Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine zeitanteilige Ermäßigung der Steuermeßzahl ab 1980; Vertrauensschutz gem. § 176 Abs. 2 AO 1977 auch bei unter Vorbehalt ergangenen Bescheiden
Leitsatz (NV)
1. Ab dem Erhebungszeitraum 1980 ist die Vergünstigung des § 13 Abs. 3 GewStG nicht mehr zeitanteilig zu gewähren (Änderung der Rechtslage).
2. Die Einschränkung der Änderungsbefugnis gemäß § 176 Abs. 2 AO 1977 ist auch bei der Aufhebung oder Änderung von Bescheiden zu beachten, die unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO 1977) stehen.
3. § 176 Abs. 2 AO 1977 bezieht sich nicht nur auf Fälle, in denen ein oberster Gerichtshof des Bundes eine allgemeine Verwaltungsvorschrift ausdrücklich als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet, sondern auch auf solche Entscheidungen, in denen dies sinngemäß zum Ausdruck kommt.
Normenkette
EStG § 34c Abs. 4; GewStG § 13 Abs. 3; AO 1977 §§ 164, 176 Abs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt das Motorschiff MS, welches im Streitjahr 1980 ebenso wie in den vorangegangenen Jahren im internationalen Verkehr eingesetzt war. Das Schiff fuhr zunächst unter der Flagge der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik). Seit dem 14. August 1980 fuhr es unter der Flagge Panamas, blieb aber weiterhin im deutschen Seeschiffsregister eingetragen.
Am 5. November 1982 erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) in Abänderung vorangegangener unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehender Bescheide einen Gewerbesteuermeßbescheid 1980. Der Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) wurde aufrechterhalten. Bei der Berechnung des Steuermeßbetrags nach dem Gewerbekapital hatte das FA gemäß § 13 Abs. 3 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) die ermäßigte Steuermeßzahl von 1 v. T. auf den im Einheitswert des Betriebs enthaltenen Schiffswert angewendet.
Am 9. Februar 1983 änderte das FA den Bescheid 1980 vom 5. November 1982 unter Berufung auf § 164 AO 1977, indem es den Gewerbesteuermeßbetrag nach dem Gewerbekapital erhöhte mit der Begründung, daß die ermäßigte Steuermeßzahl auf das Gewerbekapital nur anteilig für den Zeitraum zu gewähren sei, in dem das Schiff unter deutscher Flagge gefahren sei (197 Tage). Das FA berief sich auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 22. April 1982 IV R 216/79 (BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609).
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin rechtzeitig Einspruch ein, mit dem sie geltend machte, daß die vorgenannte Entscheidung des BFH nicht anwendbar sei, zumindest aber die ermäßigte Steuermeßzahl für einen Zeitraum von 226 Tagen zu gewähren sei. Daraufhin änderte das FA am 8. März 1983 den Gewerbesteuermeßbescheid 1980 erneut, indem es die ermäßigte Steuermeßzahl für einen Zeitraum von 226 Tagen der Berechnung des Steuermeßbetrags nach dem Gewerbekapital zugrunde legte, soweit in diesem der Schiffswert enthalten war. Im übrigen wies das FA den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 28. September 1983 als unbegründet zurück.Die Klage blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, daß ebenso wie bei der Einflaggung auch bei der Ausflaggung eines Schiffs die Steuerbegünstigung des § 13 Abs. 3 GewStG nur zeitanteilig zu gewähren sei. Der gleichlautende Erlaß der obersten Finanzbehörden der Länder vom 1. April 1977 (BStBl I 1977, 194) binde die Gerichte nicht. Die Auslegung gesetzlicher Vorschriften sei allein Sache der Gerichte, nicht der Behörden. Die Klägerin genieße auch nicht Vertrauensschutz gemäß § 176 Abs. 2 AO 1977. Diese Vorschrift sei deshalb nicht anwendbar, weil der BFH im Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609, welches das FA zur Änderung des Gewerbesteuermeßbescheids 1980 veranlaßt habe, den gemeinsamen Ländererlaß vom 1. April 1977 in keiner Weise erwähnt habe; eine solche Erwähnung sei nach Sachlage auch nicht erforderlich gewesen.
Mit der Revision rügt die Klägerin die unzutreffende Anwendung des § 13 Abs. 3 GewStG sowie des § 176 Abs. 2 AO 1977. Sie beantragt, das Urteil des FG sowie die einheitlichen Gewerbesteuermeßbescheide 1980 vom 8. März 1983 und vom 9. Februar 1983 sowie die Einspruchsentscheidung vom 28. September 1983 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Es beruft sich im wesentlichen auf die Gründe des Urteils in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609. Ergänzend wird vorgetragen, daß § 176 Abs. 2 AO 1977 deshalb nicht eingreife, weil der gleichlautende Ländererlaß vom 1. April 1977 keine Regelung für die Fälle der Ein- und Ausflaggung enthalte.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils, der Einspruchsentscheidung vom 28. September 1983 sowie der geänderten Gewerbesteuermeßbescheide vom 8. März 1983 und vom 9. Februar 1983 (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1. Das FG ist zu Recht (stillschweigend) davon ausgegangen, daß die Sachurteilsvoraussetzungen vorliegen. Zwar hat die Klägerin gegen den Bescheid vom 8. März 1983 keinen Einspruch eingelegt. Dies führte indes nicht zur Bestandskraft dieses Bescheids. Denn da der Bescheid vom 8. März 1983 den Bescheid vom 9. Februar 1983 änderte und nur eine Teilerledigung des Einspruchs der Klägerin gegen den Bescheid vom 9. Februar 1983 darstellte, wurde er gemäß § 365 Abs. 3 AO 1977 Gegenstand des Rechtsbehelfsverfahrens.
2. Die Klägerin hat einen Rechtsanspruch auf die uneingeschränkte Gewährung der Vergünstigung des § 13 Abs. 3 GewStG in der im Streitjahr 1980 geltenden Fassung.
Eine zeitanteilige Gewährung der in dieser Vorschrift vorgesehenen Vergünstigung, so wie sie nach der in den Jahren 1974 (vgl. Urteil des Senats vom 15. Juli 1986 VIII R 269/81, BFH / NV 1986, 696) und 1976 (vgl. Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609) bestehenden Rechtslage geboten erschien, kann im Erhebungszeitraum 1980 nicht mehr in Betracht kommen. Denn die Rechtslage hat sich seit der für 1980 erstmals geltenden Fassung des § 34 c Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geändert.
Gemäß § 13 Abs. 3 GewStG in der für das Streitjahr 1980 geltenden Fassung ermäßigt sich die Steuermeßzahl bei Unternehmen, soweit sie den Betrieb von Schiffen der in § 34 c Abs. 4 EStG bezeichneten Art zum Gegenstand haben, auf 1 v. T. Die Bezugnahme dieser Vorschrift auf § 34 c Abs. 4 EStG erfordert einen Rückgriff auf die in dieser Norm enthaltene Definition. Dabei ist davon auszugehen, daß § 34 c Abs. 4 EStG in seiner jeweils geltenden Fassung zugrunde zu legen ist. Ab dem Erhebungszeitraum 1980 waren ,,Schiffe der in § 34 c Abs. 4 EStG bezeichneten Art" solche, die im Wirtschaftsjahr ,,überwiegend" in einem inländischen Seeschiffsregister eingetragen sind und die Flagge der Bundesrepublik führen und in diesem Wirtschaftsjahr ,,überwiegend" weitere - im vorliegenden Falle unstreitig gegebene - Voraussetzungen erfüllen. Das Wort ,,überwiegend" war in § 34 c Abs. 4 EStG in der 1974 und 1976 geltenden Fassung noch nicht enthalten.
Das Motorschiff MS war im Erhebungszeitraum 1980 ein ,,Schiff der in § 34 c Abs. 4 EStG bezeichneten Art" (§ 13 Abs. 3 GewStG). Denn es erfüllte die in § 34 c Abs. 4 EStG im übrigen genannten Voraussetzungen im Wirtschaftsjahr 1980 überwiegend, nämlich an 226 von 366 Tagen.
Wegen dieser ,,überwiegenden" Erfüllung der Voraussetzungen des § 34 c Abs. 4 EStG war das Schiff in vollem Umfange, d. h. ganzjährig, ein Schiff der in § 34 c Abs. 4 EStG bezeichneten Art. Es ist damit für die Gewerbesteuer davon auszugehen, daß die Voraussetzungen des § 13 Abs. 3 GewStG in der im Erhebungszeitraum 1980 geltenden Fassung während des gesamten Erhebungszeitraums 1980 vorgelegen haben. Für eine auch nur sinngemäße Anwendung des § 13 Abs. 4 GewStG 1980 (zeitanteilige Quotelung), wie sie während der vor 1980 geltenden Gesetzeslage geboten erschien (vgl. Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609), verbleibt mithin kein Raum.
3. Selbst wenn man indes der vom FG vertretenen Auffassung und auch der in den Gewerbesteuer-Richtlinien (GewStR) noch für den Erhebungszeitraum 1984 festgelegten Regelung folgen wollte und eine zeitanteilige Gewährung der Vergünstigung des § 13 Abs. 3 GewStG entsprechend dem Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609 für Rechtens hielte, wären die angefochtenen Bescheide aufzuheben. Denn das FA war gemäß § 176 Abs. 2 AO 1977 an dem Erlaß dieser Bescheide gehindert.
a) § 176 Abs. 2 AO 1977 gilt auch im Verhältnis zu § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 (im Schrifttum weit überwiegend vertretene Meinung, siehe u. a. Förster in Koch, Abgabenordnung, Kommentar, 3. Aufl., § 176 Anm. 2; Klein / Orlopp, Abgabenordnung, 3. Aufl., § 176 Tz. 2; Kühn / Kutter / Hofmann, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 176 AO Anm. 1; Tipke / Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 176 Anm. I, 1; v. Wallis in Hübschmann / Hepp / Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 176 AO Tz. 3; a. A. Rössler, Betriebs-Berater - BB - 1981, 842; FG Rheinland-Pfalz, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1981, 511; offenlassend BFH-Urteil vom 31. März 1987 IX R 111/86, BFHE 150, 7, BStBl II 1987, 668).
Zwar könnte die systematische Stellung der Vorschrift im Abschnitt ,,III. Bestandskraft" des Gesetzes dafür sprechen, daß nur die in diesem Abschnitt geregelten Aufhebungs- und Änderungsbescheide erfaßt werden sollen. Zu diesen gehört der Änderungsbescheid nach § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 nicht. Auch spricht das Wesen des vorläufigen Bescheids, der häufig ohne gründliche Rechtsprüfung lediglich nach Maßgabe der Steuererklärungen erlassen wird, dafür, die spätere endgültige Veranlagung als nicht durch den vorläufigen Bescheid präjudiziert erscheinen zu lassen.
Beide Überlegungen sind indes nicht gewichtig genug, um eine Auslegung der Vorschrift gegen ihren eindeutigen Wortlaut zu rechtfertigen. In § 164 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 wird die Formulierung ,,. . . kann die Steuerfestsetzung aufgehoben oder geändert . . . werden" verwendet. § 176 AO 1977 enthält die Wortfassung ,,bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids". Angesichts dieser Gleichheit der verwendeten Ausdrücke ,,aufheben" und ,,ändern" könnte eine restriktive Gesetzesauslegung des § 176 AO 1977 zuungunsten der Steuerpflichtigen allenfalls dann in Betracht gezogen werden, wenn sich die Sinnwidrigkeit der Anwendung dieser Vorschrift auf vorläufige Steuerbescheide geradezu aufdrängen würde. Dies ist nicht der Fall.
Hinzu kommt, daß auch in der Gesetzesbegründung davon ausgegangen wird, die Vorschrift solle für unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehende Bescheide gelten (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 155 zu § 157 des Entwurfs der AO 1977).
b) § 176 Abs. 2 Satz 1 AO ist einschlägig. Denn der den ursprünglichen Bescheid ändernde Verwaltungsakt beruht, wie sich aus seinem Inhalt ergibt, auf dem Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609. In diesem Urteil wurde sinngemäß der gleichlautende Ländererlaß vom 1. April 1977 (BStBl I 1977, 194), soweit er § 13 Abs. 3 GewStG betrifft, als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet.
Der Ländererlaß vom 1. April 1977 ist eine allgemeine Verwaltungsvorschrift i. S. von § 176 Abs. 2 AO 1977. In diesem Erlaß ist die streitige Rechtsfrage entgegen der Auffassung des FA in einer für die Klägerin günstigeren Weise als im Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609 geregelt. Denn Abschnitt I Abs. 1 des Erlasses legt das Kriterium der ,,überwiegenden" Führung der Bundesflagge allgemein und nicht nur für die Einkommensteuer fest. Dies folgt daraus, daß der Erlaß eigens ,,für die Anwendung der neuen Vorschriften" des GewStG, d. h. auch für die Anwendung des § 13 Abs. 3 GewStG ergangen ist und daß im Abschnitt ,,III. Gewerbekapital" auf Abschnitt I hingewiesen wird.
Der Anwendung des § 176 Abs. 2 AO 1977 steht nicht entgegen, daß das Urteil in BFHE 136, 123, BStBl II 1982, 609 keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Ländererlaß vom 1. April 1977 enthält, insbesondere, daß in dieser Entscheidung die im Erlaß enthaltenen Regelungen nicht ausdrücklich für gesetzwidrig erklärt wurden. Denn ausreichend für das Eingreifen des § 176 Abs. 2 AO 1977 ist, daß sich die sachlich-rechtlichen Aussagen der allgemeinen Verwaltungsanweisung einerseits und des Urteils des obersten Gerichtshofes des Bundes andererseits widersprechen.
Dies ergibt sich daraus, daß Grundgedanke der Vorschrift der Vertrauensschutz ist (vgl. BTDrucks VI/1982, a.a.O.; ferner Tipke / Kruse; a.a.O., § 176 AO 1977 Tz. 7; Urteil des BFH vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780). Der Adressat eines Steuerbescheides, der auf einer dem Steuerpflichtigen günstigen allgemeinen Verwaltungsanweisung beruht, soll darauf vertrauen können, daß es im Falle einer späteren Änderung dieses Bescheids ohne jede Ausnahme bei der Rechtsauslegung im Sinne der allgemeinen Verwaltungsanweisung verbleibt, und daß dies selbst dann gelten soll, wenn in der Zwischenzeit ein oberstgerichtliches Urteil ergangen ist, dem eine dem Steuerpflichtigen ungünstigere Rechtsauslegung zugrunde liegt. Aus dem Sinn dieser Regelung ist zu schließen, daß, wenn schon der ausdrückliche Richterspruch, die allgemeine Verwaltungsanweisung stehe nicht im Einklang mit dem Gesetz, keine Änderung des Bescheids zuungunsten des Steuerpflichtigen rechtfertigen kann, dies erst recht nicht in Betracht kommt, wenn das Urteil diese Aussage nur sinngemäß enthält.
Dies gilt auch dann, wenn der dem höchstrichterlichen Urteil zugrunde liegende Sachverhalt von dem ,,Änderungsfall" abweicht (hier: Einflaggung / Ausflaggung), die Rechtsgedanken des höchstrichterlichen Urteils (hier: die zeitanteilige Gewährung der Steuervergünstigung) aber in beiden Fällen eingreifen.
Auf Grund der hier gebotenen Folgerung kann es - entgegen der Auffassung des FG - auch nicht darauf ankommen, ob die im oberstgerichtlichen Urteil dargelegte Rechtsauffassung für jenen Streitfall entscheidungserheblich war. Denn wenn schon eine entscheidungserhebliche Rechtsauffassung eines obersten Gerichtshofs des Bundes nicht bei der Änderung von Verwaltungsakten zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden darf, so dürfen noch viel weniger sog. obiter dicta in derartigen Fällen zu Lasten der Steuerpflichtigen herangezogen werden.
Fundstellen
Haufe-Index 415346 |
BFH/NV 1988, 117 |
BFHE 1989, 375 |