Leitsatz (amtlich)
Hebt der BFH im Beschwerdeverfahren einen Beschluß des FG, in dem dieses eine eingelegte Sprungberufung gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 FGO als Einspruch behandelt hatte, mit der Begründung auf, daß gegen auf bürgerlichem Recht beruhende Haftungsbescheide (§ 120 AO) die Beschwerde (§ 230 AO) und nicht der Einspruch (§ 229 Nr. 5 AO) gegeben sei (Beschluß vom 4. Oktober 1971 VIII B 1/70, BFHE 103, 539, BStBl II 1972, 296), so ist er bei der Entscheidung über die Revision gegen das die Sprungklage abweisende Prozeßurteil des FG an seine im aufhebenden Beschluß vertretene Auffassung gemäß § 126 Abs. 5 FGO gebunden, wenn er sie nicht inzwischen bei der Entscheidung in einem anderen Verfahren geändert hat.
Normenkette
FGO § 45 Abs. 1, § 126 Abs. 5
Gründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Das FG hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen.
I. Der Senat kann die Frage, ob gegen Haftungsbescheide, die auf bürgerlichem Recht beruhen, die Beschwerde oder der Einspruch gegeben ist, nicht erneut entscheiden. Denn er ist bei seiner Entscheidung über die vom Kläger eingelegte Revision an seine im Beschluß VIII B 1/70 vertretene Ansicht gemäß § 126 Abs. 5 FGO gebunden.
1. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat in seinem Beschluß vom 6. Februar 1973 GmS-OGB 1/72 (BFHE 109, 206) - unter Hinweis auf die verschiedenen Begründungsmöglichkeiten einer Selbstbindung - als maßgeblichen Gesichtspunkt die Bindung der Vorinstanz im zweiten Rechtsgang bezeichnet, wie sie in § 565 Abs. 2 ZPO und den entsprechenden Vorschriften in den anderen Verfahrensordnungen (z. B. § 126 Abs. 5 FGO) angeordnet ist. Aus dieser Bindung ergibt sich - als logische Folge - auch die Selbstbindung der Revisionsinstanz. Sie soll ein endloses Hin- und Herschieben der Sache zwischen den Instanzen verhindern; insbesondere soll vermieden werden, daß wegen desselben Streitpunktes erneut Revision eingelegt wird, mit dem Ziel, das Revisionsgericht zur Aufgabe seines bisherigen Rechtsstandpunktes zu bewegen (vgl. dazu bereits Bötticher, Monatsschrift für Deutsches Recht 1961 S. 805 [806] - MDR 1961, 805 [806] -). Die Zulässigkeit einer Änderung der Entscheidung im ersten Rechtsgang anläßlich des zweiten Rechtsgangs würde dem Ziel dieser Rechtsprechung widersprechen. Eine Bindung entfällt nur dann, wenn inzwischen neue revisionsgerichtliche Grundsätze über die maßgebliche Rechtslage erarbeitet worden sind (vgl. z. B. Urteil des BVerwG vom 22. Februar 1973 III C 31.72, MDR 1973, 1045; Beschluß des BFH vom 4. Oktober 1973 GrS 8/70, BFHE 110, 322, BStBl II 1974, 12; v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, § 126 FGO Anm. 27 a. E.).
2. Diese Grundsätze gelten auch im Streitfall.
a) Ihre Bedeutung ist nicht auf das Revisionsverfahren beschränkt; sie sind in gleicher Weise auch im Beschwerdeverfahren zu beachten.
Bereits das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 1. Juli 1954 1 BvR 361/52 (BVerfGE 4, 1 [5]) die Selbstbindung als einen allgemeinen Grundsatz des deutschen Verfahrensrechts bezeichnet. Das BVerwG (Urteil vom 26. August 1959 VI C 313.57, BVerwGE 9, 117) hat - unter Hinweis auf das Rechtsstaatsprinzip - die allgemeine Bedeutung dieses Grundsatzes betont und näher erläutert. Solche allgemeinen Verfahrensgrundsätze gelten auch für das Beschwerdeverfahren, soweit das mit dem Charakter der Beschwerde vereinbar ist (vgl. z. B. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, Anm. zu § 132 FGO). Eine Bindung der Vorinstanz an die Beschwerdeentscheidung widerspricht dem Beschwerdeziel nicht; sie ist vielmehr allgemein anerkannt (vgl. z. B. Thomas-Putzo, Zivilprozeßordnung, 8. Aufl. 1975, Anm. zu § 575: entsprechende Anwendung des § 565 Abs. 2 ZPO), wenn die Beschwerde zu einer Zurückverweisung führt (vgl. dazu z. B. BFH-Beschluß vom 15. Februar 1967 IV B 18/66, BFHE 87, 502, BStBl II 1967, 181; zuletzt Beschluß vom 5. Februar 1975 II B 29/74, BFHE 115, 12 mit weiteren Nachweisen).
b) An diesem Ergebnis ändert sich nichts dadurch, daß - wie im Streitfall - die Beschwerdeentscheidung unter Aufhebung der Vorentscheidung nur zu einem einzelnen Streitpunkt ergangen ist.
Nach § 45 Abs. 1 Satz 2 FGO ist die Sprungklage dann, wenn die Prozeßvoraussetzung "Vorverfahren" fehlt, als Einspruch zu behandeln. Die die Sache an das FA verweisende Entscheidung des FG (durch Beschluß; vgl. BFH-Beschlüsse vom 28. August 1968 IV B 20/68, BFHE 93, 41, BStBl II 1968, 661; vom 10. Juli 1970 VI B 2/69, BFHE 99, 350, BStBl II 1970, 686) kann - anders als z. B. bei Verweisung wegen fehlender Zuständigkeit (§ 70 Abs. 2 FGO, § 276 Abs. 2 ZPO) oder im Falle der Behandlung als Berufung bei eingelegter Sprungrevision (§ 134 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) - angefochten werden (§ 128 Abs. 1 FGO). Wird der Beschwerde stattgegeben, so ist die damit eingetretene prozessuale Lage nicht anders zu beurteilen als nach Aufhebung eines, die Klage wegen einer fehlenden Prozeßvoraussetzung abweisenden Prozeß-(End-)Urteils, wie es ohne die - diese Folge vermeidende - Vorschrift des § 45 Abs. 1 Satz 2 FGO ergehen müßte (ein Zwischenurteil nach § 97 FGO kommt nur in Betracht, wenn die Zulässigkeit der Klage bejaht wird). Wie die Rechtsansicht des Revisionsgerichts, die zur Aufhebung eines Prozeßurteils der Vorinstanz führt, dieses - punktuell beschränkt auf die jeweilige, vom FG verneinte Prozeßvoraussetzung - bindet, bindet auch eine Entscheidung im Beschwerdeverfahren gegen den die Sprungklage als Einspruch behandelnden Beschluß des FG sowohl die Vorinstanz als auch das Beschwerdegericht. Unerheblich ist, daß in Fällen wie dem vorliegenden die Hauptsache vom Beschwerdegericht nicht in vollem Umfang überprüft werden kann. Insoweit besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit einem fehlerhaften Zwischenurteil über eine Prozeßvoraussetzung nach § 97 FGO. Eine, ein solches Urteil aufhebende Entscheidung - eine Zurückverweisung ist weder nötig noch möglich (vgl. z. B. Urteil des Bundesgerichtshofs - BGH - vom 3. März 1958 III ZR 157/56, BGHZ 27, 15 [26] für prozeßhindernde Einreden) - ist hinsichtlich ihrer Bindungswirkung nach denselben Grundsätzen zu beurteilen (vgl. z. B. v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, a. a. O., § 97 FGO Anm. 13).
II. Da demzufolge davon auszugehen ist, daß die dem Kläger im angegriffenen Haftungsbescheid erteilte Rechtsmittelbelehrung der Rechtslage entsprach, hat das FG die Sprungklage zutreffend als unzulässig behandelt. Auch der Hinweis des Klägers auf die Fußnote im Haftungsbescheid ändert hieran nichts. Es mag sein, daß diese Fußnote mit den im Bescheid genannten Haftungsgründen (§ 419 BGB i. V. m. §§ 120 Abs. 1 und 330 AO) nicht zu vereinbaren ist. Es steht indessen fest, daß die Haftung allein auf § 419 BGB (i. V. m. §§ 120 Abs. 1 und 330 AO) gestützt worden ist, woraus sich die zutreffende Rechtsmittelbelehrung des FA ergab.
Sollte der Kläger durch die Fußnote irregeleitet worden sein, wie er dartut, so wäre dies ohne Belang. Anders wäre die Sachlage lediglich dann, wenn die Divergenz zwischen der Fußnote und dem Inhalt des Bescheids die verspätete Einlegung des Rechtsmittels veranlaßt hätte. Dies ist jedoch nach der eigenen Darstellung des Klägers nicht der Fall. Denn er hat erklärt, er habe den Haftungsbescheid rechtskräftig werden lassen, weil er bzw. sein Rechtsberater ihn für rechtmäßig angesehen habe. Die Fußnote kann lediglich zur Stützung der vom Kläger vertretenen Ansicht herangezogen werden, gegen den Haftungsbescheid sei der Einspruch zu richten gewesen. Hierzu ist sie aber - wie bereits dargelegt - ungeeignet.
Fundstellen
Haufe-Index 71753 |
BStBl II 1976, 216 |
BFHE 1976, 415 |