Entscheidungsstichwort (Thema)

Referenzmengenfestsetzung nach Art. 3 Nr. 3 VO Nr. 857/84; Kürzung der maßgebenden Anlieferungsmenge

 

Leitsatz (amtlich)

Ist ein Milcherzeuger berechtigt, nach Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 die Berücksichtigung eines anderen Jahres als 1983 für die Referenzmengenfestsetzung zu verlangen, so ist die maßgebende Anlieferungsmenge dennoch nach § 4 Abs.2 und 3 MGVO zu kürzen (Änderung der Rechtsprechung des BFH im Anschluß an die Rechtsprechung des EuGH).

 

Normenkette

EWGV 857/84 Art. 2, 3 Nr. 3; MilchGarMV § 4 Abs. 2-3

 

Verfahrensgang

FG Hamburg (Entscheidung vom 17.01.1989; Aktenzeichen IV 87/88 N)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Milcherzeuger. Er lieferte 1981 120 836 kg, 1983 101 160 kg Milch an seine Molkerei. Die zuständige Landwirtschaftskammer bescheinigte ihm am 24.September 1984, daß wegen außergewöhnlicher Ereignisse anstelle des Referenzjahres 1983 die Anlieferungsmenge des Kalenderjahres 1981 für die Berechnung der Anlieferungs-Referenzmenge zugrunde zu legen ist. Mit Schreiben vom 26.September 1984 teilte die Molkerei dem Kläger sowie dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt ―HZA―) mit, die Referenzmenge auf der Grundlage der Milchanlieferungen 1981 betrage 117 300 kg. Diese Menge ergab sich nach Abzug von 4 v.H. von der Anlieferungsmenge 1981 (vgl. § 4 Abs.2 Satz 1 der Milch-Garantiemengen-Verordnung ―MGVO―).

Mit Schreiben vom 17.September 1987 beantragte der Kläger beim HZA eine Neuberechnung der Referenzmenge, und zwar nach der Anlieferungsmenge 1981 zuzüglich 1 v.H. Das HZA lehnte dies mit Schreiben vom 17.November 1987 ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage in Abweichung vom Urteil des Senats vom 27.Januar 1987 VII R 86/86 (BFHE 148, 564) ab (Urteil vom 17.Januar 1989 IV 87/88 N, Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1989, 361).

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist nicht begründet. Das FG hat im Ergebnis zu Recht die Auffassung des HZA bestätigt, daß in Fällen, in denen ein Milcherzeuger berechtigt ist, nach Art.3 Nr.3 der Verordnung (EWG) Nr.857/84 (VO Nr.857/84) des Rates vom 31.März 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― L 90/13) die Berücksichtigung eines anderen Jahres als 1983 für die Referenzmengenfestsetzung zu verlangen, die entsprechende Anlieferungsmenge nach den Vorschriften des § 4 Abs.2 und 3 MGVO zu kürzen ist. An der dem entgegenstehenden Auffassung in seinem Urteil in BFHE 148, 564 hält der Senat nicht mehr fest.

Der Senat ist im Urteil in BFHE 148, 564 davon ausgegangen ―ebenso wie offenbar auch das FG in der Vorentscheidung―, daß Art.2 Abs.1 und Art.3 VO Nr.857/84 keine Regelung der Referenzmengenberechnung im Fall der besonderen Situation des Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 enthalten, sondern es den Mitgliedstaaten überlassen, ob und ggf. in welchem Umfang die Anlieferungsmenge des zu berücksichtigenden Referenzjahres erhöht oder vermindert werden soll. Der Senat kam auf dieser Grundlage zum Ergebnis, der deutsche Verordnungsgeber habe von dem ihm überlassenen Ausfüllungsspielraum keinen Gebrauch gemacht, und es sei daher Aufgabe des Senats ―wolle er den Kläger nicht rechtlos stellen―, diese Lücke im Wege richterlicher Rechtsfortbildung zu schließen; dabei orientierte er sich an der Regelung des Art.2 Abs.1 VO Nr.857/84. Daran hält der Senat jedoch nicht mehr fest, weil der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) inzwischen im genannten rechtlichen Ausgangspunkt durch Urteil vom 27.Juni 1989 Rs.113/88 (amtlich noch nicht veröffentlicht, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 1989, 514) anders entschieden hat.

In Nr.3 des Tenors dieses Urteils hat der EuGH entschieden, daß der Erzeuger, der sich auf Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 berufen darf, "nicht verlangen (kann), daß seine Referenzmenge nach seiner Wahl … nach Art.2 Abs.1 … auf der Grundlage der 1981 gelieferten Milch- oder Milchäquivalenzmenge zuzüglich 1 v.H. berechnet wird". Diese Entscheidung steht zwar ihrem Wortlaut nach der genannten Senatsauffassung nicht entgegen. Denn falls es zutrifft, daß die Mitgliedstaaten in der Regelung der Einzelheiten der Referenzmengenfestsetzung im Falle des Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 frei sind, kommt es allein darauf an, wie die Regelung des nationalen Verordnungsgebers aussieht bzw. auszulegen ist, d.h. der Milcherzeuger hätte in der Tat keinen Rechtsanspruch darauf, daß die für ihn festgesetzte Referenzmenge nach Art.2 Abs.1 VO Nr.857/84 berechnet wird, sondern könnte nur die Anwendung der ausfüllenden staatlichen Regelung verlangen. Den Gründen des EuGH-Urteils ist aber zu entnehmen, daß die Aussage des Urteils über das, was im Urteilstenor enthalten ist, hinausgeht. Nach den Absätzen 24 und 25 der Gründe des Urteils kann es keinem Zweifel unterliegen, daß nach Auffassung des EuGH die Mitgliedstaaten keine rechtliche Möglichkeit haben, für den Fall des Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 eine andere Berechnungsmethode zu wählen als die, für die sie sich in Anwendung des Art.2 Abs.1 VO Nr.857/84 entschieden haben. Ein Mitgliedstaat also, der wie die Bundesrepublik Deutschland das Kalenderjahr 1983 als Referenzjahr unter Anwendung bestimmter prozentualer Abzüge festgelegt hat, muß sich infolgedessen auch bei der Anwendung des Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 an die generell auf ein anderes Referenzjahr abgestimmten Abzugsprozentsätze halten.

Der Senat ist zwar befugt, den EuGH durch ein neuerliches Vorabentscheidungsersuchen um Überprüfung seiner Rechtsauffassung zu bitten (vgl. Absatz 15 der Gründe des EuGH-Urteils vom 6.Oktober 1982 Rs.283/81, EuGHE 1982, 3415). Er sieht jedoch keine Veranlassung, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Denn wenn auch nach Auffassung des Senats eine andere Auslegung von Art.2 Abs.1 und Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 zu einem für den Einzelfall gerechteren Ergebnis geführt hätte (vgl. die Ausführungen unter II. Nr.2 des Senatsurteils in BFHE 148, 564, 566 f.), muß es doch als vertretbar angesehen werden, die genannten Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in Anwendung der ―grundsätzlich zulässigen― typisierenden Betrachtungsweise so auszulegen, wie es der EuGH getan hat (vgl. auch Absatz 15 der Gründe des EuGH-Urteils vom 25.November 1986 Rs.201 und 202/85, EuGHE 1986, 3503, 3509, und Absätze 18 und 19 der Gründe des EuGH-Urteils vom 28.April 1988 Rs.61/87, EuGHE 1988, 2388, 2393 f.).

Nach allem ist davon auszugehen, daß der jeweilige Mitgliedstaat mit der Methodenwahl nach Art.2 Abs.1 VO Nr.857/84 auch die Berechnungsweise der Referenzmenge im Fall der besonderen Situation des Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84 festlegt. Demnach fehlt es insoweit an einem Entscheidungsspielraum des nationalen Verordnungsgebers. Einer Auslegung der MGVO bzw. der Ausfüllung einer etwaigen Lücke im nationalen Recht durch richterliche Rechtsfortbildung bedarf es also nicht. Die Berechnungsmethode des § 4 Abs.2 und 3 MGVO gilt vielmehr kraft Gemeinschaftsrechts auch für die Referenzmengenfestsetzung im Falle des Art.3 Nr.3 VO Nr.857/84.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63065

BFH/NV 1990, 87

BFHE 162, 153

BFHE 1991, 153

BB 1990, 2255 (L)

StE 1990, 432 (K)

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