Leitsatz (amtlich)
1. Das FA ist im Rahmen einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO berechtigt und verpflichtet, den gesamten Steuerfall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erneut zu prüfen. Die neue Steuerfestsetzung ist so zu treffen, als handele es sich um die erste Veranlagung. Bei der ursprünglichen Veranlagung unterlaufene Fehler in der tatsächlichen oder rechtlichen Beurteilung sind zu beseitigen, auch wenn sie mit den neu festgestellten Tatsachen nicht zusammenhängen (Grundsatz der Wiederaufrollung).
2. Eine Wiederaufrollung kann aus mehreren Gründen nach Treu und Glauben ausgeschlossen sein.
2. Zur Frage, ob Treu und Glauben eine Wiederaufrollung verbieten, wenn die durch die Gesamtüberprüfung sich ergebende Mehrsteuer in einem starken Mißverhältnis zu der durch die neuen Tatsachen allein ausgelösten Mehrsteuer steht.
2. Denaturiertes Magermilchpulver gehört zu den gemäß § 4 Nr. 20 UStG 1951 a. F. begünstigten Milcherzeugnissen.
Normenkette
AO 1919 § 212 Abs. 1-2; AO 1931 § 92 Abs. 3, § 222 Abs. 1 Nrn. 1-4, § 232 Abs. 1; UStG 1951 § 4 Nr. 20
Tatbestand
A
Bei der Klägerin und Revisionsbeklagten (Steuerpflichtigen) hatte eine Betriebsprüfung stattgefunden, bei der eine neue Tatsache bekanntgeworden war, die eine Mehrsteuer von … DM zur Folge hatte. Auf Grund der gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durchgeführten Berichtigungsveranlagung bezog der Beklagte und Revisionskläger (FA) weitere, ihm bereits bekannte, bisher aber steuerlich nicht erfaßte Umsätze mit einem Steuerbetrage von insgesamt … DM in die Umsatzbesteuerung ein. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus Steuern für Lieferungen von denaturiertem Magermilchpulver, für Zuschüsse zur Förderung der Milchwirtschaft und für den Ausbau eines Pachtbetriebes.
Nach erfolglos gebliebenem Einspruch stellte das FG die Steuerpflichtige mit dem Betrage von … DM mit der Begründung von der Umsatzsteuer frei, die ständige Rechtsprechung des RFH und des BFH, nach der bei einem Bekanntwerden neuer Tatsachen von einigem Gewicht im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO der ganze Steuerfall neu aufzurollen ist, sei "weder aus gesetzlichen noch aus sonstigen rechtlichen Gründen vertretbar"; die Berichtigungsveranlagung habe sich auf die neu bekanntgewordene Tatsache zu beschränken.
Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des FA, die nach dem Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandeln ist (vgl. §§ 184 Abs. 2, 115 ff. FGO). Das FA begründet die Revision mit der ständigen Rechtsprechung des RFH und BFH in dieser Streitfrage und mit dem Beschluß des BVerfG 2 BvR 91, 271/64 vom 4. November 1965 (BVerfGE 19, 290, BStBl I 1966, 412), wonach die Wiederaufrollung des geamten Steuerfalles nicht gegen das Grundgesetz verstoße. In ihren Gegenerklärungen macht die Steuerpflichtige geltend, es sei unbillig, wenn das FA eine Mehrsteuer von … DM zum Anlaß nehme, im Wege der Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles ein Mehrfaches dieses Betrages (nämlich zusätzlich … DM) nachzufordern. Außerdem habe sie auf die Rundverfügungen zweier Oberfinanzdirektionen (OFD) vertrauen können, in denen denaturiertes Magermilchpulver als begünstigtes Milcherzeugnis im Sinne des § 4 Nr. 20 UStG 1951 beurteilt worden sei. Diese Auffassung der OFD entspreche auch ― wie das FG Düsseldorf in seinem Urteil VII 261―265/66 U vom 26. Januar 1968 (EFG 1968, 440) bestätigt habe ― der Rechtslage.
Entscheidungsgründe
B
Aus den Gründen:
Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung. Allerdings erhöht sich die in der Vorenscheidung berechnete Umsatzsteuer nur um einen geringfügigen Betrag.
I.
Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, daß die bei der Betriebsprüfung neu bekanntgewordene Tatsache, die eine Mehrsteuer von … DM auslöste, gewichtig genug war, um eine Berichtigungsveranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durchzuführen (vgl. Urteil des Senats V 180/59 U vom 8. Februar 1962, BFH 74, 610, BStBl III 1962, 225). Dagegen vermag der Senat dem FG insoweit nicht zu folgen, als es eine Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles ablehnt.
II.
RFH und BFH haben zur Frage der Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles anläßlich von Berichtigungsveranlagungen gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO in jahrzehntelanger ständiger Rechtsprechung den folgenden Rechtsstandpunkt eingenommen:
1. Das FA ist grundsätzlich berechtigt und verpflichtet, eine Berichtigungsveranlagung durchzuführen, wenn die Voraussetzungen der genannten Vorschriften vorliegen. Hierbei ist der gesamte Steuerfall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erneut zu prüfen. Das FA ist an die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei der ursprünglichen Veranlagung nicht gebunden. Die neue Steuerfestsetzung ist so zu treffen, als handele es sich um die erste Veranlagung. Bei der ursprünglichen Veranlagung unterlaufene Fehler in der tatsächlichen oder rechtlichen Beurteilung sind zu beseitigen, auch wenn sie mit den neu festgestellten Tatsachen nicht zusammenhängen (vgl. z. B. die Urteile des BFH VI 96/60 vom 24. April 1961, HFR 1962, 133; III 143/61 U vom 21. Februar 1964, BFH 79, 562, BStBl III 1964, 437; I 111/65 vom 22. Mai 1968, BFH 92, 433, BStBl II 1968, 547, sowie den Beschluß des BVerfG 2 BvR 91, 271/64 vom 4. November 1965, a. a. O.). Eine Wiederaufrollung findet jedoch insoweit nicht statt, als der Grundsatz von Treu und Glauben es verbietet.
2. Der Senat hält an dieser Rechtsprechung fest. Sie verstößt entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht gegen das Gesetz. Die in § 222 Abs. 1 AO gebrauchten Worte "Änderung des Bescheids" und "Berichtigungsveranlagung" bzw. "Berichtigungsfeststellung" sagen über den Umfang der vorgeschriebenen Änderung bzw. Berichtigung nichts aus. Daß eine Änderung des Bescheides "nur" unter bestimmten Voraussetzungen stattfindet, besagt lediglich, daß die Unabänderlichkeit eines unanfechtbar gewordenen Steuerbescheides die Regel ist und die vier in den nachfolgenden Nummern genannten Fälle Ausnahmen bilden. Über den Umfang der Änderung beim Vorliegen der Ausnahmetatbestände gibt das Wort "nur" keine Auskunft. Auch aus der Tatsache der abschließenden Aufzählung der Ausnahmetatbestände (Enumerationsprinzip) lassen sich Schlüsse, ob eine Gesamtänderung oder eine Teiländerung gemeint ist, nicht ziehen. Die abschließende Aufzählung stellt klar, daß weitere Tatbestände Berichtigungsveranlagungen nicht zur Folge haben, läßt aber die Frage des Umfangs der Berichtigung beim Vorliegen eines der Ausnahmetatbestände unbeantwortet. Für eine Gesamtänderung des Bescheids spricht dagegen, daß die einzelnen Ausnahmetatbestände mit dem Worte "wenn" eingeleitet werden. Hätte der Gesetzgeber die Änderungsmöglichkeiten einschränken wollen, so hätte es nahegelegen, die Worte "insoweit als" zu gebrauchen. Eine solche klare Fassung hätte sich nur dann erübrigt, wenn andere Gesichtspunkte (z. B. die Entstehungsgeschichte der Vorschrift) auf den Willen des Gesetzgebers, nur eine Teiländerung zuzulassen, schließen ließen.
3. Aber gerade die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht gegen einen solchen Willen des Gesetzgebers. In § 212 Abs. 2 AO 1919, der dem § 222 Abs. 1 AO voranging, war das Wort "Neuveranlagung" verwendet worden. Dieser Begriff wurde allgemein im Sinne von "Gesamtaufrollung" verstanden (vgl. Becker, Die Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., Anm. 9c zu § 212 AO; Becker, Steuer und Wirtschaft 1925 Sp. 338; Urteile des RFH VIe A 178/24 vom 27. November 1924, RFH 15, 156; VI A 46/25 vom 1. April 1925, Steuer und Wirtschaft 1925 Nr. 435; I A 125/25 vom 20. November 1925, Steuer und Wirtschaft 1926 Nr. 10; I A 140/25 vom 12. Januar 1926, Steuer und Wirtschaft 1926 Nr. 48). Aus der Änderung des Ausdrucks in "Berichtigungs-veranlagung" ist gefolgert worden, der Gesetzgeber habe die Möglichkeit einer Berichtigung gegenüber dem früheren Rechtszustand einschränken wollen. Daß dies nicht zutrifft, geht aus der amtlichen Begründung für die Neufassung hervor (vgl. Reichstag, IV. Wahlperiode 1928, Drucksache zu Nr. 568 zu Art. I, § 38 S. 227 ff.). Danach bezweckte das neue Wort lediglich eine Klarstellung gegenüber dem Begriff "Neuveranlagung" im Vermögensteuergesetz. Dort bedeutet "Neuveranlagung", daß eine frühere richtige Veranlagung mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc) durch eine andere Veranlagung abgelöst wird, während es bei der hier streitigen Vorschrift darum geht, eine als falsch erkannte Veranlagung mit rückwirkender Kraft (ex tunc) durch eine richtige Veranlagung zu ersetzen. Man wollte durch die Neufassung vermeiden, daß mit ein und demselben Ausdruck zwei ganz verschiedene Dinge bezeichnet werden, keineswegs aber eine sachliche Änderung des bisherigen Rechtszustandes durch Einengung der Berichtigungsmöglichkeiten herbeiführen (BFH-Urteil III 143/61 vom 21. Februar 1964, a. a. O.).
4. Auch aus Vorschriften außerhalb der Nrn. 1 und 2 des § 222 Abs. 1 AO läßt sich ― entgegen der Ansicht des FG ― ein Verbot der Wiederaufrollung nicht ableiten. § 92 Abs. 3 AO, der eine Berichtigung von Schreibfehlern, Rechenfehlern und ähnlichen offenbaren Unrichtigkeiten auch nach der Bekanntgabe einer Verfügung zuläßt, und § 222 Abs. 1 Nrn. 3 und 4 AO, der unter bestimmten Voraussetzungen Berichtigungsveranlagungen bei Aufdeckung von Fehlern durch die Aufsichtsbehörde vorsieht, betreffen Sondertatbestände. Es ist nicht zwingend, daß sich die dort getroffenen Regelungen auf die anders gelagerten Tatbestände des Bekanntwerdens neuer Tatbestände oder Beweismittel auswirken müssen. Alle diese Vorschriften enthalten Ausnahmen von der Regel, daß unanfechtbar gewordene Bescheide auf dem Gebiet der Veranlagungssteuern Bestand haben. Es gibt aber keinen Rechtssatz, daß eine Ausnahmevorschrift eng auszulegen sei und daß unterschiedliche Tatbestandsgruppen hinsichtlich der Rechtsfolgen nur deshalb gleich zu behandeln seien, weil sie in einem Paragraphen zusammengefaßt sind (vgl. auch Abschnitt C II 3c Abs. 2 des o. a. BVerfG-Beschlusses vom 4. November 1965).
5. Die Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles im Rahmen von Berichtigungen nach § 222 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AO entspricht dem Sinn der Vorschrift und steht mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht in Widerspruch. Das BVerfG hat durch Beschluß 2 BvR 91, 271/64 vom 4. November 1965 (a. a. O.) entschieden, daß die von der Steuerpflichtigen angegriffene Rechtsprechung des BFH weder gegen ein Grundrecht noch sonst gegen das GG verstößt, sich an die hergebrachten Methoden der Gesetzesauslegung hält und das Gewaltenteilungsprinzip nicht verletzt. Der BFH hat wiederholt dargelegt (vgl. z. B. das Urteil III 143/61 U vom 21. Februar 1964, a. a. O.), daß bei der Frage nach dem Umfang der Änderung von Steuerbescheiden im Rahmen des § 222 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 AO zwei Prinzipien in Widerstreit zueinander stehen: Die Grundsätze der Rechtssicherheit und materiellen Rechtskraft einerseits, die in erster Linie dem Schutze des Einzelnen dienen, und die Grundsätze der Richtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung andererseits, die mehr auf die Interessen der Allgemeinheit ausgerichtet sind. Beide Prinzipien haben Verfassungsrang; sie sind gleichwertig. Es kann dem FG nicht gefolgt werden, wenn es meint, der Rechtssicherheit und der materiellen Rechtskraft müsse in jedem Falle der Vorrang eingeräumt werden. § 222 Abs. 1 AO schränkt diese Grundsätze in den dort genannten Fällen gerade ein, und es fragt sich nur, welches Ausmaß diese Einschränkung hat. Bleiben in der Steuererklärung eines Steuerpflichtigen, in den Anlagen dazu oder in sonstigen Schreiben des Steuerpflichtigen an das FA Tatsachen außer Betracht, die eine höhere Steuer zur Folge hätten, so entsteht, ohne daß es auf die Frage des Verschuldens ankäme, ein Unsicherheitsfaktor, der die Grundlagen der Besteuerung erschüttert und den Bestand der Veranlagung gefährdet (vgl. BFH-Urteil VI 96/60 vom 24. April 1961, a. a. O.). Es mag sein, daß Anlaß (neue Tatsachen) und Rechtsfolge (Wiederaufrollung) mitunter in keinem angemessenen Verhältnis zueinander stehen. Bedeutung und Gewichtigkeit der neuen Tatsachen lassen sich aber ― wenn man von den zahlenmäßigen Auswirkungen, die noch zu erörtern sein werden, absieht ― bei der Differenziertheit der Sachverhalte kaum abwägen. Es kommt hinzu, daß der Steuerpflichtige in der Regel die steuerlich relevanten Tatsachen kennt und es in der Hand hat, sie mehr oder weniger dem FA offenzulegen. Die objektive Feststellung, daß eine Veranlagung infolge dem FA unbekannt gebliebener Tatsachen falsch war, ist nach Auffassung des Senats ein hinreichender Grund, nicht nur hinsichtlich der bekanntgewordenen neuen Tatsachen, sondern hinsichtlich des gesamten Steuerfalles der Gerechtigkeit der Besteuerung eine größere Bedeutung beizumessen als der Rechtssicherheit und das Verfahren in jeder Beziehung in jene Lage zurücktreten zu lassen, in der es sich vor Erlaß des ursprünglichen, als falsch erkannten Bescheides befunden hat. Es erscheint nicht vertretbar, bei der Berichtigungsveranlagung frühere Fehler in der Beurteilung der Sach- oder Rechtslage zu wiederholen (vgl. BFH-Urteil VI 96/60 vom 24. April 1961, a. a. O.) und neue, bessere Erkenntnisse außer acht zu lassen. Die mitunter geäußerte Ansicht, die Wiederaufrollung führe nicht zur Steuergerechtigkeit, sondern im Gegenteil zu einer Ungleichmäßigkeit der Belastung, weil es vom Zufall abhänge, ob eine Betriebsprüfung stattfindet und ob bei ihr neue Tatsachen aufgedeckt werden, überzeugt nicht. Wäre sie zutreffend, dürfte auch eine auf die neuen Tatsachen beschränkte Berichtigung nicht stattfinden, selbst dann nicht, wenn der Steuerpflichtige die Tatsachen vorsätzlich verschwiegen hat.
6. Diese Auslegung hat ― entgegen der Ansicht des FG ― nichts mit Zweckmäßigkeitserwägungen zu tun. Sie ist vielmehr eine Folge des derzeit bestehenden Besteuerungssystems, das bei den Veranlagungssteuern (zu denen die Umsatzsteuer gehört) ein Massenverfahren vorsieht. Hierbei stehen die Veranlagungsbeamten unter Zeitdruck und Arbeitsüberlastung. Selbst bei Anwendung größter Sorgfalt ist es dem FA oft nicht möglich, im Rahmen des Veranlagungsverfahrens komplizierte Sachverhalte in der für den Einzelfall zur Verfügung stehenden kurzen Bearbeitungszeit anhand der wenigen in den Steuererklärungen und deren Anlagen enthaltenen Angaben so zu durchleuchten, daß eine richtige Besteuerung gewährleistet ist. Weitere Schwierigkeiten entstehen dadurch, daß sich der Umfang der neuen Tatsachen gegenüber den bisher schon bekannten oft gar nicht genau abgrenzen läßt und daß gelegentlich auch Zusammenhänge mit Rechtsfragen bestehen. In der Praxis läßt sich daher ein klares Ergebnis oft nur durch eine nochmalige Prüfung des gesamten Falles und eine nochmalige Ermittlung aller für die Steuerpflicht und die Bemessung der Steuer wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse erreichen. Der Steuerpflichtige ist bei der Abwehr etwaiger Steuer nach forderungen nicht beschränkt. Er kann sie gemäß § 232 Abs. 1 AO mit allen Mitteln bekämpfen, die gegen die Gesamt forderung vorgebracht werden können (vgl. RFH-Urteil VIe A 178/24 vom 27. November 1924, RFH 15, 156; Becker, Die Reichsabgabenordnung, 7. Aufl., Anm. 1 zu § 222 AO 1919).
7. Die dargestellten technischen Schwierigkeiten, die man bedauern mag, die aber, solange das derzeitige Besteuerungssystem nicht geändert wird, hingenommen werden müssen, zwingt die Finanzverwaltung, das Schwergewicht der Steuerermittlung auf die Betriebsprüfung zu legen. Es ist verschiedentlich vorgeschlagen worden, diesen Gegebenheiten durch eine entsprechende Änderung der AO Rechnung zu tragen. So hat die Steuerrechtliche Arbeitsgemeinschaft des 46. Deutschen Juristentages die folgende Regelung empfohlen: "Die Veranlagung erfolgt zunächst entsprechend der Erklärung des Steuerpflichtigen unter Prüfungsvorbehalt. Sämtliche Tatsachen- und Rechtsfehler können am Ende einer dreijährigen Verjährungsfrist auf Veranlassung jeder der beiden Seiten einmal berichtigt werden." Das legitime Interesse des Staates an einer gerechten und gleichmäßigen Besteuerung auf Grund einer eingehenden Prüfung des Einzelfalles wird hierdurch anerkannt. Es ist jedoch zweifelhaft, ob die schwierigen Probleme auf diese Weise zur Zufriedenheit aller Teile gelöst werden können. Der Unruhefaktor im Bereich der innerbetrieblichen Planung und Kalkulation bleibt während der dreijährigen Frist bestehen. Die "Rechtsunsicherheit" wird dadurch, daß sie alle Steuerpflichtigen trifft und nicht bloß diejenigen, in deren Steuererklärungen zu ihren Ungunsten sich auswirkende Tatsachen unberücksichtigt geblieben sind, und daß Berichtigungen allein wegen einer veränderten Rechtsauslegung zulässig wären, sogar noch vergrößert. Die Abkürzung der Verjährungsfrist und die Zulassung einer nur einmaligen Berichtigung dürften dagegen zu begrüßen sein. Die Einführung eines ersten, vorläufigen, mit Rechtsmitteln anfechtbaren Steuerbescheides mit faktisch weitgehender Aufhebung der Bestandskraft, dem nach drei Jahren ein zweiter, endgültiger Steuerbescheid folgt, und die (auf dem 46. Deutschen Juristentag vorgeschlagene) dem Vertrauensinteresse des Steuerbürgers dienende Vorschaltung eines verbindlichen Auskunftsverfahrens vor das Veranlagungsverfahren würden zu einer Zeit, in der der Ruf nach Rechtsvereinfachungen immer lauter wird, die Besteuerung außerordentlich komplizieren. Vom Standpunkt derer betrachtet, die der Rechtssicherheit den unbedingten Vorrang vor der Steuergerechtigkeit einräumen wollen, steht ein in vollem Umfange praktikabler Vorschlag noch aus. Auch die auf dem 46. Deutschen Juristentag gemachten steuerpolitischen Vorschläge zur Änderung des § 222 AO sehen im Prinzip eine Gesamtüberprüfung der ursprünglichen Veranlagung zugunsten und zuungunsten der Steuerpflichtigen vor.
8. Bei der Erörterung des Problemkreises der Gesamtaufrollung des Steuerfalles im Rahmen einer Berichtigungsveranlagung darf nicht übersehen werden, daß die Neufestsetzung der Steuer (in den durch § 232 Abs. 1 AO gesteckten Grenzen) auch zugunsten des Steuerpflichtigen zu erfolgen hat. Es haben dem BFH schon wiederholt Fälle vorgelegen, in denen sich die Wiederaufrollung ― zum Teil sehr erheblich ― zugunsten der Steuerpflichtigen ausgewirkt hat (vgl. z. B. das Urteil des Senats V 275/60 U vom 23. Juli 1964, BFH 80, 185, BStBl III 1964, 540). Es trifft mithin nicht zu, daß die Wiederaufrollung einseitig zu Lasten der Steuerpflichtigen geht.
9. Es kommt hinzu, daß die Rechtsprechung zum Schutze der Belange des Steuerpflichtigen im Hinblick auf Rechtssicherheit und Vertrauensschutz die Möglichkeiten einer Wiederaufrollung weitgehend eingeschränkt hat. So dürfen neue Tatsachen nur dann zu einer Berichtigung des Steuerbescheides und damit zu einer erneuten Prüfung des gesamten Steuerfalles führen, wenn sie "von einigem Gewicht" sind. Der erkennende Senat hat für das Gebiet der Umsatzsteuer im Urteil V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (a. a. O.) Richtlinien erarbeitet, die eine klare Abgrenzung und gleichmäßige Handhabung der in Betracht kommenden Fälle sicherstellen. Vor allem aber kann eine Wiederaufrollung nach Treu und Glauben ausgeschlossen sein. Dies gilt insbesondere dann, wenn das FA hinsichtlich eines rechtlich zweifelhaften Sachverhalts nach Verhandlungen mit dem Steuerpflichtigen eine Zusage für eine bestimmte Behandlung gegeben hat und die Zusage für den Steuerpflichtigen die Grundlage seiner wirtschaftlichen Dispositionen war (vgl. u. a. BFH-Urteile I 176/57 U vom 18. November 1958, BFH 68, 137, BStBl III 1959, 52; V 264/58 U vom 21. Juli 1960, BFH 71, 619, BStBl III 1960, 480; V 83/59 vom 18. Oktober 1962, HFR 1963, 354; VI 299/63 U vom 10. Juli 1964, BFH 80, 314, BStBl III 1964, 587; VI 65/64 vom 12. März 1965, HFR 1965, 514). Dies gilt ferner, wenn das FA durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, daß der Steuerpflichtige eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr zu erwarten habe (vgl. u. a. BFH-Urteile IV 40/51 U vom 3. Oktober 1951, BFH 55, 494, BStBl III 1951, 202; III 143/61 U vom 21. Februar 1964, a. a. O.; VI 299/63 U vom 10. Juli 1964, a. a. O.; V 181/63 vom 15. Dezember 1966, BFH 87, 469, BStBl III 1967, 212) oder wenn das FA auf das Rechtsmittel des Steuerpflichtigen nach Prüfung des Streitfalles eine für den Steuerpflichtigen günstige Einspruchsentscheidung oder einen Änderungsbescheid gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO erlassen hat (vgl. BFH-Urteile I 54/64 S vom 16. März 1965, BFH 82, 387, BStBl III 1965, 388; V 191/65 vom 14. November 1968, BFH 94, 168). Schließlich ist eine Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles dann unzulässig, wenn der Tatbestand der "Verwirkung" eingetreten ist, wobei besondere Dispositionen des Steuerpflichtigen nicht gefordert werden (vgl. BFH-Urteil V 91/63 U vom 16. September 1965, BFH 83, 441, BStBl III 1965, 657), es vielmehr genügt, wenn sich ein Steuerpflichtiger infolge eines positiven Verhaltens des FA darauf einrichten durfte, daß er mit einer Steuernachforderung nicht mehr zu rechnen brauchte und seitdem ein längerer Zeitraum verstrichen ist (vgl. BFH-Urteil II 137/60 U vom 7. Februar 1962, BFH 75, 628, BStBl III 1962, 496). Eine Zusammenstellung der Einschränkungen der Wiederaufrollung findet sich im Urteil des Senats V 191/65 vom 14. November 1968 (a. a. O.).
10. Zusammenfassend ist festzustellen, daß Wortlaut (vgl. oben 2.), Entstehungsgeschichte (vgl. oben 3.) sowie der Sinn (vgl. oben 5.) der strittigen Vorschrift beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 AO für eine Totalaufrollung des Steuerfalles sprechen. Die Gesamtüberprüfung steht mit dem derzeitigen Veranlagungssystem in Einklang, dient der Überwindung technischer Schwierigkeiten (vgl. oben 6. und 7.) und berücksichtigt die Interessenlage des Staates ebenso wie des einzelnen Steuerpflichtigen (vgl. oben 8.). Die Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes werden durch die von der Rechtsprechung aufgestellten Grundsätze über die Einschränkung der Wiederaufrollung weitgehend gewahrt (vgl. oben 9.) Durch das beherrschende Rechtsprinzip von Treu und Glauben werden unbillige Härten der Berichtigungsveranlagung vermieden. Es ist schließlich darauf hinzuweisen, daß die einhellige, seit fast 45 Jahren (erstmals im o. g. RFH-Urteil vom 27. November 1924) praktizierte Auslegung durch RFH und BFH den Gesetzgeber trotz mehrerer Anläufe bisher nicht veranlaßt hat, die umstrittenen Vorschriften zu ändern. Es ist die Aufgabe der Steuergerichte, die Gesetze auszulegen und notfalls Gesetzeslücken auszufüllen. Es ist aber nicht ihre Aufgabe, in einer so grundlegenden Streitfrage wie der vorliegenden eine eigene Initiative zu entfalten und eine dem Wortlaut, der Entstehungsgeschichte und dem Sinn des Gesetzes zuwiderlaufende Regelung zu treffen. Die Änderung des Gesetzes ist Sache des Gesetzgebers. Wenn ― wie dargelegt (vgl. oben unter 7. am Ende) ― die Gesamtüberprüfung auch in Zukunft, wenn auch in anderer Form, beibehalten werden soll, besteht kein Grund, sie auf dem Wege über die Rechtsprechung für eine Zwischenzeit abzuschaffen. Der erkennende Senat sieht daher keinen Anlaß, seinen bisherigen Standpunkt aufzugeben oder gemäß § 11 Abs. 3 FGO die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen.
11. Der Einwand der Steuerpflichtigen, die Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalles müsse deshalb unterbleiben, weil die durch die neuen Tatsachen ausgelöste Mehrsteuer in einem Mißverhältnis zu der durch die Wiederaufrollung erwachsenen zusätzlichen Mehrsteuer stehe, greift nicht durch. Der Senat hat sich mit dieser Frage im Urteil V 275/60 U vom 23. Juli 1964 (BFH 80, 185, BStBl III 1964, 540) auseinandergesetzt. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, daß auch starkes zahlenmäßiges Abweichen der Mehrsteuern, die sich durch die Wiederaufrollung ergeben, von den Mehrsteuern, die durch das Bekanntwerden der neuen Tatsachen allein ausgelöst werden, keinen Anlaß bietet, im Hinblick auf Treu und Glauben von einer Wiederaufrollung zuungunsten des Steuerpflichtigen abzusehen bzw. eine Wiederaufrollung zugunsten des Steuerpflichtigen zu versagen. Es müßten vielmehr noch besondere, nachweisbare Umstände hinzutreten, die die Wiederaufrollung als unbillig erscheinen ließen (z. B. Irreführung des Steuerpflichtigen durch das FA, Zusagen des FA). Im Vergleichsfalle, der eine Wiederaufrollung zugunsten des Steuerpflichtigen (§ 222 Abs. 1 Nr. 2 AO) betraf, machte der an den Steuerpflichtigen infolge der Gesamtaufrollung zusätzlich zurückerstattete Betrag das 205fache der auf die neuen Tatsachen entfallenden Mindersteuer aus. Man kann darüber streiten, ob ein so auffallendes Mißverhältnis allein nicht schon ausreichen sollte, von einer Wiederaufrollung Abstand zu nehmen. Der Senat ist aber der Auffassung, daß das Zahlenverhältnis im Streitfalle die Abstandnahme keinesfalls rechtfertigt. (Nach Ausscheiden der Magermilchpulverumsätze gemäß Abschn. III betragen die zusätzlichen Mehrsteuern nur etwa 1/7 der durch die neuen Tatsachen entstehenden Mehrsteuern.) Denn wenn die Wiederaufrollung (zur Herbeiführung der Richtigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung) überhaupt einen Sinn haben soll, darf ein Verzicht auf die Gesamtänderung des Steuerbescheides ― vom Hinzutreten anderer Gründe (vgl. oben 9.) abgesehen ―, wenn überhaupt, nur bei einem außergewöhnlichen Mißverhältnis in Betracht kommen.
III.
1. In sachlicher Hinsicht kann der Auffassung der Verwaltung, daß denaturiertes Magermilchpulver im Veranlagungszeitraum 1956 nicht zu den gemäß § 4 Nr. 20 UStG 1951 a. F. begünstigten Milcherzeugnissen gehörte (vgl. die Erlasse des BdF IV A/2 ― S 4311 ― 11/58 vom 21. August 1958, Umsatzsteuer-Rundschau 1958 S. 171 ― UStR 1958, 171 ―; IV A/2 ― S 4158 ― 2/59 vom 2. Mai 1959, UStR 1959, 103; IV A/2 ― S 4030 ― 176/61 vom 13. September 1961, BStBl I 1961, 629, und IV A/3 ― S 4235 A ― 103/61 vom 24. November 1961, UStR 1961, 192), nicht zugestimmt werden. Denaturiertes Magermilchpulver wird durch Mischen (Vergällen) vom Magermilchpulver mit Molkenpulver hergestellt. In § 4 Nr. 20 UStG 1951 a. F. werden Magermilchpulver unter Buchstabe f als "Milchdauerware", Molkenpulver unter Buchstabe c als "Molkenerzeugnis" aufgeführt. Dies schließt aber nicht aus, Molkenpulver zugleich als "Milchdauerware" zu beurteilen. Denn es wird aus Molke und diese wiederum aus Milch gewonnen und ist wegen seiner Haltbarkeit und Lagerbeständigkeit eine Dauerware. Dem steht nicht entgegen, daß Molkenpulver in Buchstabe f nicht genannt ist. Denn die dortige Aufzählung in der Klammer ist ― ebenso wie die in Buchstabe c ― nur beispielhaft ― "z. B." ― (vgl. auch das Urteil des Senats V 145/63 vom 16. September 1965, UStR 1965, 263). Der Unternehmer muß, um in den Genuß der Steuerfreiheit zu gelangen, die im Großhandel gelieferten Milcherzeugnisse aus erworbener Milch, aus erworbenem Fettgehalt von Milch oder aus erworbenen anderen Milcherzeugnissen hergestellt haben (§ 4 Nr. 20 erster Satz UStG 1951). Unter den Begriff "Herstellen" fällt auch das Mischen. Die Mischung zweier Milchdauerprodukte (Magermilchpulver und Molkenpulver) ergibt ebenfalls ein Milchdauerprodukt, außer wenn durch das Mischen Veränderungen eintreten, die dem Produkt die Eigenschaften des Milcherzeugnisses oder der Dauerhaftigkeit nehmen. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Da somit denaturiertes Magermilchpulver als Milchdauerware unter Buchstabe f fällt, kann daraus, daß nach dem durch das 11. UStÄndG vom 16. August 1961 (BGBl I 1961 S. 1330, BStBl I 1961, 609) neu geschaffenen Buchstaben i "Mischprodukte" aus den unter den Buchstaben a bis h bezeichneten Erzeugnissen ….. in den Katalog der Milcherzeugnisse im Sinne des § 4 Nr. 20 UStDB aufgenommen worden sind, gegen die vom Senat vertretene Auffassung nichts hergeleitet werden. Dasselbe gilt von der ebenfalls durch das 11. UStÄndG eingefügten Parenthese hinter dem Wort "Magermilchpulver" ("― auch mit Zusätzen anderer Stoffe bis zu 25 v. H. des Fertigerzeugnisses ―"), durch die in beschränktem Umfange ein Mischen von Magermilchpulver mit nicht in § 4 Nr. 20 UStG 1951 erwähnten Stoffen zugelassen worden ist.
2. Die staatlichen Zuschüsse zur Förderung der Milchwirtschaft (Stützungsbeträge) sind, wie sich aus den Umsatzsteuerakten ergibt, für Futter-Magermilchpulver (denaturiertes Magermilchpulver) gezahlt worden. Da (wie oben unter III. 1. dargelegt) die Entgelte für die Lieferungen von denaturiertem Magermilchpulver gemäß § 4 Nr. 20 Buchstabe f UStG 1951 nicht zur Umsatzsteuer heranzuziehen sind, muß Gleiches für die staatlichen Zuschüsse gelten, die die Eigenschaft von zusätzlichem Entgelt haben.
3. Wegen der Besteuerung des Ausbaus des Pachtbetriebes besteht zwischen den Parteien in sachlicher Hinsicht kein Streit. Dieser Umsatz ist bei der ersten Veranlagung für 1956 zu Unrecht nicht der Umsatzsteuer unterworfen worden. Das FA hat ihn im Rahmen der Gesamtüberprüfung zutreffend in die Berichtigungsveranlagung einbezogen.
Auf die Revision des FA war daher die Vorentscheidung aufzuheben. Die Steuerpflichtige war aus materiellrechtlichen Gründen mit den Lieferungen von denaturiertem Magermilchpulver (Steuer auf Entgelte = … DM + Steuer auf Zuschüsse = … DM) von der Umsatzsteuer zu befreien. Im übrigen war ihre Berufung (Klage) abzuweisen.
Fundstellen
BStBl II 1969, 409 |
BFHE 1969, 236 |