Entscheidungsstichwort (Thema)
Verjährung von Haftungsschulden
Leitsatz (NV)
1. Gegen Steuerschuldner und Haftungsschuldner laufen getrennte Verjährungsfristen. Die Voraussetzungen der Verjährung für jeden der beiden Ansprüche ist also gesondert zu prüfen.
2. Die Verjährungsfristen im Fall der Haftung nach § 113 AO bestimmen sich nicht nach den zivilrechtlichen Vorschriften, sondern nach Steuerrecht.
Normenkette
AO §§ 113, 144 Abs. 1 S. 1, § 145 Abs. 2 Nr. 1; AO 1977 § 191 Abs. 4
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger war Komplementär einer KG. Diese stellte ihre Tätigkeit 1970 wegen finanzieller Schwierigkeiten ein. Zu einem Konkursverfahren kam es nicht. Am 6. Juli 1972 wurde die KG im Handelsregister gelöscht. Durch vorläufigen USt-Bescheid 1970 vom 4. Juli 1972 setzte das FA die USt auf 0 DM fest. Dieser Bescheid beruhte auf einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, da die KG trotz Aufforderung durch das FA keine USt-Erklärung abgegeben hatte. Nach einer 1973 durchgeführten Betriebsprüfung verfügte das FA am 10. Januar 1974 die endgültige USt-Festsetzung für 1970 in Höhe von 99 388,35 DM. Es versandte einen entsprechenden Umsatzsteuerbescheid am 21. Januar 1974 an die X-KG, z. Hd. Frau D. . . Da die Zwangsvollstreckung gegen die KG erfolglos verlaufen war, nahm das FA den Kläger durch einen auf § 113 der Reichsabgabenordnung (AO) und § 128 HGB gestützten Haftungsbescheid vom 15. November 1977 für Umsatzsteuer 1970 in der genannten Höhe und für Säumniszuschläge in Höhe von 10 923 DM in Anspruch. Auf die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hob das FG den Haftungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf. Zur Begründung führte es im wesentlichen folgendes aus:
Der Haftungsanspruch gegen den Kläger sei im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheides bereits verjährt gewesen. Die Verweisung des § 113 AO auf das bürgerliche Recht regle nicht nur die Entstehung des Haftungsanspruches, sondern die persönliche Haftung der einzelnen Gesellschafter insgesamt. Die Verjährung eines auf bürgerlichem Recht beruhenden Haftungsanspruchs sei daher ausschließlich nach Zivilrecht zu beurteilen. Im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids sei die Verjährungsfrist des § 159 Abs. 1 und 2 HGB bereits abgelaufen gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, soweit sie nicht rechtskräftig geworden ist, und zur Zurückverweisung der Sache insoweit an das FG.
1. Der rechtliche Ausgangspunkt des FG ist nicht zu beanstanden. Die Frage, ob der Kläger als Haftender für Steuerschulden der KG in Anspruch genommen werden kann, entscheidet sich noch nach dem Recht der Reichsabgabenordnung; denn der haftungsbegründende Tatbestand ist vor dem 1. Januar 1977 verwirklicht worden (Art. 97 § 11 EGAO 1977). Wo Gesellschaften als solche der Besteuerung unterliegen, gelten für die persönliche Haftung der einzelnen Gesellschafter sinngemäß die Vorschriften des bürgerlichen Rechts (§ 113 AO). Nach § 161 Abs. 2 i.V.m. § 128 HGB haften die Gesellschafter einer KG für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft den Gläubigern als Gesamtschuldner persönlich.
2. Zu Unrecht hat das FG jedoch entschieden, der Haftungsanspruch gegen den Kläger sei im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids verjährt gewesen.
a) Gegen Steuerschuldner und Haftungsschuldner laufen getrennte Verjährungsfristen; die Voraussetzungen der Verjährung für jeden der beiden Ansprüche ist also gesondert zu prüfen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 11. Juli 1979 VII R 64/76, BFHE 128, 567, BStBl II 1980, 33).
b) Die Verjährungsfristen im Falle einer Haftung nach § 113 AO bestimmen sich nicht nach den zivilrechtlichen Vorschriften, sondern nach Steuerrecht.
§ 113 AO ist ein eigener steuerrechtlicher Haftungstatbestand. Die Haftung ergibt sich aus den nur ,,sinngemäß" anzuwendenden Vorschriften des bürgerlichen Rechts. Die Rechtsgrundlage der Haftung liegt also in der Regelung des § 113 AO und nicht in den Vorschriften des Zivilrechts. Die sinngemäße Anwendung dieses Rechts betrifft lediglich einen Teil der materiell-rechtlichen Seite der Haftung, d. h. die Frage, ob und inwieweit ein Anspruch gegenüber den einzelnen Gesellschaftern persönlich geltend gemacht werden kann (vgl. Kühn/Kutter, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 113 AO Anm. 3; Hübschmann/ Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 1. bis 6. Aufl., § 113 AO Anm. 8; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 113 AO Anm. 1; Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung, Kommentar, 9. Aufl. [1963], § 113 Anm. 2).
Aus dem Vorstehenden ergibt sich zwar noch nicht ohne weiteres, daß sich die Verjährung des Haftungsanspruchs nicht ebenfalls nach den bürgerlich-rechtlichen Vorschriften richtet. Der Wortlaut des § 113 AO schließt das nicht aus. Aus seinem Sinn und Zweck und seiner systematischen Stellung muß aber der Schluß gezogen werden, daß für die Verjährung des Anspruchs Steuerrecht maßgebend ist.
§ 113 AO ist ein steuerrechtlicher Haftungstatbestand. Das Steuerrecht hat eigene, den besonderen Belangen des Steuerrechts entsprechende Verjährungsvorschriften (§§ 143 ff. AO). Nach § 97 Abs. 2 AO gelten diese Vorschriften ebenso wie die anderen Steuervorschriften sinngemäß auch für Personen, die nach den Steuergesetzen haften. Es besteht kein Grund, weswegen es bei Haftungsschuldnern nach § 113 AO - die ebenfalls nach den Steuergesetzen haften - anders sein sollte. Die Verweisung auf die sinngemäße Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften kann sich daher nur auf die materiell-rechtliche Seite der Haftung beziehen. Der Haftungsanspruch aus § 113 AO verjährt somit nach den Vorschriften des Steuerrechts (Kühn/Kutter, a.a.O.; gleicher Ansicht sind offenbar auch die anderen oben zitierten Stimmen aus der Literatur, die das Problem zwar nicht ausdrücklich ansprechen, aber alle betonen, daß eine steuerrechtliche Haftung vorliege, und teilweise betonen, daß die Verweisung auf das bürgerliche Recht nur die materiell-rechtliche Seite der Haftung betrifft).
Durch Urteil vom 13. Oktober 1983 I R 155/79 (BFHE 140, 6, BStBl II 1984, 286) hat der I. Senat des BFH entschieden, die Frage der Verjährung eines auf § 419 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gestützten Anspruchs auf Haftung für Körperschaftsteuer entscheide sich nach den bürgerlich-rechtlichen Verjährungsvorschriften. Dieses Urteil steht der im Vorabsatz vertretenen Auffassung nicht entgegen. Während im vom I. Senat entschiedenen Fall der Haftungsanspruch auf den unmittelbar (nicht nur sinngemäß) anzuwendenden Vorschriften des Zivilrechts beruht (vgl. auch § 120 AO), macht das FA im vorliegenden Fall einen eigenständigen steuerrechtlichen Anspruch geltend.
Auf die Neuregelung des § 191 Abs. 4 AO 1977 kann sich der Kläger nicht berufen. Dort ist zwar geregelt, daß Haftungsansprüche, die sich aus dem bürgerlichen Recht ergeben, auch nach diesem Recht verjähren. Diese Vorschrift ist aber nach Art. 97 § 11 EGAO 1977 im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Sie kann auch nicht als eine rein deklaratorische Bestätigung der vor dem 1. Januar 1977 geltenden Rechtslage angesehen werden. Diese Rechtslage unterschied sich gerade von der nach der AO 1977 geltenden dadurch, daß es damals den steuerrechtlichen Haftungstatbestand des § 113 AO gab. Diese Vorschrift ist jedoch in die AO 1977 nicht wieder aufgenommen worden.
c) Der Haftungsanspruch gegen den Kläger verjährt also nach den sinngemäß anzuwendenden Vorschriften der §§ 143 ff. AO. Nach § 144 Abs. 1 AO beträgt die Verjährungsfrist bei der Umsatzsteuer fünf Jahre. Da nach den Feststellungen des FG die KG im vorliegenden Fall eine Steuererklärung für die Umsatzsteuer 1970 nicht abgegeben hat, begann die Verjährung mit Ablauf des dritten Jahres, das auf die Entstehung der Steuerschuld folgte (§ 145 Abs. 2 Nr. 1 AO). Schon aus diesen Vorschriften ergibt sich, daß im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids vom 15. November 1977 eine Verjährung des Haftungsanspruchs noch nicht eingetreten war. Es bedarf daher nicht der Prüfung der Frage, ob der Ablauf der Verjährung etwa dem Kläger gegenüber gehemmt war.
d) Der Haftungsanspruch ist auch nicht verwirkt. Die zeitliche Grenze für die Haftung ist durch den Gesetzgeber über die Verjährung festgelegt worden. Eine Verwirkung vor Ablauf der Verjährungsfrist kann nur bei Vorliegen besonderer Umstände in Betracht kommen. Die bloße Untätigkeit des FA reicht dabei in der Regel nicht aus. Es muß vielmehr ein Verhalten des FA hinzukommen, das geeignet war, im Kläger das Vertrauen darauf zu wecken, daß der Haftungsanspruch nicht mehr geltend gemacht würde (vgl. BFH-Urteile vom 22. Mai 1984 VIII R 60/79, BFHE 141, 211, 219 ff., und vom 28. Februar 1973 II R 57/71, BFHE 109, 164, BStBl II 1973, 573, jeweils mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des BFH). Solche Umstände sind im vorliegenden Fall nicht erkennbar. Der Kläger beruft sich offenbar auch nicht darauf, seine Inanspruchnahme verstoße gegen den Grundsatz der Verwirkung.
3. Da die Vorentscheidung auf einem Rechtsfehler beruht, war sie aufzuheben. Der Senat kann jedoch in der Sache nicht selbst entscheiden.
Der Kläger kann als Haftender für die Umsatzsteuer nicht (mehr) in Anspruch genommen werden, wenn die KG die Umsatzsteuer nicht (mehr) schuldet (vgl. BFH-Urteil vom 2. April 1981 V R 39/79, BFHE 133, 121, 126, BStBl II 1981, 627). Die Inanspruchnahme des Klägers setzt allerdings nicht voraus, daß die Steuerschuld gegenüber der KG festgesetzt worden ist (vgl. BFHE 109, 164, BStBl II 1973, 573, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung; Tipke/Kruse, a.a.O., § 97 AO Anm. 6 und 8 und § 118 AO Anm. 5). Der Umstand allein, daß der Steuerbescheid gegen die KG unter Umständen nicht rechtsgültig ergangen ist, steht also der Inanspruchnahme des Klägers nicht entgegen.
Das FG ist - von seinem Rechtsstandpunkt aus gesehen zu Recht - auf das Bestehen der Steuerschuld nicht eingegangen. Die Vorentscheidung enthält auch keine entsprechenden Feststellungen. Die Sache ist daher nicht entscheidungsreif. Sie war an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen, soweit die Vorentscheidung nicht (für die Säumniszuschläge) bestandskräftig geworden ist. Der Senat hielt es für angemessen, dem FG auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens zu übertragen (§ 143 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung).
Fundstellen
Haufe-Index 413815 |
BFH/NV 1986, 125 |