihren bereits vorliegenden Einspruch nicht zu wiederholen. Die vom FA und FG angenommene Säumnis liegt demzufolge nicht vor.
Der Senat vermag in der Sache selbst mangels tatsächlicher Feststellung nicht zu entscheiden (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --).
Fundstellen
Haufe-Index 74664 |
BStBl II 1983, 543 |
BFHE 1982, 544 |