Leitsatz (amtlich)
Die Fristsetzung nach Art.3 § 3 Abs.1 VGFGEntlG dient nur der Beschleunigung der Sachverhaltsaufklärung, nicht jedoch als Druckmittel für die alsbaldige Bezeichnung des Streitgegenstands bzw. für die Vorlage einer Klagebegründung. Eine Ausschlußfrist darf deshalb erst gesetzt werden, wenn die Klage wirksam erhoben und die Rechtsverletzung i.S. des § 40 Abs.2 FGO ausreichend bezeichnet ist.
Orientierungssatz
1. Hatte das FG das rechtliche Gehör des Klägers in einer nicht mehr durch Art. 3 § 3 Abs. 2 VGFGEntlG gedeckten Weise dadurch eingeschränkt, daß es nach Ablauf der Ausschlußfrist (Art. 3 § 3 Abs. 1 VGFGEntlG) die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragene Klagebegründung und die angebotenen Beweismittel nicht mehr entgegennahm, so entspricht die Rüge dieses Verfahrensmangels dann den Anforderungen des § 120 Abs. 2 FGO, wenn der Kläger darlegt, daß und warum eine wirksame Ausschlußfrist nicht gesetzt worden ist und daß das FG die Entgegennahme der Klagebegründung und der Beweismittel nicht hätte ablehnen dürfen. Der Darlegung, daß das angefochtene Urteil auf dem gerügten Mangel beruht oder beruhen könnte, bedarf es wegen § 119 Nr. 3 FGO nicht.
2. Art. 103 Abs. 1 GG gibt den Beteiligten grundsätzlich das Recht darauf, daß sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Dem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern bei einer Entscheidung auch in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfG-Beschluß vom 10.10.1973 2 BvR 574/71). Das Grundrecht auf rechtliches Gehör gewährt allerdings keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Vortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht lassen. Ein entsprechendes Zurückverweisen verspäteten Vorbringens ist aber nur in den von den einschlägigen Verfahrensvorschriften gesetzten Grenzen zulässig.
Normenkette
VGFGEntlG Art. 3 § 3 Abs. 1-2; GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 120 Abs. 2, § 40 Abs. 2, § 119 Nr. 3
Tatbestand
I. Am 19.Juli 1982 erhob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) gegen den Beklagten und Revisionsbeklagten (das Finanzamt --FA--) Klage wegen Einkommensteuer 1976 bis 1978, Umsatzsteuer 1977 und 1978 und Einkommensteuer-Vorauszahlungen 1981 und 1982. Da die Klage zunächst nicht begründet wurde, setzte der zuständige Berichterstatter dem Kläger eine Frist gemäß Art.3 § 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG), um eine den Anforderungen des § 65 der Finanzgerichtsordnung (FGO) genügende Klagebegründung abzugeben, insbesondere um sämtliche Tatsachen und Beweismittel vorzutragen und einen präzisen Klageantrag zu stellen. Die gesetzte Frist verstrich fruchtlos. Der Kläger trug erst in der mündlichen Verhandlung in groben Zügen vor, weshalb er sich durch die angefochtenen Steuerbescheide beschwert fühle. Das für Zwecke des Tatsachenvortrags und der Klagebegründung vom Kläger angebotene umfangreiche Schriftmaterial nahm das Finanzgericht (FG) unter Hinweis auf Art.3 § 3 Abs.2 VGFGEntlG nicht entgegen. Es wies die Klage ab, weil nicht festgestellt worden sei, daß die angefochtenen Verwaltungsakte des FA in materiell-rechtlicher Hinsicht Rechtsfehler enthielten. Die entsprechende Feststellung sei schon deshalb unmöglich gewesen, weil dem FG die entscheidungserheblichen Sachverhalte der Klage bei der Beratung über das Ergebnis der mündlichen Verhandlung nicht vorgelegen hätten. Das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung sei gemäß Art.3 § 3 Abs.2 VGFGEntlG als verspätet zurückzuweisen.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von Art.3 § 3 VGFGEntlG.
Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zwecks anderweitiger Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).
1. Das FG hat Art.103 Abs.1 des Grundgesetzes (GG) dadurch verletzt, daß es das rechtliche Gehör des Klägers in einer durch Art.3 § 3 Abs.2 VGFGEntlG nicht mehr gedeckten Weise eingeschränkt hat.
a) Die Rüge dieses Verfahrensmangels durch den Kläger entspricht den Anforderungen des § 120 Abs.2 FGO. Der Kläger hat die Tatsachen bezeichnet, die den Mangel ergeben. Dazu gehört die Darlegung, daß und warum eine wirksame Ausschlußfrist nicht gesetzt worden ist und daß das FG die Entgegennahme der Klagebegründung und der Beweismittel nicht hätte ablehnen dürfen. Der Darlegung, daß das angefochtene Urteil auf dem gerügten Mangel beruht oder beruhen könnte, bedarf es wegen § 119 Nr.3 FGO nicht.
b) Das FG war verpflichtet, die Klagebegründung des Klägers und die von ihm vorgelegten Urkunden noch in der mündlichen Verhandlung entgegenzunehmen. Art.103 Abs.1 GG gibt den Beteiligten grundsätzlich das Recht darauf, daß sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt zu äußern. Dem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Beteiligten nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern bei einer Entscheidung auch in Erwägung zu ziehen (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 10.Oktober 1973 2 BvR 574/71, BVerfGE 36, 92, 97). Das Grundrecht auf rechtliches Gehör gewährt allerdings keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Vortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht lassen. Ein entsprechendes Zurückweisen verspäteten Vorbringens ist aber nur in den von den einschlägigen Verfahrensvorschriften gesetzten Grenzen zulässig. Daran fehlt es im Streitfall, weil das FG Art.3 § 3 VGFGEntlG unzutreffend angewendet hat.
c) Nach Art.3 § 3 Abs.1 VGFGEntlG kann einem Beteiligten eine Frist gesetzt werden
1. zur Angabe der Tatsachen, die nach Auffassung des
Beteiligten bei der Entscheidung berücksichtigt
werden müssen,
2. zur Ergänzung der Angaben über bestimmte
klärungsbedürftige Punkte oder
3. zur Bezeichnung von Beweismitteln oder zur Vorlage
von Urkunden oder anderen zur Niederlegung bei
Gericht geeigneten Gegenständen, die sich auf bestimmte
klärungsbedürftige Punkte beziehen und zu deren
Vorlage der Beteiligte verpflichtet ist.
Die Vorschrift deckt eine Fristsetzung zur Abgabe einer Klagebegründung oder zur Stellung eines bestimmten Klageantrags nicht ab (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28.April 1982 I R 35/79, BFHE 136, 515, BStBl II 1983, 42, und vom 16.März 1983 IV R 147/80, BFHE 138, 143, BStBl II 1983, 476). Soll eine Frist zur Bezeichnung von Beweismitteln wirksam gesetzt werden, so bedarf es der Bezugnahme auf bestimmte aufklärungsbedürftige Tatsachen (vgl. BFH-Urteil vom 14.Januar 1981 I R 133/79, BFHE 132, 508, BStBl II 1981, 443). Ist eine Frist nach Art.3 § 3 Abs.1 VGFGEntlG wirksam gesetzt, so enthebt dies das Gericht nicht der Verpflichtung, eine durch verspätetes Vorbringen drohende Verzögerung in der Erledigung des Rechtsstreits durch vorbereitende Maßnahmen zu vermeiden (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs --BGH-- vom 13.März 1980 VII ZR 147/79, BGHZ 76, 236). Dazu gehört die Anforderung bzw. die Entgegennahme der den Streitfall betreffenden Akten der beteiligten Finanzbehörde (§ 71 Abs.2 FGO). Ggfs. muß das FG den Inhalt der Steuerakten zur Konkretisierung des Vorbringens der Beteiligten heranziehen.
d) Die in der Berichterstatterverfügung vom 23.September 1982 gesetzte Ausschlußfrist genügt den Anforderungen des Art.3 § 3 Abs.1 VGFGEntlG nicht. Nach den vom FG insoweit in tatsächlicher Hinsicht getroffenen Feststellungen, an die der Senat gemäß § 118 Abs.2 FGO gebunden ist, enthält die Verfügung in erster Linie die Aufforderungen, eine den Anforderungen des § 65 Abs.1 FGO genügende Klagebegründung abzugeben und einen präzisen Klageantrag zu stellen. Die gesetzte Ausschlußfrist ist durch Art.3 § 3 Abs.1 VGFGEntlG nicht abgedeckt. Sie ist insoweit unwirksam gesetzt und konnte die Rechtsfolge des Art.3 § 3 Abs.2 VGFGEntlG nicht auslösen.
Zwar enthielt die Verfügung vom 23.September 1982 auch die Aufforderung, "insbesondere sämtliche Tatsachen und Beweismittel vorzutragen". Diese Aufforderung war jedoch mit keiner Bezugnahme auf bestimmte aufklärungsbedürftige Tatsachen verbunden (vgl. BFHE 132, 508, BStBl II 1981, 443). Soweit sie deshalb auf die Bezeichnung von Beweismitteln gerichtet war, war die Ausschlußfrist ebenfalls unwirksam gesetzt.
Hinsichtlich der Angabe von Tatsachen war die Aufforderung objektiv widersprüchlich, weil sie nicht zu erkennen gab, ob der Vortrag von Tatsachen lediglich zur Klagebegründung oder aber zur Aufklärung eines dem Gericht unklaren Sachverhaltes verlangt wurde (vgl. BVerfG-Beschluß vom 9.Februar 1982 1 BvR 1379/80, BVerfGE 60, 1). Eine solche Klarstellung war aber notwendig, weil der Berichterstatter bei seiner Fristsetzung die Ziele des Art.3 § 3 Abs.1 Nr.1 und 2 VGFGEntlG berücksichtigen mußte. Die Vorschrift dient nur der Beschleunigung der Sachverhaltsaufklärung, nicht jedoch als Druckmittel für die alsbaldige Bezeichnung des Streitgegenstandes bzw. für die Vorlage einer Klagebegründung. Eine Frist nach Art.3 § 3 Abs.1 VGFGEntlG darf deshalb erst gesetzt werden, wenn die Klage wirksam erhoben und die Rechtsverletzung i.S. des § 40 Abs.2 FGO ausreichend bezeichnet ist. Eine Fristsetzung nach Art.3 § 3 Abs.1 Nr.1 oder 2 VGFGEntlG ist auch nur insoweit gerechtfertigt, als die Beteiligten die Angabe weiterer Tatsachen in Aussicht gestellt haben oder das Gericht eine solche Angabe für nützlich hält. Soweit sich dagegen Tatsachen bereits aus den Steuerakten ergeben, ist für eine Aufforderung und Fristsetzung zu ihrer Angabe gemäß Art.3 § 3 Abs.1 Nr.1 oder 2 VGFGEntlG kein Raum.
Läßt aber die Berichterstatterverfügung vom 23.September 1982 nicht erkennen, daß die Angabe von Tatsachen zur Beschleunigung der Sachverhaltsaufklärung gefordert wurde und in diesem Sinne durch die dem FG in Art.3 § 3 Abs.1 Nr.1 oder 2 VGFGEntlG eingeräumte Ermächtigung abgedeckt war, so ist die mit der Aufforderung verbundene Ausschlußfrist insgesamt nicht wirksam gesetzt. Damit fehlt es an der Voraussetzung, um das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem FG als verspätet zurückweisen zu können.
2. Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Die Vorentscheidung kann deshalb keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Dem Kläger ist Gelegenheit zu geben, seine Klage zu begründen. Das FG muß den Sachverhalt von Amts wegen aufklären (§ 76 Abs.1 Satz 1 FGO). Dazu muß es den Inhalt der Steuerakten im Rahmen des gestellten Klageantrags zur Kenntnis nehmen. Zu diesem Zweck wird die Sache an das FG zurückverwiesen.
Fundstellen
Haufe-Index 61375 |
BStBl II 1986, 753 |
BFHE 146, 573 |
BFHE 1986, 573 |
DStZ 1987, 623-624 (S) |
HFR 1986, 527-528 (ST) |